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Theaterkritik

Kein Kitsch, große Kleinkunst

Mit der Show »Bilder einer Ausstellung« zieht Weltklasse-Varieté in den Krystallpalast

  Kein Kitsch, große Kleinkunst | Mit der Show »Bilder einer Ausstellung« zieht Weltklasse-Varieté in den Krystallpalast

Der Krystallpalast bringt Modest Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung« überraschend atemberaubend auf die Varieté-Bühne.

Der Kitsch-Verdacht stellte sich sofort ein: In der Varieté-Fassung sollen Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung« lebendig werden. Man meint schon, die fertige Katastrophe vor Augen zu haben. Modest Mussorgski Musik ist groß wie bekannt, keine Frage. Nicht wenigen Menschen dürfte der Klavierzyklus als Pflichtprogramm im Musikunterricht begegnet sein. Wer Glück hatte, durfte auch die elektronische Alternativ-Version von Isao Tomita dazu als Vergleich herangezogen hören. Emerson, Lake and Palmer legten eine Bearbeitung vor und auch die Stern Combo Meißen wagte sich ans Werk. Aber wie zur Hölle soll man sich Mussorgski als Kleinkunstprogramm vorstellen? Ein Kraftakrobat stemmt Wagenräder, während musikalisch »Der Ochsenkarren« vorbeifährt? Mit Stelzen-Stolzieren wird »Die Hütte auf Hühnerfüßen« gegeben und für den »Gnom« jagt man einen kostümierten Kleinwüchsigen über die Bühne? Ganz gewiss nicht. Die Gruppe um Karl-Heinz Helmschrot ist einen eigenen Weg gegangen und hat – man muss es eingestehen – Fantastisches fabriziert. Ließ sich Mussorgski von den Bildern seines Freundes Viktor Hartmann inspirieren, so schöpfte die Varieté-Truppe den kreativen Anstoß allein aus der Musik (Umsetzung: Rolf Hammermüller), die sie in belebte Bilder übersetzte. Dramaturgisch durchdacht, vermengen sich die Einzelnummern mit viel Tempo zum wohltemperierten Amalgam aus Energie und Anmut, Dynamik und Esprit, Witz und Sinnlichkeit.

Den Conférencier gibt der zu Recht viel und hoch gelobte Helmschrot, was qualitativ schon für sich spricht. Sicher im Auftritt nimmt er das Publikum sofort für sich ein, als er diesen ins Kleinkunsthaus überführte Museumsrundgang eröffnet. Später stellt er die Taxonomie des Lachens dar und zieht mit Hut, Schirm und Ball einen eigenwilligen Jonglage-Akt durch. Nicht weniger begabt in Keulenwirbel und Komik (be-)geistert Robert Wicke über die Bühne und besorgt als Human-Beat-Box-Clown wortlos witzige Momente. Beim Gang durch die Ausstellung beginnen »Die Tuilerien« zu singen (Bianca Preche), sodann Seilartistin Romy Seibt einen fesselnden Tanz mit dem Tau hinlegt. »Das Ballett der unausgeschlüpften Küken« tanzt kokett Lea Hinz als Solo-Bänder-Akt, zuvor hatte sie sich am Luftring in die schaurigen Höhen des »Alte Schloß«-Turms geschaukelt. Mit dem Schwung seiner Hüften bringt Bauchtänzer Tomasz den Saal zum frenetischen Lärmen und nach einem gigantischen Kraftakt in den »Katakomben« – Danilo Marder hält spielend die Balance auf zwei Stangen – gipfelt die Show im »Das große Tor von Kiew«: Mit scheinbarer Leichtigkeit steigt das Duo Mât dann am chinesischen Mast empor und verwandelt sich in einer atemberaubenden Präzision zum menschlichen Kettenkarussell. Emotional geplättet sitzt man nach dem folgenden Finale im Krystallpalast, wurde man doch Zeuge einer seltenen Mischung: In dieser Show verschmilzt Kunst mit Unterhaltung, was so gar nichts mit jener »Unterhaltungskunst« zu tun hat, die einen ankitscht und nicht mehr als ein müdes Lächeln ins Gesicht rückt.


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