Ulrich Seidl legt den Finger immer wieder tief in die klaffenden Wunden der westlichen Gesellschaft und konfrontiert uns mit Dingen, vor denen wir lieber die Augen verschließen. Doch wenn seine Filme wie die Protagonisten seines neuen Werks »Im Keller« zurückschauen, gibt es kein Entrinnen im Kinoraum. Nachdem er mit seiner »Paradies«-Trilogie zuletzt die Form des Spielfilms wählte, um dann doch wieder dokumentarisch zu inszenieren, wählt er diesmal wieder die Form des Dokumentarfilms, der wiederum streng nachinszeniert ist. Welchen Ansatz er auch wählt, Ulrich Seidl bleibt einer der wichtigsten Akteure des europäischen Films. Wovon man sich ab dieser Woche nachdrücklich im Kino überzeugen kann.
Film der Woche: »Im Keller« gelingt ein tiefer Blick in gepflegte Privatuniversen unter der Erde und formt daraus ein abgründiges Bild einer kollektiven Psyche, voll abseitiger Schrulligkeiten, obskuren Phantasien und dunklen Obsessionen. Die streng komponierten Tableaus bringen, kombiniert mit dem gemächlichen Tempo, die gezielten Wiederholungen besonders zur Geltung, Sound und Schnitt sind durchgängig präzise gesetzt: Von der Stille geht es abrupt zum Lärm und zurück. Auf Zuschauerseite spiegelt sich dieser Effekt wunderbar: Wir driften vom übersteigerten Lachen (ein Liebesguru berichtet in Montur über die Vorzüge seines Samenstrahls) hin zum kopfschüttelnden Verstummen (über ein Adolf-Hilter-Porträt auf hellrosa Wand, sanft abgewischt mit Schwarz-rot-gold-Staubwedel) zum unangenehm berührten Schweigen (ein Mann liebt es, beim Spülen schwere Gewichte an den Hoden zu tragen) und zurück. Dieses Kino ist nicht nuanciert, es ist kompromisslos und direkt in seinem delikaten Blick auf zivilisierte Unzivilisiertheit. Ausführliche Kritik von Stephan Langer im aktuellen kreuzer.
»Im Keller«: ab 3.12., Kinobar Prager Frühling, Passage Kinos
Woody Allen ist ein unverbesserlicher Nostalgiker. Das zeigt sich auch bei seinem 44. Kinofilm. Wieder haben es ihm die goldenen Zwanziger angetan: Der zynische Illusionist Stanley (Colin Firth), weltbekannt mit Bart und Hut unter seinem chinesischen Pseudonym Wei Ling Soo, glaubt nicht an Hokuspokus. Neben seinen Shows hat er sich zusätzlich einen Namen mit der Demaskierung von Scharlatanen gemacht. Daher ist er sofort einverstanden, als ihn sein alter Freund Howard (Simon McBurney) an die Côte d’Azur bittet, der vermeintlichen Wahrsagerin Sophie (Emma Stone) das Handwerk zu legen. Sie hat sich das Vertrauen einer wohlhabenden Familie erschlichen und soll deren einzigen Sohn heiraten. Stanley ist zunächst unbeeindruckt von dem Wissen, das die junge Frau an den Tag legt. Doch zunehmend lässt er sich selbst von der reizenden Dame verzaubern.
Woody Allens Neuer ist mal wieder eine durch und durch klassische Komödie mit Tempo, Charme und ganz viel Sonne. Wie immer ist die Dialogfrequenz hoch und jedes Wort sitzt. Colin Firth ist perfekt in der Rolle des trockenen Skeptikers und es wundert fast, dass es nicht schon vorher zu einer Symbiose zwischen dem Charakterdarsteller und dem Vielfilmer gekommen ist. Zudem stimmt die Chemie mit seiner Gegenspielerin Emma Stone. Die beiden geben eines der bezauberndsten Leinwandpaare der jüngeren Filmgeschichte ab.
