Der Märchenonkel steht ihm gut. Nach seiner eher mäßigen Allerweltsschau in der vergangenen Spielzeit, läuft Rainald Grebe mit »Grimms Märchen« wieder zur Höchstform auf. Mit leisem Verzicht auf allzu viel Gesang, dosiertem Klamauk und vielschichtiger Erzählsprache legt der Barde ein kunterbuntes Märchenmosaik vor. Von dessen Überlänge bekommt man fast nichts mit.
In einer Art Archivgehäuse, ja: hausen sechs Zwerge, die über Grimms Werk wachen. Bücherregale und Aktenschränke türmen sich auf, viele Türen bieten sich zur geschlossenen Ablage an. Im Hintergrund hängt ein kleiner Bildschirm, der nach und nach verschiedene Zahlen anzeigt. Ploppt eine Nummer auf, beginnen die Verwaltungsgnome, das entsprechende Märchen aufzuführen. Dabei lesen sie mal den Text vor, sprechen mal szenisch in verteilten Rollen oder veranstalten wilde Handgemenge. Es ist alles, außer langweilig, wenn etwa Barbara Trommer absolut gelangweilt vom Froschkönig erzählt, Andreas Keller – mal mit Haaren – nicht so will, wie seine Fischerfrau oder Edgar Eckert die Lieblingstochter einer Kindsmörderin (»Von dem Machandelboom«) gibt. Denn Grebe hat neben bekannten Geschichten auch solche Perlen wie »Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben« ausgegraben, die ganz und gar nicht erbaulich sind: In diesem Fall blutet eine ganze Familie buchstäblich aus. Und weil es sich einfach anbietet, bekommt auch pausbäckiges Kindertheater einen mit und Ingolf Müller-Beck frotzelt über die Unglaubwürdigkeit der ganzen Veranstaltung.
Als »im gegensatz zur wahren geschichte stehend« bezeichneten Jakob und Wilhelm Grimm Märchen in ihrem »Deutsches Wörterbuch«: »mährchen, welche allen völkern in ihrer kindheit die wahre geschichte ersetzen und sie zu kriegerischen thaten begeistern.« Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn Märchen lösen auch andere Emotionen aus, sieht man die oft in existentielle Situationen geworfenen Figuren, die elementaren Gefahren sowie Erfahrungen ausgesetzt sind. Liebe und Leid, Horror und Hoffnung: Märchen gehen uns noch immer an. Auch das wird im Centraltheater zwischen schwarzen Geschichten und galligem Humor ersichtlich.
Wie nebenbei zeigt Rainald Grebe, wie tief Grimms Volks- und Hausmärchen in der Gegenwartskultur verankert sind. Ihre Figuren des Brüderduos sind omnipräsent: Rotkäppchen heißt nicht nur ein Sekt, nach einer Frau mit wallendem Haar ist eine ganze Bio-Kette benannt. Und die Gebrüder Grimm selbst haben einst den 1000-DM-Schein geziert. Ihr Schaffen ist auf eine virulente Weise wirksam und hat die spätmoderne Lebenswelt tief durchdrungen. Sie sind etwa in der Alltagssprache präsent, ihre märchenhaften Motive tauchen in Werbung und Unterhaltung immer wieder von neuem auf. Wir schlagen zwei oder mehr Fliegen mit einer Klappe (»Das tapfere Schneiderlein»), manche Frau muss – sofern sie sich heterosexuell orientiert – mitunter viele Frösche küssen, ehe sie ihren Prinzen findet (»Froschkönig«), manche leben in Saus und Braus (»Lumpengesindel«) und Schlitzohren gelingt es, aus Stroh Gold zu spinnen (»Rumpelstielchen«).
Neue Märchen braucht das Land? Nö, ruft diese Inszenierung. Man muss sie nur ordentlich angehen. So lotet sie die Texte der Grimms in verschiedenen Tiefen aus, macht sich lustig, nimmt sie aber auch ernst. Und selbst Spuren Lokalkolorit streut Grebe ein: So besingt er jenen Juni-Tag 2006, als die Stadt in Eisgewittern unter Hagelbeschuss stand. »Oh weh, oh weh / dann kam der Hagel nach LE«: So geht Mythenbildung. Und wenn ein Requisiteur fragt, ob man emotionale Kälte nicht auch mal anders als mit Schneeladungen ausdrücken kann, hat Grebe alle Lacher auf seiner Seite – und wirft die Frage auf, ob nun Märchen- oder Theaterwelt die heilere ist.