anzeige
anzeige

Die ewige Unterkunft

  Die ewige Unterkunft |
Die Stadt Leipzig hat sich einst ein dezentrales Wohnkonzept für Geflüchtete auf die Fahnen geschrieben. Jetzt baut sie die größte Massenunterkunft der Stadt aus.
Seine Küche betritt Ashraf Jabal nur mit Schuhen; wegen der Kakerlaken, die hinter dem Herd hervorwuseln, wenn er die Tür öffnet. Der 21-Jährige hatte gerade begonnen, Pharmazie zu studieren, als in Syrien der Krieg ausbrach. Jetzt sitzt er mit seinen drei Mitbewohnern in einem kargen Raum der Flüchtlingsunterkunft in der Torgauer Straße 290 und trinkt Tee. Man muss sich hier wie im Gefängnis fühlen. Rund um »die Torgauer« verläuft ein Zaun: rund zwei Meter hoch, teilweise Stacheldraht. Kletterhindernisse nach außen und nach innen. Das soll für Sicherheit sorgen. Dahinter zwei fünfstöckige DDR-Plattenbauten, in denen 295 Menschen leben; mehr als ein Zehntel aller Geflüchteten in Leipzig. Weit und breit gibt es keine anderen Wohnungen, nur Gewerbe. Wer hier aus der Tram Linie 3 aussteigt, geht entweder zum Arbeiten in das Massenversandhaus Amazon oder zum Leben in die Massenunterkunft für Geflüchtete. Der Lage an der Peripherie zum Trotz ist die Torgauer dieses Jahr wieder einmal ins Zentrum städtischer Asyl-Politik geraten – dabei sollte es sie eigentlich schon gar nicht mehr geben. Mehrheitsmeinung: Die Torgauer muss weg »Das Objekt Torgauer Str. 290 soll geschlossen werden. Die damit entfallenden Kapazitäten sind somit an anderer Stelle neu zu schaffen.« Der Satz stammt aus dem Jahr 2012, und die nüchterne Formulierung täuscht darüber hinweg, wie radikal das Papier ist, in dem man ihn finden kann. Das Konzept mit dem sperrigen Namen »Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz«, das Ergebnis von eineinhalb Jahren Arbeit der Stadtverwaltung, krempelte die Unterbringung von Geflüchteten in Leipzig um. Kleine Heime, über die Stadt verteilt, Mietwohnungen statt Massenunterkünften, statt der Torgauer Straße vor allem. Denn die ehemalige Kaserne zerfällt: Die Bausubstanz ist marode, die Möbel fallen nur aus Gewohnheit nicht zusammen. Die Kakerlaken bauen ihre zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber den menschlichen Bewohnern jeden Tag weiter aus. »Kaum zumutbar« nannte Oberbürgermeister Burkhard Jung die Zustände 2012, auch die Mehrheitsmeinung im Stadtrat war: Die Torgauer muss weg, so schnell wie möglich. Zweieinhalb Jahre später ist die Torgauer immer noch da. Und nicht nur das: Am 25. Februar 2015 steht fest, dass die Unterkunft nicht geschlossen, sondern saniert und ausgebaut wird. Der Stadtrat beschließt die Erweiterung für rund 5,7 Millionen Euro mit großer Mehrheit. Ein Kernpunkt des dezentralen Konzeptes von 2012, das bundesweit als vorbildlich gilt, wird damit ins Gegenteil verkehrt. Mit 520 Plätzen wird die Torgauer zur größten kommunalen Gemeinschaftsunterkunft in Sachsen. »Wie im Gefängnis« Wenn Ashraf Jabal aus dem Fenster blickt, sieht er irgendwo in der Ferne den Uni-Riesen. Seit sechs Monaten lebt er in der Unterkunft am Stadtrand; von den Diskussionen, die im Rathaus ausgefochten werden, bekommt er nichts mit. Die Stadtverwaltung sagt, es sei sinnvoll, dass Geflüchtete zunächst in großen Gemeinschaftsunterkünften leben, die Rückzugsorte sein sollen. Dort sei die soziale Betreuung besser, man fühle sich geborgener und treffe auf Menschen in ähnlichen Lebenslagen. Auf diese Art von Geborgenheit könnte Ashraf Jabal allerdings gut verzichten. »Als wir ankamen und den Stacheldraht sahen, fühlten wir uns wie im Gefängnis«, erzählt er und fügt hinzu: »Drinnen ist es noch viel schlimmer.