In »Libertalia« beschreibt Daniel Defoe eine radikaldemokratische Piratenkommune. Auf so was kann nur ein Romancier kommen? Nein, meint Helge Meves, der die deutsche Erstausgabe herausgegeben und mit realen Piratensatzungen angereichert hat.
kreuzer: »Yo-ho-ho, and a bottle of rum!«: Wie verlockend war das Piratenleben um 1700?
HELGE MEVES: Das Leben auf See war schon immer sehr gefährlich und als Pirat ging es dazu ums eigene Leben. Für Sklaven allerdings, für Religionsflüchtlinge, für Bauern, deren Land, Wald oder Wiesen privatisiert oder Seeleute, die zum Dienst gepresst wurden, war die Flucht auf See eine Alternative. Dazu kamen dann die, die einfach schnell reich werden wollten – und daran teilhaben, wie sich das spanische und portugiesische Königshaus in Lateinamerika oder die niederländischen und englischen Handelskompanien in aller Welt bereicherten.
kreuzer: Wie viel Wahrheit steckt in »Libertalia«?
[caption id="attachment_41984" align="alignleft" width="270"] Helge Meves, Foto: privat[/caption]
MEVES: Wir haben nur eine Beschreibung dieser Piratenrepublik. Allerdings haben wir auch keinerlei Notizen aus der Zeit vorliegen, in denen die Existenz bestritten oder deren Möglichkeit ins Reich der Fantasie verbannt wurde. Wahrscheinlich hielten die damaligen Leser die Geschichte für glaubwürdig oder es wurden in der mündlichen Überlieferung Geschichten ähnlicher Gesellschaften überliefert, die es vielerorts gab und die »Libertalia« wahrscheinlich erscheinen ließen.
kreuzer: Wie regelten die Libertalier ihr Zusammenleben?
MEVES: Zunächst mal konnten sie an die radikaldemokratischen Piratensatzungen anknüpfen. Damit waren alle Mannschaftsmitglieder gleichgestellt, konnten den Kapitän wählen und wieder abwählen. Dazu enthielten sie die ersten Formen von Berufsunfähigkeits-, Kranken- und Rentenversicherung – die Piraten hatten die grundlegenden Lebensrisiken kollektiv abgesichert und die gemeinschaftlich genutzten Güter waren Gemeineigentum. In der Piratenrepublik setzte man noch einen drauf: Frauen waren gleichberechtigt, ethische und religiöse Traditionen spielten keine Rolle, die gemeinsame Verfassung legte auch ein Rotationsprinzip fest. Sie wollten nicht nur auf einem Schiff so leben, sondern an Land, für die Zukunft und immer offen für andere Flüchtlinge.
kreuzer: Warum ist das Werk nur Randnotiz in der Ideengeschichte der Utopien geblieben?
MEVES: Die Geschichte ist in der ungemein populären »Allgemeinen Geschichte der Piraten« von Daniel Defoe erschienen, die bis heute unser Bild etwa von den Piraten Blackbeard, Edward England oder John Flint bestimmt. Sie wurde aber erst in die zweite, erweiterte Auflage 1728 aufgenommen und dadurch bei späteren Ausgaben nicht immer berücksichtigt. Hierzulande kommt hinzu, dass Piraten in aller Regel als abenteuerliche Seeräuber, seltener als Sozialrebellen verstanden werden. Und schon gar nicht als Radikaldemokraten, was der interessanteste Aspekt für mich ist.
kreuzer: Was können wir aus der Lektüre lernen?
MEVES: Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand, wollen frei und gleich zusammenleben, überfallen deshalb Sklavenschiffe, um Sklaven zu befreien, und werden zu Radikaldemokraten. Damit stellen sie die Fragen, die die Menschen bis heute faszinieren – sofern sie nicht von der Unterdrückung anderer leben und diesen Status verteidigen.