»Magic in the Moonlight«: ab 3.12., Passage Kinos
Der kreuzer verlost Freikarten. E-Mail mit Betreff »Zauberhaft« an film@kreuzer-leipzig.de
Der lustige und tollpatschige peruanische Bär Paddington hat eine Schwäche für alles Britische. So ist es nicht verwunderlich, dass er nach London reist, um dort sein neues Zuhause zu finden. Als er sich mutterseelenallein an der U-Bahn-Station Paddington wiederfindet, wird ihm allerdings langsam bewusst, dass das Stadtleben vielleicht doch nicht so ist, wie er sich das vorgestellt hat. Dort findet ihn die Familie Brown, entdeckt ein Schild um Paddingtons Hals (»Bitte kümmere Dich um diesen Bären. Danke!«) und bietet ihm eine vorläufige Unterkunft an. Es scheint, als hätte sich sein Schicksal zum Guten gewandelt – doch dann erregt der seltene Bär die Aufmerksamkeit einer zwielichtigen Tierpräparatorin. Die wird wunderbar fies gespielt von Nicole Kidman und auch sonst stehen die menschlichen Darsteller, dem beeindruckend animierten Zottel in nichts nach. Ein rundum gelungenes Vergnügen und endlich mal wieder ein Film zum Fest für die ganze Familie. Wobei große Kinder natürlich die authentische englische Originalversion vorziehen sollten.
»Paddington«: ab 3.10., Regina, Cineplex, CineStar
Der kreuzer verlost Freikarten. eMail mit Betreff »Marmelade« an film@kreuzer-leipzig.de
Als Ruth Weintraub (Hannelore Elsner) Jonas (Max Riemelt) zum ersten Mal trifft, wird sie zurück in die siebziger Jahre katapultiert, als sie noch eine bekannte jüdische Cabaret-Sängerin und sehr verliebt in den jungen Filmhochschul-Studenten Victor war, dem dieser Jonas so sehr gleicht. Aber die Vorzeichen für ein generationsübergreifendes Kennenlernen sind schlecht. Jonas gehört zu einer Truppe von Möbelpackern, die die Zwangsräumung von Ruths Wohnung durchführen. Dem Gerichtsvollzieher heizt die alte Dame gründlich ein, aber nach dem erzwungenen Umzug in ein Sozialwohnsilo mit Blick auf die Autobahn verlässt sie der Lebensmut. Es ist Jonas, der sie nach einem Selbstmordversuch blutüberströmt entdeckt und ins Krankenhaus bringt. Ruth landet erst einmal in der Psychiatrie und der wohnungslose Neuberliner zieht heimlich in ihre neue Bleibe ein. Zwischen den Umzugskartons findet er alte Filmrollen – ein Dokumentarfilm, den Victor über seine Verlobte gedreht hat, die als jüdisches Kind in Polen nur knapp dem Holocaust entkommen ist. Zwischen den beiden einsamen Seelen entsteht allmählich eine Freundschaft, denn Jonas‘ Leben ist – wenn auch auf ganz andere Weise – ebenfalls von Ängsten und traumatischen Verlusten geprägt. Es ist ein gewagtes Unterfangen, die Lebensnöte eines Mittzwanzigers mit den Erfahrungen einer Holocaust-Überlebenden zu spiegeln. Aber was auf dem Papier wie eine gestelzte Versuchsanordnung klingt, wird in Uwe Jansons »Auf das Leben!« zu einer lebendigen, tragfähigen Geschichte, die zwei Generationen zusammenbringt, die im Kino viel zu selten aufeinandertreffen. Ausführliche Kritik von Martin Schwickert im aktuellen kreuzer.
»Auf das Leben!«: ab 6.12., Luru Kino in der Spinnerei
Die Filmtermine der Woche
Boris Dorfman – A Mentsh
Boris Dorfman, ältester Jude Lembergs, führt in seiner Muttersprache Jiddisch durch die Geschichte seiner Heimatstadt. Anschließend Filmgespräch mit der Initiative Emanzipation und Antifaschismus.
4.12., 17 Uhr, Kinobar Prager Frühling (OmeU)
Der brave Soldat Schweijk
Deutsche Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Jaroslav Hašek aus dem Jahr 1960. Unter der Regie von Axel von Ambesser ist Heinz Rühmann in der Titelrolle zu sehen.
4.12., 18 Uhr, Stadtgeschichtliches Museum/Neubau
Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe
Ein Filmemacher in der statistischen Mitte seines Lebens leidet an Chronophobie. Zur Heilung muss ein Weg gefunden werden, das Vergehen der Zeit zu bremsen. In seinem Dokumentarfilm-Essay führt uns Philipp Hartmann ein Kaleidoskop an Aspekten der Zeit vor. Anschließend Filmgespräch mit Regisseur.
