Seit 15 Jahren ist die Filmkunstmesse der Gradmesser für den Kinoherbst. Vor und neben den Leinwänden werden die Weichen gestellt für einen Publikumserfolg. Tagsüber servieren die Verleiher den Kinobetreibern ihr Menü und beratschlagen mit ihnen über Garnierung und Beilagen, abends werden dem kinohungrigen Publikum dann die kommenden Filmstarts aufgetischt, Monate bevor sie den Kinogängern bundesweit zum Fraß vorgeworfen werden. Darüber hinaus macht sich die Branche aber auch selbstreflexive Gedanken über ihre Zukunft. In diesem Jahr geht man zum Beispiel in einer Podiumsdiskussion der Frage nach, welche Rolle das Kino überhaupt noch spielt. Werden die Filme wirklich für das Kino gemacht, wie es der markante Werbespruch skandiert, oder ist der Markt längst woanders?
Das Leipziger Publikum sieht das vielleicht nicht ganz so kritisch und freut sich auf die zahlreichen Previews, die die Messe zu bieten hat. Da muss sich der Jahrgang 15/16 wahrlich nicht verstecken, selbst wenn Lieblinge wie Ozon und Dolan diesmal fehlen und der neue Woody Allen (»Irrational Man«) durch Abwesenheit glänzt. Zu sehen sind vornehmlich die Highlights der drei großen Filmfestivals, darunter die Berlinale-Hits »Mr. Holmes« mit einem wundervollen Ian McKellen als gealterter Meisterdetektiv, »Eisenstein in Guanajuato«, der neue Geniestreich von Peter Greenaway, sowie die charmant-schräge Liebesgeschichte »Virgin Mountain« aus Island. Frisch aus Cannes kommen »Ewige Jugend« vom Europäischen Filmpreis-Gewinner Paolo Sorrentino mit Harvey Keitel und Sir Michael Caine. Den radikalen Cannes-Erfolg »The Tribe« konnten hartgesottene Leipziger ja bereits beim Gegenkino-Festival bewundern. Zwischenzeitlich hat er einen Verleih und wird auf der Filmkunstmesse im Midnight Screening zu erleben sein.
Eine angenehme Überraschung ist die große Zahl asiatischer Produktionen: »Umrika« von Prashant Nair erzählt von einem indischen Auswanderer in den USA, mit »Kirschblüten und rote Bohnen« kommt gleich der nächste Film von Naomi Kawase (»Still the Water«) in die Kinos, und mit »Miss Hokusai« von Keiichi Hara (»Summer Days with Coo«) ist sogar mal ein Anime dabei.
Das lokale Highlight dürfte die Premiere von »Herbert« sein. Das Boxerdrama von Thomas Stuber ist das Langfilmdebüt des Leipziger Oscargewinners (»Von Hunden und Pferden«) und entstand im letzten Jahr im Westen der Stadt (s. kreuzer 08/2014). Im Herbst soll er in die Kinos kommen. Im September gibt es erst mal die Vorabpremiere auf der Filmkunstmesse. Wenn »Herbert« im Herbst in die Kinos kommt, wird es aber noch eine feierliche Premiere in den Passage Kinos geben.
