Aus dem aktuellen kreuzer: Warum die Politik in Leipzig immer noch unter 40 Jahren SED-Diktatur leidet und warum es endlich eine echte Opposition geben muss.
Vielleicht kann man die ganze Sache so zusammenfassen: Hinrich Lehmann-Grube ist an allem schuld. Im Frühjahr 1990 kam er aus Hannover nach Leipzig und nahm die DDR-Staatsbürgerschaft an, um der erste Nachwendebürgermeister der Stadt zu werden. Anschließend etablierte Lehmann- Grube ein System, das als »Leipziger Modell« bekannt wurde. Es basierte auf der Idee einer Zusammenarbeit aller im Stadtrat vertretenen Parteien. Keiner durfte dem anderen auf die Füße treten, Probleme sollten sachorientiert über Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam gelöst und parteipolitisches Kalkül ausgeschaltet werden.
Das klingt nach Einheitspartei, nach dem, was in der DDR Nationale Front hieß, nur eben mit dem Unterschied, dass die Opposition sich diesmal vermutlich freiwillig in ihr Schicksal fügte. Es war eine kuschelweiche, aber feste Umarmung all jener Kräfte, die gerade nicht an der Macht waren – und die dafür sorgte, dass sie diese auch nicht erlangten.
Totalausfall der Opposition
Jene Politik führte zum gefühlten Totalausfall der Opposition, zumindest im Wahlkampf, und manifestierte die unangefochtene Herrschaft der SPD mit einer geradezu dynastischen Weitergabe der Macht von Lehmann-Grube über Wolfgang Tiefensee hin zum amtierenden Oberbürgermeister Burkhard Jung.
Nur ein gewisser Uwe Albrecht (CDU) kam dem Bruch dieser Linie gefährlich nahe. Er scheiterte zweimal: bei der Wahl im Jahr 1994 an Lehmann-Grube und zwölf Jahre später an Burkhard Jung. Nach seiner zweiten Niederlage durfte Albrecht Wirtschaftsbürgermeister im Hause Jung werden. Man soll seine Feinde – vor allem die geschlagenen – ja immer im Blick haben, wusste schon Machiavelli.
Doch es gibt noch eine zweite Folge der pragmatischen Kuschelpolitik: Die Menschen gehen nicht mehr wählen. Bei der letzten Oberbürgermeisterwahl im Jahr 2006 stimmten nur ungefähr 16 Prozent der Bürger für den Sieger Burkhard Jung – etwas mehr als die Hälfte der 31,7 Prozent, die überhaupt zur Stichwahl ihr Votum abgaben. Wir haben einen Oberbürgermeister, den 84 Prozent der Berechtigten gar nicht wählten.
Alternative zum Amtsinhaber?
Nun steht uns ein Wahlkampf bevor, der noch langweiliger zu werden droht als jener von vor sieben Jahren. Keiner der Herausforderer scheint eine Chance zu haben: zu blass, zu uninspiriert, zu wenig streitlustig geben sich die Kandidierenden. Offenbar schien Jung schon im Vorfeld so stark, dass niemand von Format sich traute, ihn herauszufordern – das abschreckende Beispiel von Uwe Albrecht immer vor Augen.
Es ist ein wenig wie in der DDR, als die Blockparteien artig ihre Kandidaten aufstellten, um wenigstens ein kleines Stückchen vom Kuchen abzubekommen. Eine echte Wahl gab es damals nicht. Und auch heute fehlt die Alternative zum Amtsinhaber.
Doch was wollen wir, die Wählerschaft, eigentlich von der Stadtpolitik? Was fehlte den knapp 280.000 Menschen, die beim letzten Mal nicht zur Abstimmung gegangen sind? Vielleicht ist es das Gefühl, etwas bewirken zu können, ein Gefühl von Macht.
Schnarchigkeit des Leipziger Modells
Was beispielsweise brachte die Menschen in den USA dazu, im Jahr 2008 Barack Obama zu wählen? Damals beteiligten sich mit 181 Millionen Wählern so viele Menschen wie noch nie an einer Wahl in den USA. Was führte zu Erdrutschsiegen wie dem des Grünen Winfried Kretschmann 2011 in Baden-Württemberg? Auch hier lag die Wahlbeteiligung – mit einem Zuwachs von 13 Prozent – deutlich höher als bei der vorangegangenen Landtagswahl.
Es war eine Stimmung von Aufbruch und Veränderung, die Menschen spürten die Macht der Straße, ihre Macht als Souverän – und setzten diese dann in Wahlergebnisse um. So funktioniert Demokratie. Die Schnarchigkeit des Leipziger Modells jedoch verhindert ein reges demokratisches Leben und führt zu genau der politischen Agonie, in der die Stadt steckt.
Überhaupt ist es bemerkenswert, wie Politiker und Manager unmittelbar nach der Wende politische und mediale Verhältnisse in Sachsen zementierten – und dabei die gesellschaftliche Infrastruktur, die sie nach 40 Jahren SED-Diktatur vorfanden, für ihre Ziele nutzten.
Der Filz wächst
Lehmann-Grube tat dies in der Stadtpolitik, Hartwig Hochstein, erster Nachwende-Chefredakteur der LVZ, in der Leipziger Presselandschaft, Kurt Biedenkopf mit der sächsischen CDU auf Landesebene und Udo Reiter, langjähriger Intendant des MDR, im öffentlichen Rundfunk. Sie alle schufen sich Reiche unangefochtener Macht, die bis heute fortdauern. Politik und Medien hängen eng zusammen, denn in genau diesen strukturell zementierten Bereichen spielt sich ein großer Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ab. Oder eben nicht – dann entsteht eine Situation, die immer dem jeweiligen Machthaber in die Hände spielt.
Überall dort, wo alle miteinander kuscheln, wo eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, wo alle irgendwie verbunden sind und voneinander abhängen, wo Entscheidungen in Hinterzimmern getroffen werden, wo es keine engagierte und machtvolle Opposition gibt, wächst der Filz, übernimmt die Mauschelei nach und nach das Zepter.
Man sieht das seit Jahren beim MDR, jüngst an den Skandalen um Udo Foht und den Kinderkanal. Ähnliches gilt für die Politik in Leipzig und Sachsen mit all ihren Skandalen vom Paunsdorf-Center über die KWL, bfb, Sachsen-LB, Olympia-Bewerbung, »herrenlose Häuser« bis zu dem schwer fassbar vor sich hin wabernden Monstrum, das man Sachsensumpf nennt.
Die Zeit ist reif für mehr Demokratie
Sicher haben die alten Herren des Aufbau Ost es gut gemeint und vielleicht war es aus ihrer Sicht sinnvoll, bei der Transformation der Gesellschaft von der Diktatur zur Demokratie, von der Plan- zur Marktwirtschaft zunächst auf effektive, pragmatische Strukturen zu setzen. Doch die Nachwendeära ist vorbei. Die Zeit ist reif für mehr Demokratie.
Dieser Wahlkampf hätte eine Chance sein können, die alten Strukturen aufzubrechen, den verfilzten Folgen der Transformationsgesellschaft Ost ein Ende zu setzen – oder zumindest damit zu beginnen. Nur leider hat keiner der Kandidaten dieses Ziel auf dem Plan.