Wie viel man in einen einzigen Film hineininterpretieren kann, zeigt »Room 237«. Gleich zwei überaus dunkle Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwebt Georg Mass in »Zwei Leben«. »Das Pferd auf dem Balkon« lässt einen Zehnjährigen aus seiner Schutzhöhle entweichen und »Il Futuro« zeichnet eine perspektivlose italienische Hauptstadt. Luis verliert seine Orientierung in Berlin (»Lose Your Head«) und Franck gerät in den Bann des Fremden am See. Und Fanny Ardant blickt auf »Die schönen Tage«, während sich bei Denis Dercourt die versammelte Geburtstagsgesellschaft ein Katz-und-Maus-Spiel liefert.
Auf Stanley Kubricks »Shining« trifft die oft floskelhafte Vokabel »verstörend« wirklich zu. Als seine Verfilmung des Stephen-King-Horror-Stücks 1980 erschien, waren viele fasziniert und konnten nicht sagen, warum. Andere waren gelangweilt, denn so richtig viel passiert nicht in dem abgelegenen Berghotel – und trotzdem findet ein monströses Familiendrama mit Blutbad statt. Geheimnisse sind bei Kubrick nichts Ungewöhnliches, also machten sich verschiedene Interpreten daran, den verrätselten Film und die intellektuellen Spielereien zu entschlüsseln, darunter Filmwissenschaftler, Verschwörungstheoretiker, Journalisten. Da springt unmögliche Hotelarchitektur ins Auge, Zwergensticker fehlen plötzlich an der Kinderzimmertür, Menschen werden durch Überblendungen zu Kofferbergen. Es sind so viele Auffälligkeiten, die »Room 237« zusammenträgt, dass dieser Film über Filme den Zuschauer verblüfft zurücklässt. Benannt nach dem mysteriösen Hotelzimmer in »Shining« zeigt er, welche komplexen Dinge Kubrick im Hintergrund ablaufen lässt. Je nach Ausgangspunkt ergeben sich andere Interpretationen, aber sie alle lassen sich nachvollziehen. Und weil sich »Room 237« nicht entscheiden mag, wird er selbst zur Hommage an die suggestive Kraft des Kinos. Die ganze Kritik können Sie im aktuellen kreuzer nachlesen.
»Room 237«: 20./21., 23.–25., 27.9., Cinémathèque in der naTo
Die ehemalige DDR-Spionin Katrine (Juliane Köhler) wurde als Kind eines deutschen Soldaten und einer Norwegerin in der NS-Zeit geboren. Von den Nazis wurde sie nach Deutschland geholt. Nach dem Ende des Krieges wuchs das Mädchen in einem Kinderheim auf. Erst nach vielen Jahren lernt Katrine ihre leibliche Mutter kennen. Der Fall der Mauer bringt ihr Leben ordentlich durcheinander und droht ein düsteres Geheimnis zu offenbaren. Der junge Anwalt Solbach möchte solche »Kindesvergehen« vor den europäischen Gerichtshof bringen und sieht in Katrine und ihrer Mutter die perfekten Zeuginnen. Gleich zwei überaus dunkle Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwebt Georg Mass in seinem Drama »Zwei Leben«, das als deutscher Beitrag ins nächste Oscarrennen geht. »Zwei Leben« ist eine bemerkenswerte Arbeit, die vor allem durch das eindringliche Spiel Juliane Köhlers vorangetrieben wird, die sich zwischen Täter- und Opferrolle hin und her bewegt.
»Zwei Leben«: ab 19.9., Passage Kinos
Luis (Fernando Tielve) kommt aus Madrid und ist seit kurzem Single. Er kommt vor allem nach Berlin, um zu feiern und die Club-Szene zu erkunden. In zahlreichen Diskotheken, verrückten Bars und illegalen Partys im Untergrund versucht er den Kopf frei zu bekommen und nicht an seinen Ex-Freund zu denken. Und wer weiß? Vielleicht wartet in Berlin auch die große Liebe auf Luis. Doch dann kommt alles ganz anders. Luis gerät in ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem er zwischen Paranoia und Realität nicht mehr unterscheiden kann.