Film der Woche: Kate und Geoff Mercer sind seit bald 45 Jahren miteinander verheiratet und leben in harmonischem Selbstverständnis miteinander. Die Feierlichkeiten zu ihrem Hochzeitstag stehen an, und auch wenn keiner der beiden Lust darauf hat, lassen sie die Vorbereitungen über sich ergehen. Kate ist aufgeschlossen und fürsorglich und erträgt ihren manchmal verschwiegenen und schrulligen Mann. Zwischen ihnen glimmt nach all den Jahren immer noch ein Funken Liebe. Doch ein Brief für Geoff ändert alles. Der Leichnam seiner ersten Liebe wurde gefunden, dort, wo sich ihre Wege damals durch ein Unglück trennten. Gefroren im Eis eines Gletschers in den Schweizer Alpen blieb er bis heute unversehrt. Geoff soll ihn identifizieren. Erinnerungen und Gefühle, die mit dem Körper unter den Schichten der Jahre vergraben waren, tauen auf und damit auch unausgesprochene Geheimnisse. Die Feier steht bevor, aber gibt es am Ende überhaupt noch eine Ehe, die zu feiern wäre? Andrew Haigh erzählt zurückhaltend und eindringlich von enttäuschten Vorstellungen und Wunden, die nie verheilen. Seine großartigen Hauptdarsteller verleihen ihrer nuancierten Darstellung mit kleinen Gesten Ausdruck. Dem realistisch geschilderten Drama nimmt der Mut zum Minimalismus indes nichts von seiner Schlagkraft. »45 Years« trifft tief und die Fragen, die er stellt, wirken lange nach. Ausführliche Kritik im aktuellen kreuzer.
»45 Years«: ab 10.9., Passage Kinos (auch OmU)
kreuzer verlost Freikarten. eMail an film@kreuzer-leipzig.de (Betreff: Szenen einer Ehe)
Mal ehrlich, Terrence Malick dreht doch eigentlich seit Jahren immer wieder den selben Film. Ob es nun „The New World“, „Tree of Life“ oder zuletzt „To The Wonder“ ist, ob Dschungel, Texas oder Oklahoma – die Suche nach dem Sinn des Lebens treibt seine Figuren und wohl auch ihn voran. Sein kreativer Frühling mit für seine Verhältnisse phänomenalen drei Filmen in vier Jahren ist wohl auch damit zu begründen, dass er im Grunde immer wieder die gleiche Geschichte erzählt.
Nun findet er in Hollywood den perfekten Hintergrund für seine Sinnsuche und lässt Christian Bale als Drehbuchautor Rick orientierungslos durch ein Meer aus Glamour und Partys driften, eine leere Welt aus Worthülsen und schönem Schein. Wie bei Malick gewohnt, bekommen wir dabei selten eine gerade Szene mit geradlinigen Dialogen serviert. Reflexionen in gehauchten Off-Monologen sind auch hier allgegenwärtig. Das kann einen zum Wahnsinn treiben und nicht Wenige werden Malicks Filme als prätentiöse Kunstkacke abtun.
Aber wie auch hier wieder die Kamera von Emmanuel Lubezki champagnertrunken durch die Szenerie gleitet, der betörende Score von Arvo Pärt, Claude Debussy, Biosphere und Burial immer wieder den Saal einnimmt und der audio-visuelle Rausch all jene mitreißt, die es zulassen – ist einzigartig. Mal sehen, wohin die Reise als nächstes geht.
»Knight of Cups«: ab 10.9., Passage Kinos
Der aus dem Dienst unehrenhaft entlassene Cop Akikazu Fujima wird von seiner verzweifelten Ex-Frau angerufen, da die gemeinsame Tochter Kanako verschwunden sei. Akikazu beginnt zu recherchieren und muss das wahre Ich der Tochter kennen lernen, die dann doch nicht die nette Schülerin war, für die er sie immer gehalten hat. und daran ist er, der saufende und gewalttätige Vater nicht gerade unschuldig. Atmosphärisch düsterer Cop-Thriller von Tetsuya Nakashima (»Geständnisse – Confessions«).
»The World of Kanako«: 10./11.9., Kinobar Prager Frühling
Am Anfang war das Meer: 1971 machte sich eine kleine Gruppe junger Aktivisten aus dem kanadischen Vancouver auf den beschwerlichen Weg, den Test einer US-Wasserstoffbombe auf der Insel Amchitka im Nordpazifik zu verhindern. Zusammengefunden hatten sie im Rahmen der Hippie-Proteste gegen Krieg, Ausbeutung, Umweltzerstörung oder einfach bloß Autoritäten. Ihr Kampf scheiterte – aber nur auf den ersten Blick. Denn das Schiff, das sie mitsamt des Kapitäns mieteten, wurde noch während der Fahrt in »Greenpeace« umbenannt und mit dem Namen wurde eine Idee gepflanzt, die Früchte tragen sollte. Regisseur Jerry Rothwell beleuchtet in seiner fast zweistündigen Doku die Anfänge der größten Umweltschutzstiftung der Welt und lässt dabei wichtige Mitbegründer wie den kämpferischen Paul Watson, den sympathischen Rex Weyler, den skurrilen David Garrick oder den kontroversen Patrick Moore zu Wort kommen. Der vielschichtige Stoff der sehenswerten Doku würde auch einem packenden Spielfilmdrama oder einer spannenden Serie gut zu Gesicht stehen. Ausführliche Kritik von Peter Hoch im aktuellen kreuzer.
