Wieso gibt es so viele Genossenschaften in Deutschland und wieso weiß das kaum jemand? Die Idee der Genossenschaft wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Delitzsch begründet. Sie ist heute, gemessen an Eigentümern, die bedeutendste Unternehmensform in Deutschland. Und wird vielleicht bald Weltkulturerbe. Enrico Hochmuth, der bei den Industriekulturtagen die Vortragsreihe »Kooperatives Wirtschaften: Genossenschaftskultur in Sachsen« organisiert hat, erklärt ihre Vorteile.
kreuzer: Die Genossenschaftsidee steht auf der Kandidatenliste als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe. Welchen Effekt erhoffen Sie sich davon?
ENRICO HOCHMUTH: Mit unserer Bewerbung versuchen wir einen Beitrag zur Vermittlung der Idee zu leisten. Das Genossenschaftsprinzip ist in Wirtschaftskunde, Ethikunterricht oder in BWL- oder VWL-Seminaren wenig präsent. Meines Erachtens ist das ein haarsträubender Widerspruch zur tatsächlichen Relevanz dieser in Deutschland mitgliederstärksten und insolvenzschwächsten Unternehmensform
kreuzer: Worin liegen denn die Vorteile der Genossenschaften als Unternehmensform?
HOCHMUTH: Die Vorteile liegen zum einen in der Partizipation, weil die Mitglieder auch die Mitinhaber sind und somit auch eine Gestaltungsmöglichkeit ihrer Genossenschaft haben. Es gilt das Prinzip »Member-Value statt Shareholder-Value«, also pro Kopf eine Stimme, egal wie viele Anteile ich besitze. Ein anderer ganz wichtiger Vorteil ist, dass genossenschaftliche Unternehmen in der Region verankert sind. Wir haben es sonst oft mit globalen Unternehmen zu tun, die je nach Lust und Laune oder wirtschaftlicher Befindlichkeit ihre Wirtschaftsstandorte wechseln. Bei einer Genossenschaft macht das wenig Sinn.
kreuzer: Stichwort Region: In Ihrem Vortrag am Freitag geht es um den Beitrag Sachsens zur Genossenschaftsidee. Welche Rolle spielte das Land bei ihrer Entstehung?
HOCHMUTH: Eine sehr große. Aus Delitzsch stammen durch Hermann Schulze-Delitzsch wesentliche Impulse zur Ausformung dieser Idee. Er hat auch das Genossenschaftsgesetz formuliert, das im Wesentlichen auch heute noch die Handlungsgrundlage darstellt. Von diesem historischen Ort abgesehen: Sachsen wurde in überaus großem Maße durch Wohnungsgenossenschaften geformt, die große Wohnanlagen oder Gartenstädte in Hellerau und Chemnitz errichteten. Doch auch später hatten Genossenschaften Einfluss, etwa die Konsumgenossenschaften durch ihre Wirtschafts- und Industriebauten wie der Leipziger Konsumzentrale.
kreuzer: Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert haben wir in Deutschland einen sehr ausgeprägten Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Macht der die Idee der Genossenschaften nicht überflüssig?
HOCHMUTH: Im Gegenteil. In den letzten zehn, 15 Jahren erleben wir, wie sehr sich, auch bedingt durch Globalisierung und finanzielle Zwänge, Staat und Kommune aus immer mehr Bereichen zurückziehen. Die Unternehmensform der Genossenschaft bietet hier die Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, um sich Instrumenten wie der Daseinsvorsorge weiterhin zu versichern. Ob das jetzt ein eigener Energieversorger ist, eine Energiegenossenschaft, genossenschaftlich betriebene Kindergärten oder Sportstätten, oder gar Sozialarbeit in Form von Stadtteilgenossenschaften. All das sind Möglichkeiten, mit denen der Bürger selber jene Versorgungslücken ausfüllen kann.
kreuzer: Warum ist das Prinzip der Genossenschaften – trotz der von ihnen aufgeführten sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung – so wenig präsent in den Köpfen der Menschen und wie lässt sich die Idee besser befördern?
HOCHMUTH: Genau das ist der springende Punkt: Warum ist diese Idee in der Gesellschaft so wenig präsent trotz der Mitgliederstärke und über 8.000 Genossenschaften in Deutschland? Das ist erstaunlich und liegt an dem Defizit in der Vermittlungsarbeit. Hier sind einerseits die Genossenschaften selbst in der Verantwortung und nehmen die in den letzten Jahren nach meinem Eindruck auch viel stärker wahr. Aber auch andere gesellschaftliche Institutionen sind gefragt. Das fängt bei politischen Institutionen an und hört bei Bildungseinrichtungen auf, die auch auf solche Unternehmungsformen hinweisen müssten.
kreuzer: Ist das in den letzten Jahren immer populärer gewordene Crowdfunding eigentlich eine Fortentwicklung der Idee von Genossenschaften, beziehungsweise: Was unterscheidet es davon?
HOCHMUTH: Wir sprechen auch dort von einer Sharing-Ökonomie. Die Menschen erkennen zunehmend, welche Vorteile es mit sich bringt, in vielfacher Hinsicht zu kooperieren. Neben der Zweckdienlichkeit auch soziale oder kulturelle Belange unter einen Hut zu bringen und das Ganze als Unternehmensform zu etablieren, das ist jedoch nur mit der Genossenschaft möglich.