»Lose Your Head«: 21.–24.9., Kinobar Prager Frühling
Es gab schon einige Filme, die das Asperger-Syndrom zum Protagonisten erklärt haben: In jüngster Zeit spielten das Animationsmärchen »Mary und Max« (2010) oder auch die skandinavische Feelgood-Komödie »Im Weltraum gibt es keine Gefühle« (2011) mit den Eigenheiten ihrer Protagonisten. Im neuen Film des türkischstämmigen Regisseurs Hüseyin Tabak (»Kick Off«, 2010) steht der zehnjährige Mika (Enzo Gaier) mit Asperger-Syndrom im Mittelpunkt. Mika liebt Zahlen, sagt immer die Wahrheit und hasst Witze über alles. Keine Minute später als 14:17 Uhr erwartet er sein Mittagessen auf dem Tisch und jeden Freitag muss dort Palatschinken stehen. Sonst rastet der Kleine aus. Erst als der Junge die gleichaltrige Dana (Natasa Paunovic) kennenlernt und mit ihr ein Pferd auf dem Balkon des neuen Nachbarn Sascha (Andreas Kiendl) entdeckt, schlüpft Mika langsam aus seiner Schutzhöhle. Basierend auf dem gleichnamigen Kinderbuchklassiker von Milo Dor bereitet Tabak diese Geschichte wunderbar amüsant vor allem für ein junges Publikum auf. Hier geht es nicht um große Erklärungsansätze. Fast beiläufig deutet der Film die Überforderung der jungen Mutter (Nora Tschirner) an. Tabak geht es auch nicht darum, schnelle Lacher einzustecken. Die meiste Zeit lässt der Film seinen kleinen Helden selbst erklären, warum er sich manchmal so anders verhält und folgt vor allem seiner Perspektive auf die sich überschlagenden Ereignisse. Die ganze Kritik können Sie im aktuellen kreuzer nachlesen.
»Das Pferd auf dem Balkon«: ab 19.9., Passage Kinos, Regina Palast
»Das rechtfertigt alles«, erzählt Bianca (Manuela Martelli) aus dem Off, während sie auf ihre Jugendzeit zurückblickt. Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern habe sie in einen kriminellen Strudel gestürzt, aus dem sie sich nur schwer befreien kann. Zu perspektivlos ist das Rom, in dem sie und ihr jüngerer Bruder Tomás (Luigi Ciardo) allein zurückgelassen wurden. Basierend auf dem »Lumpenroman« des chilenischen Autors Roberto Bolaño erzählt Filmemacherin Alicia Scherson (»Turistas«) die Geschichte der beiden Teenager. Während Bianca sich durch den Alltag hievt, bringt Tomás zwei Bekannte aus dem Fitnessstudio mit nach Hause. Die jungen Männer nisten sich schnell im elterlichen Schlafzimmer ein, kümmern sich ums Abendessen und um Tomás. Was sich vorerst wie ein befremdliches Abbild einer Ersatzfamilie zusammensetzt, gerät im Verlauf des Filmes in eine recht abstruse Schieflage. Die Männer schlagen Bianca vor, den früheren Filmhelden »Maciste« (Rutger Hauer) auszurauben. So recht will sich Bianca ihrem Umfeld und auch dem Zuschauer nicht öffnen. Sie hält alle auf Distanz. Trotz ihres schlichten Spiels umgibt Manuela Martelli ihre Bianca mit einer traurig-schönen Aura. »Il Futuro« ist ein Film, der sich wie ein sorgsam gestaltetes Tableau vor dem Zuschauer ausbreitet, der nach Lücken in der Erzählung sucht und sie selbstbewusst zulässt. Die ganze Kritik können Sie im aktuellen kreuzer nachlesen.
»Il Futuro – Eine Lumpengeschichte in Rom«: 19.–25., 27.9., Cinémathèque in der naTo
Wenn sich der Tag dem Ende neigt, verwandelt sich die sommerliche Atmosphäre am See in ein seltsam trügerisches Idyll. Franck (Pierre de Ladonchamps) kommt jeden Tag hierher und vertreibt sich die Zeit mit Baden, Langeweile und sexuellen Abenteuern. Er freundet sich mit Henri (Patrick d’Assumcao) an und verfällt dem gefährlich-schönen Michel (Christophe Paou). Der Wechsel der Tageszeiten markiert den Rhythmus des Films und der Figuren. Mit dem Einbruch der Nacht verlieren sich deren Spuren. Wir erfahren weder, woher sie kommen, noch, wohin sie gehen. Dennoch gelingt es Alain Guiraudie (»Der Ausreißer«) Anknüpfungspunkte an eine Welt außerhalb zu markieren – sei es durch Umgebungsgeräusche oder die bohrenden Fragen Francks, wo Michel seine Nächte verbringt. Mitten ins idyllische Sommersetting platziert Guiraudie seine spannende Dreiecksgeschichte, in der sich die sehr unterschiedlichen Männer mit ihren Sehnsüchten und ihrer Lust auseinandersetzen. Es geht um schnelle Befriedigung, Einsamkeit und Freundschaft. Dabei zeigt Guiraudie keine Scheu davor, schwulen Sex offen zur Schau zu stellen. Es gibt kaum eine Einstellung, in der nicht ein männliches Glied durchs Bild baumelt. Und doch geschieht das alles mit einer angenehmen Beiläufigkeit, die sich auch in der Art und Weise widerspiegelt, wie Alain Guiraudie den zunehmend krimihaften Plot vorantreibt. Die ganze Kritik können Sie im aktuellen kreuzer nachlesen.
»Der Fremde am See«: ab 19.9., Passage Kinos
Für einige Menschen ist sie die Geißel der Menschheit, für andere die Religion des Alltags: die Arbeit. Regisseur Konstantin Faigle hinterfragt in dieser Doku-Fiktion auf humorvolle Weise den Sinn der Arbeit und vermischt Experteninterviews mit komödiantischen Spielfilmszenen. Ein satirischer Ansatz zur Senkung der Arbeitsmoral und eine Karikatur der Arbeit selbst.