»How to Change the World«: ab 10.9., Passage Kinos
kreuzer verlost Freikarten. eMail an film@kreuzer-leipzig.de (Betreff: Greenpeace)
Aleksei Germans monumentale Umsetzung des 1964 erschienenen SF-Roman der Brüder Strugazki ist so weit draußen, dass er sich zur eigenen Kunstform erhebt. Der Kritikerkollege von Variety hat es sehr schön auf den Punkt gebracht: »Als hätte ein Zeitreisender Brueghel und Bosch eine Kamera in die Hand gedrückt.« Allerdings mit einem Schwarz-Weiß Filmband von 177 Minuten Länge. Wer sich durch die wirre Welt aus Blut, Rotz und Exkrementen kämpft, ist am Ende ein anderer.
»Es ist schwer, ein Gott zu sein«: ab 10.9., Schaubühne Lindenfels
Die Flimmerzeit im August
mit FRANK, DATING QUEEN, SOUTHPAW und ein DVD-Tipp zum Gewinnen
Weitere Filmtermine der Woche
Being Bruno Banani
Die Leipziger Filmemacher Jörg Junge und Susann Wentzlaff erzählen die einmalige Geschichte des ersten und einzigen Tongaers (Bewohner des Königreichs Tonga in der Südsee), der es innerhalb kürzester Zeit in einer der gefährlichsten Sportarten zu den Olympischen Winterspielen 2014 nach Sotschi schafft und zugleich mit seinem Namen als erste »lebendig gewordene« Marke die Werbevorschriften des IOC auf eine ganz neue und äußerst subtile Art umgeht.
10.9., 17.30 Uhr (in Anwesenheit des Filmemachers Jörg Junge), 13., 15. 9., 17.30 Uhr, CineStar
Laska Shora
Ein experimentell poetischer Film, meditierend auf Bewegungen zwischen Orten und Kommunikation zwischen Menschen. Gleichzeitig ist er ein Portrait von zwei Menschen und der Welt um sie herum, aufgefasst in unerwarteten Situationen. Filmabend im Rahmen der Parkbogen Tage.
11.9., 20 Uhr, Lene-Voigt-Park
Schauspieler, Stars und Superstars: Das Lächeln von Romain Duris
Es ist schon markant, »Das Lächeln von Romain Duris«. Claudia Cornelius widmet ihm heute ihre Aufmerksamkeit und serviert einen Vortrag mit Überraschungsfilm zum charismatischen Franzosen.
11.9., 20.15 Uhr, Memento
Une vie de lutte – Der Kampf geht weiter
Der Mord an Clément Méric, das Erstarken rechter Kräfte in Frankreich und aktuelle antifaschistische Kämpfe in Paris. Eröffnung des Gedenkkongress – Filmvorführung und anschließendes Gespräch mit den Produzenten mit North East Antifascists und Unterstützern.
11.9., 19 Uhr, UT Connewitz
Indie Kinoreihe: Vielleicht lieber morgen (The Perks of Being a Wallflower)
Nach einer traumatischen Erfahrung geht Charlie in sein erstes Highschool-Jahr. Der introvertierte Teenager bleibt zunächst isoliert, findet aber in dem Geschwisterpaar Patrick und Sam echte Freunde. Als Charlie sich verliebt, bringt das die Clique durcheinander. Auch ahnt niemand, wie kompliziert Charlies Leben wirklich ist und welches Geheimnis er verbirgt. Auftakt der Reihe Indie Spirit.
