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Stadtleben

»Ob du singen kannst, ist hier scheißegal!«

Zu Gast bei den singenden Wirten: Unser Autor war erstmals beim Neujahrssingen

  »Ob du singen kannst, ist hier scheißegal!« | Zu Gast bei den singenden Wirten: Unser Autor war erstmals beim Neujahrssingen

Leipziger Gastronomen und ein paar Medienvertreter singen die besten Hits der 80er, 90er und von heute – und ich soll darüber schreiben. Der Auftrag klang ähnlich sympathisch, wie über eine Karaokeparty oder Karnevalssitzung zu berichten. Sicher, jeder darf sich vergnügen, wie er oder sie will, aber das muss ich nicht journalistisch begleiten. Da aber der kreuzer sich mit einem ganzen Chor daran machte, die Herzen des Publikums mit »We are the World« zu erobern, musste ich also mit. Hier folgt somit der Bericht eines nicht völlig unvoreingenommenen Protokollanten.

An mittlerweile zwei Abenden findet die Show statt, die seit 2007 das neue Jahr einläutet. Beide Abende (10./11.1.) waren ausverkauft, an Publikum im Anker mangelte es also nicht. Überraschend war die Disziplin: Als so gegen 21 Uhr aus dem Off ein Countdown mit »We Will Rock You« beginnt, werfen die Raucher vor der Tür ihre Zigaretten weg, um nichts zu verpassen. Die Anwesenden zählen mit und tobend fällt der Jubel aus, als die Begleitband Paratox endlich die Instrumente aufspielen lässt und die beiden Begleitsängerinnen (Berivan Kernich & Jasmin Graf) die Stimmen erheben. Das hält die nächsten zweieinhalb Stunden an – zwischen einem stattlich sonoren Enk als Johnny Cash und den Pet Shop Boys vom Plan B. Man kann eigentlich nur zwischen stürmischem Applaus und absolut stürmischem Beifall unterscheiden, demnach Unterschiede zwischen Hurrikan und Taifun diskutieren. Schnell schießt aus dem Publikum heraus der erste Konfettiregen (als das Safran in der zweiten Nummer Abba gibt), bald sind die ersten Feuerzeuge entflammt (U2 vom Beyerhaus), dann werden Wunderkerzen in die Höhe gereckt (Whitney Houston von der LVZ).

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Als zweite Überraschung zeichnet sich rasch die Professionalisierung ab. Gut, es sind keine Berufsmusiker unter den Interpreten. Aber unter so manchem in seiner Double-Qualität sicher zu lobendem Beitrag – Thomas Bötig gibt beispielweise fürs Tonelli einen fantastischen »Billy Jean«-Jacko ab – kann man leicht vergessen, worum es eigentlich an diesem Abend gehen soll. Zumindest mir gegenüber wurde immer wieder betont, welch hübsches Trash-Format das Neujahrssingen sei, dass Dabeisein alles sei und es überhaupt das Nonplusultra bedeute, sich talentfrei, aber mit Verve in die gute Abendunterhaltung zu werfen. »Ob du singen kannst, ist hier scheißegal!«, bestätigt auch Moderator Mark Daniel (im wahren Leben LVZ-Szene-Redakteur), als die Publikumskandidatin Andrea – auch sie ist zum ersten Mal bei den singenden Wirten zu Gast – ihr Können verneint und zum unvermeidlichen »Er gehört zu Dir« greift. Hoffen wir, dass diese Professionalisierung das Wirte-Singen nicht demselben Schicksal zuführt, wie es den Paul-Fröhlich-Cup ereilte, oder man als Gastrokraft nur noch dann eine Anstellung findet, wenn man Musiktalent mitbringt.

Mit der dritten Nummer zieht dann auch der Trash-Faktor ein. Maria und Jonas vom Froelich und Herrlich legen mit »Barbie Girl« (Aqua) einen herrlich-fröhlichen Quietsch-Auftritt hin: Ein pinker Queer-Cowboy lässt die Puppe tanzen, die sich mit Einhornhandtasche und lila Flachmann selig singt. Andreas vom Volkshaus zeigt beeindruckend, wie wenig man singen können muss, um dennoch mit Billy Idols Rebellen-Aufschrei einen Höhepunkt zu setzen. Die Metalhände fliegen im Publikum sofort als Dutzendware in die Luft. Kippe-Verkäufer Tommy zeigt Haltung, als er sich inbrünstig als Prinzen-»Millionär« ausgibt und mit Charme outet, keine musisch geprägte Schule besucht zu haben. Kostümlich stechen Moritzbastei – als Daft Punk ordentlich mit den zwei Lord Helmchen – und in puncto Körperarbeit die Fleischerei mit einer fidelen Salt’n’Pepa-Performance hervor. Gefeiert aber, und das frenetisch, werden alle Acts des Abends. Jeder muss die obligatorische Zugabe abliefern, eher wird er nicht entlassen. Und das ist meine dritte Überraschung an diesem Abend: Man muss sich von diesem Wahnsinn einfach mitreißen lassen. Das Neujahrssingen macht keine Gefangenen und entfacht bannend-begeisternde Wirkung; der Gebrauch gesellschaftlich akzeptierter Drogen mag da unterstützend helfen.

PS: Die Herren vom Chor Die Tollkirschen (als Pet-Shop-Boys-Begleitung) merken an, dass sie in der Presse nicht noch einmal »Knabenchor« genannt werden wollen. Nur weil ein Chor aus Schwulen besteht, muss man nicht der Päderastenassoziation verfallen.


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