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Theaterkritik

Zwei Glücksfälle und ein Todesengel

Das TdJW eröffnet die Spielzeit mit einem 3-Tages-Spektakel

  Zwei Glücksfälle und ein Todesengel | Das TdJW eröffnet die Spielzeit mit einem 3-Tages-Spektakel

Erotisch, elegant – blutbesudelt: Als der Engel dieser Geschichte in Gestalt einer gesichtslosen Frau das letzte Mal langbeinig ein-schreitet, reißt er eine Figur aus dem Protagonisten-Quintett. Das hat sich irgendwo im Internet versammelt und chattet, postet, updated, was das Zeug hält. Das Publikum sitzt wie an einem Knotenpunkt ihres Online-Geschwätzes und hat das leider trotz hübscher Ästhetik irgendwann über. Die Premiere von »Man sieht sich« bildete den schwächsten Mittelteil eines insgesamt überzeugenden Triptychons, mit dem das Theater der Jungen Welt (TdJW) seine Spielzeit eröffnete. Nicht weniger als ein kleines 3-Tages-Spektakel gönnte man sich.

Das »Facebook-Stück«, wie »Man sieht sich« (R: Jürgen Zielinski) alsbald am Haus genannt wurde, beruht auf dem preisgekrönten Theatertext von Guillaume Corbeil. Der ist raffiniert und seine Umsetzung nicht ohne. Denn eigentlich gibt es nur Text auf Bildschirm, wenn die unbekannten Figuren miteinander maschinenvermittelt kommunizieren. Deshalb sind die Schauspieler konsequenterweise im Bühnenbild in bunte Frames/Fenster/Rahmen verfrachtet worden. Leider bleiben die Avatare dort nicht, sondern verheddern sich in kleinen Spielszenen. Die holzschnittartige wie kurzatmige Facebook- und Whatsapp-Kommunikation wird hier zwar gut eingefangen, wenn die Schauspieler lange Listen aufzählen, welche Bücher sie gelesen, welche Hobbys sie haben und bei welchem Musiker sie den »Gefällt-mir«-Button gedrückt haben. Über die – auch wenn sie teilweise nur Klischee ist – Oberflächlichkeit der Digital-Kommunikation führt dieses letztlich langatmige Spiel nicht hinaus. Hier hätte sich ein Stakkato von Satzelipsen als temporeiche Sprechoper gut gemacht.

Tags darauf tritt der Engel noch einmal als Attraktion auf, als die neue Spielzeit mit einem revueartigen Galaabend eingeleitet wird. Intendant Zielinski scherzt vom »alternativen Opernball« und weiht das neugestaltete Foyer in Grau und Grün offiziell ein. Im Saal und anschließend auf der Hinterbühne sind dann Kostproben und Einblicke aus dem und ins TdJW-Programm und Haus zu erleben. Der kanadische Autor Guillaume Corbeil ist dabei genauso Interview-Gast wie Mitglieder des neuen inklusiven Theaterclubs. Günther Heeg vom Theaterwissenschaftsinstitut wird zur engen Zusammenarbeit mit dem TdJW befragt, Schauspielstudierende zeigen eine Szene aus ihrer Beschäftigung mit dem Heiner-Müller-Stück »Der Bau«. Die großartige Band L’Aura gibt Coversongs zwischen Deutsch-Pop und Trip-Hop zum Besten. Und weil das Spielzeitmotto »Übermorgen« lautet, gehts dann auf die Hinterbühne, um aus Regisseuren-Mündern mehr über kommende Inszenierungen zu erfahren. Und ein paar Shantys von den Lindenauer Seemöwen (O-Ton aus dem Haus) zu erleben: Das Duo bestehend aus Theaterpädagogin Sarah Eger und Schauspielerin Katja Göhler interpretierte Seemannslieder höchst anhörlich neu. Ein bunter Strauß Theater, der Lust auf die neue Spielzeit machte – und Häppchen gabs auch.

Den Höhepunkt in Sachen Theater bildete aber schon der Auftakt. Die Uraufführung von »Patricks Trick« (T: Kristo Šagor, Regie: Jörg Wesemüller) geht trotz schweren Themas mit gewinnender Leichtigkeit über die Bühne. Dort entwickelt sich, die Zuschauer sitzen auf zwei Seiten arenaartig dicht dran, ein turbulentes Spiel um Behinderung, Freundschaft und Reifeprozesse. Der elfjährige Patrick erfährt, dass er einen behinderten Bruder bekommen wird. Wie soll er denn damit umgehen und kann er seinen Eltern beziehungsweise dem Bruder nicht helfen? Da muss doch etwas zu machen sein, weshalb er seinen Kumpel Valentin fragt, Rat bei einem kroatischen Kraftmeier und kauzigen Professor einholt, bei einer etwas zurückgebliebenen Obstverkäuferin und seiner schönen wie klugen Deutschlehrerin.

Den für Zuschauer ab elf Jahren geeigneten Stoff bringen zwei Schauspieler dar. Der Clou, oder eben Patricks Trick: Er stellt sich den ungeborenen Bruder schon einmal vor und will mit dem fiktiven Gesprächspartner gemeinsam herausfinden, wie man diesem helfen kann. Dazu schlüpfen die Schauspieler Stephan Fiedler und Kevin Körber in wechselnde Rollen und geben Patricks Eltern, die Lehrerin etc. Das geschieht durch kleine Requisiten – eine Perücke aus roten Schnüren für die Mutter, ein unters T-Shirt geschobener Ball kennzeichnet als Bauch den Vater, eine Bandage den Boxer – und große Mimik und Geste. Die beiden bringen durchweg überzeichnete Charaktere auf die Bühne, deren Darstellung mit einem jeweiligen musikalischen Motiv noch unterstützt und plastischer wird. Weil die beiden mal erzählen, mal eine Szene ausspielen, ist ihre gute Stunde nicht nur voller Abwechslung, sondern kann durch hohes Tempo auch die Zuschauerkonzentration halten. Allerlei Gags und originelle Texteinfälle, Wortspiele und auch ein Paul-Celan-Zitat inklusive, Slapstick und Situationskomik runden die Inszenierung ab. Die neue TdJW-Spielzeit ist gebührend eröffnet.


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