11.9., 18 Uhr, Schaubühne Lindenfels (OmU)
Willkommen auf Deutsch
Die aktuelle Asylpolitik am Beispiel eines Flüchtlingsheims in einem norddeutschen Dorf. Filmabend und Diskussion.
11.9., 20 Uhr, Weltladen Connewitz
Radwanderkino trifft Parkbogen Ost
Gemeinsam Radfahren, Musik hören und Kurzfilme anschauen entlang stillgelegter Bahntrassen und quer durch den Leipziger Osten
12.9., 20 Uhr, Grassi-Museum
Die pinke Entrückung
Der junge Mann verlässt sein Zuhause und marschiert ins Ungewisse, auf den Spuren eines entrückten Mythos. Er begibt sich auf eine Reise, die ihn mit den Dämonen seiner Vergangenheit konfrontieren wird. Der Film Die Pinke Entrückung erzählt nicht nur von der Pilgerreise des Jean- Luic Lacampagnes sondern auch von den Irren und Wirren des Künstlerdaseins. So unterhält der Film mit malerischen Bildern, einem opulenten Soundtrack und groteskem Humor und stellt die großen Fragen an die Funktionsweise moderner Kunst: Die Eitelkeit des Malerfürsten trifft auf dadaistische Selbstdekonstruktion. In Anwesenheit des Regisseurs, Eintritt frei.
13.9., 18 Uhr, LURU-Kino in der Spinnerei
Das Kaninchen bin ich
Vom DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe »Roter Kreis«, verfilmte Literaturadaption des Regisseurs Kurt Maetzig, die auf Manfred Bielers Roman »Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich« basiert. Der Film war bis 1990 in der DDR verboten, da er sich kritisch mit dem Sozialismus - insbesondere mit der Strafjustiz - auseinandersetzte. Vorfilm: Hummelflug (DDR 1965) Auftakt der Filmreihe »Dekadent, Jugendgefährdend, Staatsfeindlich« DEFA-Verbotsfilme 1965/66.
14.9., 20 Uhr, UT Connewitz
Mit 90 die Welt retten
Shirley und Hinda sind 90 Jahre jung. Ihr Aussehen mag ihr Alter verraten, aber ihr Geist funktioniert noch scharfsinnig. Eine simple Beobachtung beim Einkaufen löst die ganze Geschichte aus: Wie kann es sein, dass angesichts leerer Kassen und der Wirtschaftskrise alle Welt konsumiert, als wäre nichts geschehen? Wer blickt da durch, wer kann verständlich erklären, was in der Wirtschaft schief läuft, dass zwei alte Ladys es begreifen?
15.9., 17 Uhr, Frauenkultur
Seht mich verschwinden
Porträt der magersüchtigen Schauspielerin Isabelle Caro, die als Model für die umstrittene Kampagne »No Anorexia« weltberühmt wurde und an der medialen Aufmerksamkeit für ihren Körper zerbrach. Der Blick der amerikanischen Regisseurin Kiki Allgeier, die Caro jahrelang begleitete, ist dabei nie voyeuristisch, sondern von Mitgefühl geprägt. Anschließend Gespräch mit einem Experten für Essstörungen.
15.9., 19 Uhr, Cinémathèque in der naTo
Der Richter – Recht oder Ehre
Starkes Vater-Sohn-Konfliktdrama vor Gericht mit zwei überragenden Hauptdarstellern.
17.9., 20 Uhr, Moritzbastei
Verdrängung hat viele Gesichter
Das Problem der Gentrifizierung am Beispiel Berlin. Anschließend Diskussion mit Samira Fansa (Mietrechtsaktivistin und Filmemacherin) und dem Stadtsoziologen Andrej Holm (Forschungsschwerpunkt: Gentrification) – globaLE
17.9., 20 Uhr, UT Connewitz