4.12., 20 Uhr, Cineding
Speculative Fiction Series II
Zwei Filme der Videokünstlerin Loretta Fahrenholz: »Implosion« und »Ditch Plains« in Anwesenheit der Künstlerin. In Zusammenarbeit mit dem D21.
4.12., 20 Uhr, LURU-Kino in der Spinnerei
Pride
Homosexualität und Arbeiterkampf – eine Gruppe von Schwulen plant Mitte der Achtziger, den Streik der Stahlarbeiter zu unterstützen und stößt dabei auf ungeahnten Widerstand. Culture Clash im Gewand einer höchst unterhaltsamen Brit-Comedy, die in Cannes mit der Queer Palm ausgezeichnet wurde. Im Anschluss Filmgespräch mit dem Zeitzeugen Prof. Robert Ehrlich.
4.12., 19 Uhr, Cinémathèque in der naTo
12. Klangkino
Die perfekte Symbiose aus Film und Musik im Cineding. Diesmal mit mittelalterlichen Klängen von Nimmersêlich zu mittelalterlichem Überraschungskino.
5.12., 19 Uhr, Cineding
Love Alien
Allein mit dreißig: Selbstversuch einer Liebessuche. In Anwesenheit des Regisseurs Wolfram Huke
5.12., 20 Uhr, LURU-Kino in der Spinnerei
Trafic
Monsieur Hulot soll ein Auto von Paris nach Amsterdam überführen, gerät dabei aber von einer Panne in die andere. Gagreiche Auto- und Konsum-Satire. Classic Filmreihe: Eine Reise durch das 20. Jahrhundert des Films
7.12., 17.15 Uhr, Regina Palast
Camille Claudel
Frankreich, 19. Jahrhundert. Der Bildhauer Auguste Rodin ist ein gefeierter Künstler seines Metiers. Doch während er breite Anerkennung findet, erkennt niemand das Talent seiner Muse und Geliebten Camille Claudel an. Verfilmung von Bruno Nuytten mit Isabelle Adjani und Gérard Depardieu. Zum 150. Geburtstag von Camille Claudel mit Filmeinführung und Filmgespräch.
8.12., 17 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Erinnerung an eine Landschaft – für Manuela
Der Film von Kurt Tetzlaff ist ein Gleichnis über den Verlust von Heimat, die Zerstörung der Natur im Namen des industriellen Fortschritts. Dörfer, die der Braunkohleförderung im Weg stehen, werden abgerissen. Die Menschen werden gegen ihren Willen umgesiedelt. Tetzlaff verfolgt in seinem Film von 1983 über mehrere Jahre die Schicksale einiger Dorfbewohner südlich von Leipzig.
8.12., 19 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum
Der Fluch der Goldenen Blume
Machtgier, Eifersucht und giftige Intrigen am chinesischen Kaiserhof: ein opulentes Martial-Arts-Epos von Yimou Zhang (»Hero«). Shakespeare in China.
10.12., 19 Uhr, Konfuzius-Institut Leipzig (OmU)
Mythos Freiheit: Gefängnis und Demokratie (Prolog)
Was ist Freiheit? In drei Dokumentarfilmen und einem auf wahren Begebenheiten beruhenden Spielfilm nähert sich die Reihe dem Knast in der Demokratie.
Gotteszell
Sechs inhaftierte Frauen, denen Totschlag, Mordversuch und Mord zur Last gelegt werden. Sie erzählen von ihrem Leben vor der Haft, über ihr Verhältnis zur Tat, den Alltag im Knast und die daraus entstehenden Schwierigkeiten. Dokumentarfilm von Helga Reidemeister (2011). Im Anschluss Gespräch mit Rebecca Pates, Professorin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig. Moderation: Lilian Türk
10.12., 19 Uhr, Cinémathèque in der naTo
Von der Beraubung der Zeit
Der Dokumentarfilm setzt sich mit dem Zeitempfinden dreier Langzeitinsassen auseinander. Dokumentarfilm von Daniel Postrak und Jörn Neumann. Anschl. Gespräch mit Regisseur Jörn Neumann.
10.12., 21.30 Uhr, Cinémathèque in der naTo
Horror-Doppel mit Donis
Horror-Papst Donis serviert uns diesmal feinsten Horror-Trash mit dem australischen »Harlequin« von 1980 und passend zur Saison »Black Christmas« (USA 2006).
10.12., 20 Uhr, LURU-Kino in der Spinnerei