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Filmkritik

Kino steht Kopf

Im dritten Jahr in Folge feiert das GEGENkino risikoreiche Sehweisen des Films

  Kino steht Kopf | Im dritten Jahr in Folge feiert das GEGENkino risikoreiche Sehweisen des Films

Filme passieren heute immer weniger im Kino. Mit geringem finanziellen Aufwand lässt sich inzwischen jedes Wohnzimmer in eine anständige Audio-Video-HiFi-Oase umwandeln. Netflix und Co. bieten unzählbare Filme im Stream, die man dank mobiler Technologie auch auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem stillen Örtchen verfügbar hat. Unsere Sucht nach dem bewegten Bild scheint durch solche Formen eher genährt als gestillt zu werden. Und doch geht in dieser Ausdifferenzierung der Filmrezeption ein gutes Stück der klassischen Kinoerfahrung verloren. Im dritten Jahrgang des Leipziger GEGENkinos soll deshalb das »Potenzial des Raums Kino« erkundet werden, sagt Inga Brantin, Mitorganisatorin des Festivals.

Um ein solches Ziel nicht als leere Behauptung stehen zu lassen, haben die Festivalmacher diesmal ein besonders reizvolles Event geplant, das unser Verständnis vom Kino von einer seiner scheinbaren Grundgegebenheiten her attackiert: dem horizontalen Format seiner Projektion. Das niederländische Kunstprojekt »Vertical Cinema« wird in einer Deutschlandpremiere in der Paul-Gerhardt-Kirche eine im Kirchenschiff aufgespannte Leinwand mit einem auf die Seite gekippten 35mm-Projektor bestrahlen und auf diesem extremen Hochformat experimentelle Kurzfilme zur Schau stellen. Die Kirche in Connewitz wird so zum wahrhaft experimentellen Raum zwischen Kunst und Kino, eine »Herausforderung für alle Sinne«, wie Mitorganisator Amos Borchert verspricht. In einem Schwerpunkt geht es dieses Jahr um das afrikanische Kino, dessen »Exotenstatus«, wie Brantin bemerkt, allerdings in Frage zu stellen sei. Die Auswahl afrikanischer Filme und Kurzfilme soll dagegen zeigen, dass dort spannendes, hoch gegenwärtiges und kritisches Kino gemacht wird, z. B. das südafrikanische Generationenporträt »Necktie Youth« oder »Crumbs«, ein surrealistischer Thriller aus Äthiopien. Gezeigt wird auch der kürzlich oscarprämierte »Son of Saul«, dessen filmästhetisch radikaler Umgang mit dem Holocaust in einem Vortrag von Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger erläutert und zur Diskussion gestellt werden wird. Dass die »Kino-Raum-Situation« der Gegenwart bei allem nötigen Aktivismus für etablierte Formen wie das 35mm-Format keine Grabenkämpfe gegen moderne Technologien führen muss, wird die Leipziger Premiere von »Tangerine« zeigen, dem ersten abendfüllenden Spielfilm, der komplett auf einem iPhone gedreht wurde. JOHANNNES SCHADE

GEGENkino, 21.4.–1.5., UT Connewitz, Schaubühne Lindenfels, Luru-Kino in der Spinnerei, Grassi, Paul-Gerhardt-Kirche, IfZ Vorverkauf ab 7.4. im Buchladen neben dem UT Connewitz, Filmgalerie Westend sowie in allen teilnehmenden Kinos www.gegenkino.de

Film der Woche: In kraftvollen Schwarz-Weiß-Bildern zeichnet der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra den beschwerlichen Weg zweier Wissenschaftler zur Yakruna-Pflanze, die ihr Seelenheil bringen soll, zu Beginn des 20. Jahrhunderts anhand ihrer Aufzeichnungen nach. Parallel erzählt er die beiden Reisen und spiegelt sie immer wieder in den Begegnungen auf ihrem Weg. Dazwischen paart sich die Ruhe auf dem mächtigen Fluss mit der Geräuschkulisse des Dschungels und nimmt uns für zwei Stunden mit auf einen einzigartigen Trip. Doch es ist auch eine Reise ins Herz der Finsternis: Wie in den Aufzeichnungen von Joseph Conrad, die Francis Ford Coppola zu »Apocalypse Now« inspirierten, stoßen die Reisenden auch in Guerras Film auf die hässliche Fratze des Kolonialismus. Ganz so wie Coppolas Meisterwerk besitzt auch »Der Schamane und die Schlange« eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Dafür gab es in diesem Jahr eine Oscarnominierung. Ausführliche Kritik im aktuellen kreuzer.