« torgauer3Zwei Zimmer teilt er sich mit drei Mitbewohnern. Die Ausstattung ist spartanisch: Spinde, ein Tisch und Betten mit Metallnetzen statt Lattenrosten, die sich unter dem Gewicht eines Menschen biegen, bis sie den rissigen Linoleum-Boden berühren. Die Syrer haben sich die Matratze zum Schlafen auf den Fußboden gelegt – das macht weniger Rückenschmerzen. Die Wände haben sie selbst dekoriert, mit Fotos und gelben Post-Its, auf denen deutsche Vokabeln stehen. »Das hier ist keine gute Atmosphäre, um die Sprache zu lernen«, sagt Jabal. Gerade weil immer klar war, dass die Unterkunft eigentlich geschlossen werden soll, wurde hier nie wirklich renoviert. Die Syrer haben deshalb einen offenen Brief an den Oberbürgermeister verfasst: »Bitte, töten Sie nicht unsere Hoffnungen. Versuchen Sie, Wohnungen für uns innerhalb Leipzigs oder nicht weit davon entfernt zu finden. Versuchen Sie eine Lösung zu finden, die nicht bedeutet, hier ein neues Gebäude zu bauen. Wir wollen Deutsch lernen, arbeiten und aus diesem Gefängnis raus.« Daraufhin hätten sich Rathausmitarbeiter bei ihnen umgeschaut. Eine Antwort vom OB kam nie. Fragt man in der Verwaltung nach, warum die Massenunterkunft weiter betrieben wird, obwohl die dem eigenen Konzept zuwiderläuft, verweisen die Mitarbeiter darauf, dass heute viel mehr Geflüchtete in Leipzig ankommen: »Die Zuweisungszahlen haben sich seit 2011 verzehnfacht. Dass sie in dieser Form steigen, war 2012 für niemanden absehbar«, erklärt Martina Kador-Probst, die als Sozialamtsleiterin zuständig für die Unterbringung von Asylsuchenden ist. Bereits 2013 musste das Dezentralisierungskonzept nachgebessert werden. Das Sozialamt räumte erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung ein. Die Verwaltung kam mit der Suche geeigneter Häuser nicht voran, der Schließtermin der Torgauer Straße wurde verlängert. 2014 kamen 1.232 Geflüchtete in Leipzig an. Das überstieg die vorhandenen Unterbringungskapazitäten; die Stadt brauchte jeden Platz, richtete Notunterkünfte ein und mietete im Dezember kurzfristig Pensionen an. In dieser Situation ist an die Schließung der Torgauer Straße längst nicht mehr zu denken. Der Ausbau der Unterkunft, so scheint es, entspringt einer politischen Notwendigkeit; die Stadt kann nur noch reagieren. »Leipzig hat immer noch einen großen Leerstand« Allerdings sind die wachsenden Zuweisungszahlen nicht neu: Sie steigen seit 2009. Der Kultursoziologe Philipp Schäfer forscht zur Flüchtlingsunterbringung. Er hält das Argument der Stadt für vorgeschoben. »Da ist eine Entwicklung verschlafen worden. Man muss sich jetzt nicht beschweren, dass man vor der Situation steht, dass viele Flüchtlinge kommen.« Spätestens 2013 hätte die Stadt realisieren müssen, dass die Flüchtlingszahlen nicht mehr unter 1.000 fallen, kritisiert Juliane Nagel, Stadträtin für die Linke. »Dass man da Kapazitäten schaffen muss, liegt auf der Hand. Wenn man frühzeitig die Zahlen des Wohnungsmarktes und die Asylzahlen auf dem Schirm gehabt hätte, hätte man Alternativen finden und Wohnungen sichern können.