»Frohes Schaffen«: 19.–21., 24./25.9., Cineding
Das perfekte Leben von Anna (Marie Bäumer) und Paul (Mark Waschke) ändert sich mit einem Schlag, als eines Tages Georg (Sylvester Groth) als neuer Chef in Pauls Büro steht: Man kennt sich aus Jugendtagen. Plötzlich tauchen kompromittierende Bilder auf, die Paul mit seiner Sekretärin zeigen, geschäftliche Misserfolge werden ihm angelastet. Paul wird allmählich bewusst, dass ihn eine vergessen geglaubte Geschichte aus der gemeinsamen Vergangenheit brachial einholen könnte. »Zum Geburtstag« feierte vergangene Woche in Anwesenheit des Regisseurs Denis Dercourt und des Schauspielerensembles seine Premiere auf der Filmkunstmesse in Leipzig. Dercourts Film ist ein amüsanter, wenn auch nicht ganz packender Krimi. Mark Waschke, Sylvester Groth oder auch Sophie Rois spielen einander nicht immer kurzweilig den Ball zu, wenngleich das mehr an der lückenhaften Erzählung als an den Schauspielern selbst liegt.
»Zum Geburtstag«: ab 19.9., Passage Kinos
Der Wille, etwas Eigenes und Neues auszuprobieren, reizt die beiden gelernten Köche Felix und Max zu einem achtmonatigen Reise-Abenteuer, das sie quer durch Asien führen soll. Die Besessenheit vom Kochen treibt die beiden letztlich durch acht Länder und insgesamt 25 Städte. Auf der Suche nach Inspiration für ihr geplantes Spitzenrestaurant in Berlin treffen sie auf kulinarische Höhepunkte wie frittierte Tarantel oder das frische Blut einer Kobra.
»Guerilla Köche«: 21.–25.9., Kinobar Prager Frühling
Caroline (Fanny Ardant) ist seit kurzem im Ruhestand. Zunächst weiß sie nicht, was sie mit der vielen freien Zeit anfangen soll. Sie hat keine Lust, als untätige Seniorin auf ihr Lebensende zu warten. Aus diesem Grund freut sie sich nicht gerade über ein Geschenk ihrer Töchter, die ihrer Mutter eine Art Schnupperkurs in einem Club für Senioren, der »Die schönen Tage« heißt, schenken. »Die schönen Tage« ist eine leichte, fast schon beiläufig inszenierte Dreiecksgeschichte, die sich an der Schönheit ihrer Hauptdarstellerin entlanghangelt.
»Die schönen Tage«: ab 19.9., Passage Kinos
Schüler Daniel (François Goeske) lernt online Elli (Jytte-Merle Böhrnsen) kennen, mit der er begeistert loszieht, um im Pfälzer Wald mit GPS-Handy auf Schnitzeljagd in freier Natur zu gehen. Im Schlepptau haben die beiden Daniels Rapper-Kumpel Thomas (Pit Bukowski) und Ellis Freundin Jessica (Josefine Preuß), die beide wenig Interesse für das Abenteuer aufbringen. Es führt sie zu einem verlassenen Campingplatz auf militärischem Sperrgebiet. Dort läuft in einer Funkanlage noch ein geheimes Experiment mit hochenergetischer Strahlung. Deutscher Thriller über eine Gruppe Jugendlicher, deren Abenteuertrip zum Kampf um Leben und Tod wird.
»Lost Place«: ab 19.9., CineStar
Der junge Adam (Liam Hemsworth) will es einmal besser haben als sein Vater, der nach Jahrzehnten der Arbeit als Sicherheitsmann schwerkrank ist und kaum seinen Lebensabend bestreiten kann. Er bewirbt sich bei einem großen Konzern aus dem Sicherheits-High-Tech-Bereich – und bekommt einen Job bei der Konkurrenz, um sie auszuspionieren. Bald muss er feststellen, dass den Konzerngranden jedes Mittel recht ist. Thriller um einen jungen Aufsteiger, der zwischen die Fronten zweier Konzerne gerät.
»Paranoia – Riskantes Spiel«: ab 19.9., CineStar
Von seinen eigenen Leuten verraten und zum Sterben zurückgelassen findet sich Riddick (Vin Diesel) auf einem von der Sonne verbrannten Planeten wieder, auf dem jegliches Leben erloschen zu sein scheint. Doch schon bald muss er sich gegen aggressive Aliens zur Wehr setzen, die ihn unerbittlich attackieren. Um der aussichtslosen Lage zu entkommen, sendet Riddick ein Notsignal – mit gemischtem Erfolg: Zwei Schiffe landen auf dem Planeten und eröffnen die Jagd auf ihn. Vin Diesel wird in dieser apokalyptischen Kinoaction vom Gejagten zum Jäger.
»Riddick«: ab 19.9., Cineplex im Alleecenter, CineStar, Regina Palast
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Gute Unterhaltung im Kinosessel!