« Dass die Stadt keine kleineren Unterkünfte findet, kann der Initiativkreis Menschen.Würdig (IKMW) nicht glauben. »Leipzig hat immer noch einen großen Leerstand«, sagt Daniel vom IKMW. torgauer2Weil die Beteiligten des Initiativkreises Zweifel an der Alternativlosigkeit der Torgauer Straße hatten, haben sie sich eigenständig auf die Suche nach weiteren Optionen gemacht. Das Ergebnis: Hausprojekte und WGs meldeten Interesse an, Geflüchtete aufzunehmen. Ein Zusammenschluss von Wohnungsgenossenschaften äußerte in einem Brief an den IKMW ausdrücklich die Bereitschaft, Asylsuchende unterzubringen und kritisierte die fehlende Gesprächsbereitschaft der Stadt. Letzte Gespräche mit Sozialamtsleiterin Kador-Probst lägen über ein Jahr zurück. Sozialdezernent Thomas Fabian ist von diesem Brief irritiert: »Das Gespräch wurde nicht von unserer Seite abgebrochen.« Nach seiner Kenntnis sei es andersherum: Martina Kador-Probst sei kurzfristig von einem Gesprächstermin ausgeladen worden. Wer auch immer nicht mit wem gesprochen hat, beim Thema Asylunterbringung gibt es in Leipzig offensichtlich eine Reihe von Kommunikationsproblemen. Der Freistaat Sachsen richtet in Dölitz eine Erstaufnahmeeinrichtung ein, ohne das mit der Stadt abzustimmen. Das Liegenschaftsamt der Stadt verkaufte dieses Gebäude noch im Sommer 2014, ohne das eigene Sozialamt zu fragen, das derweil händeringend nach Einrichtungen suchte. Sowieso sei die Unterbringung eigentlich Aufgabe der gesamten Kommune, kritisiert Sonja Brogiato vom Flüchtlingsrat: »Man könnte in der Realisierung geeigneter kleinerer Objekte schon weiter sein, wenn etwa das Liegenschaftsamt in die Gänge käme.« Wie findet der Sozialbürgermeister die Kommunikation zwischen den Ämtern? Thomas Fabian legt den Kopf in die Hände und legt eine vielsagende Sprechpause ein. »Wir sind dabei, die Kommunikation zu verbessern«, seufzt er schließlich. Apropos Kommunikation: Niemand hat Ashraf Jabal und seinen Mitbewohnern gesagt, dass es beim Flüchtlingsrat auch Dolmetscher gibt – sie scheitern regelmäßig bei Amtsbesuchen. Kollision zwischen Anspruch und Realität städtischer Asylpolitik Bereits im Jahr 2009 hatte Martina Kador-Probst eine Sanierung der Torgauer vorgeschlagen. Dann beschloss der Stadtrat 2012 das Gegenkonzept und die Schließung der Einrichtung. Doch noch im selben Jahr war Kador-Probst klar: Die Massenunterkunft wird wohl bleiben müssen. Der Stadtrat hatte also ein Konzept beschlossen, das das eigene Sozialamt schon 2012 für unrealistisch hielt. Thomas Fabian begründet das damit, dass das Konzept, das durch den Stadtrat ging, eineinhalb Jahre vor dem Beschluss erarbeitet wurde – auf der Basis alter Zahlen. Das heißt dann wohl: Die Leipziger Verwaltungsabläufe können offenbar nicht auf stark schwankende Flüchtlingszahlen reagieren. Heute bekennt Thomas Fabian: »Wir hätten die Torgauer Straße früher sanieren müssen.« Die Erneuerung wird aber frühestens in eineinhalb Jahren abgeschlossen sein, solange müssen die Menschen dort weiter hausen. In Zukunft werden noch mehr Geflüchtete am Rande der Stadt zwischen Amazon-Lagerhaus und Bahnschienen versuchen müssen, in Leipzig anzukommen. Und die Adresse in der Torgauer Straße, sie wird zum Symbol der Kollision zwischen Anspruch und Realität städtischer Asylpolitik. Ashraf Jabal betrifft es nicht mehr, er kann im April umziehen, in seine eigene Wohnung. Den Ausblick von seinem Fenster auf den weit entfernten Uni-Riesen wird jemand anderes haben. Das Heim bleibt, vorerst auf unbestimmte Zeit.

Kommentieren


0 Kommentar(e)