»Der Schamane und die Schlange«: ab 21.4., Passage Kinos

Als Erik (Ulrich Thomsen) und Anna (Trine Dyrholm) in den Siebzigern beschließen, die geräumige Villa, die Erik von seine Eltern geerbt hat, gemeinsam mit Gleichgesinnten zu bewohnen, ist es vielmehr der Wunsch nach einem Miteinander, der sie antreibt. Allzu routiniert ist der Umgang zwischen ihnen geworden, nach 15 Jahren Ehe. Die Tochter steht auch schon auf eigenen Beinen und besonders die erfolgreiche TV-Moderatorin Anna träumt davon, mit Gleichgesinnten zu wohnen und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch dieser Traum wird zur Bewährungsprobe für ihre Beziehung und vor allem für Anna zu einem persönlichen Albtraum. Thomas Vinterberg, der selbst in einer Kommune aufwuchs, wirft einen liebevollen Blick zurück. Sein Film ist eher Beziehungsstudie als eine Sezierung des alternativen Lebensstils. Er erzählt seine Geschichte eingebettet in eine Zeit des Umbruchs, als der Mut da war, neue gesellschaftliche Formen auszuprobieren. Sein Film handelt aber auch davon, dass nichts von Dauer ist. Wenn die Gemeinschaft am Ende durch Höhen und Tiefen gegangen ist, wird nichts mehr sein, wie es am Anfang war – aber sie haben immer noch einander. Ein kluger, menschlicher Film ist das, den Vinterberg gemeinsam mit Tobias Lindholm schrieb, mit dem er bereits den oscarnominierten »Die Jagd« konzipierte. Mit seiner Regiearbeit »A War«, der in diesem Monat ebenfalls startet, war Lindholm nun selbst in Los Angeles geladen. Für ihre überragende Darstellung der Anna erhielt Trine Dyrholm derweil den Silbernen Bären als beste Darstellerin auf der diesjährigen Berlinale. Interview mit Regisseur Thomas Vinterberg im aktuellen kreuzer.

»Die Kommune«: ab 21.4., Passage Kinos

Am Anfang streicheln sie sich noch liebevoll ihre gegenseitigen Egos. Doch wenn keiner hinguckt, wird vor dem Spiegel posiert und die schmächtigen Muskeln zittern vor der Laptop-Kamera. Wir befinden uns an Bord einer Luxusyacht inmitten des Ägäischen Meeres. Die sechs Männer sind eigentlich zum Angeln hier. Der »Doktor« hat sie eingeladen. Alle haben ihre Jugend schon ein Stück weit hinter sich gelassen. Selbstzweifel und Potenzprobleme übernehmen. Aus Langeweile beginnen sie ein Spiel: Die nächsten Tage sollen zeigen, wer von ihnen in allem der Beste ist. Fortan trägt jeder ein Heft bei sich, in dem eifrig notiert und bewertet wird. Es werden Blutwerte gemessen und Schwanzgrößen verglichen. Und aus den Freunden werden erbitterte Rivalen im Wettstreit um den Chevalier – den Siegelring des Doktors. Am Ende wird Blut fließen. Schon in ihrem Erstling »Attenberg« setzte sich die Filmemacherin Athina Rachel Tsangari, die gemeinsam mit Regisseuren wie Yorgos Lanthimos (»Dogtooth«) Teil einer neuen Welle des griechischen Kinos ist, mit Geschlechterrollen auseinander. In ihrer höchst originellen Charakterstudie »Chevalier« konzentriert sie sich vollends auf männliches Gebaren und maskuline Eitelkeiten. Das ist ziemlich clever geschrieben und genau beobachtet. Ausführliche Kritik im aktuellen kreuzer.

»Chevalier«: ab 21.4., Passage Kinos

Anfang 2014 lernt die Regisseurin Lisei Caspers Aman, Osman, Mohammed, Ali und Hassan in der Nähe ihrer ostfriesischen Heimat kennen. Sie kommen aus dem diktatorisch geführten Eritrea in Nordostafrika. In dem 1.500-Seelen-Dorf Strackholt sind die fünf Männer als Asylbewerber untergebracht und warten darauf, dass ihre Aufenthaltsanträge bewilligt werden. Gezeigt werden auch die Dorfbewohner, die den Fremden mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier begegnen, von denen sich aber immerhin einige bald mit den Bedürfnissen der neuen Bewohner vertraut machen und selbstlos helfen. Problematisch sind, wie schnell deutlich wird, nicht die Kultur- und Sprachbarrieren, sondern vielmehr die Ungewissheit, wie es der Familie zu Hause geht, die zermürbenden Wartezeiten und das behördlich verordnete Untätigsein, die den Männern auferlegt werden. Eineinhalb Jahre lang durfte die Regisseurin die Männer mit der Kamera begleiten. Mit viel Sensibilität nähert sich ihr Film den Eriträern und ihrem Werdegang in Deutschland an. Um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen, erfährt der Zuschauer über ihre Fluchtgeschichte und -gründe nur wenig, aber so viel, wie nötig ist, um unmissverständlich klarzumachen: Diese Menschen sind nicht zum Vergnügen oder aus Bequemlichkeit hier – und sie werden auch in Zukunft Frust und Depression ausgesetzt sein, wenn die Mühlen der staatlichen Instanzen weiter so langsam mahlen wie bisher. Ausführliche Kritik von Peter Hoch im aktuellen kreuzer.

»Gestrandet«: ab 24.4., Cinémathèque in der naTo

Flimmerzeit_März 2016

 

Weitere Filmtermine der Woche

Women in Love Im Dezember letzten Jahres kam Todd Haynes' Patricia Highsmith Verfilmung »Carol« in die deutschen Kinos und entwickelte sich zum Publikumserfolg. Grund genug für die Kinobar Prager Frühling mal einen Blick auf die Liebe zwischen Frauen im kontemporären Kino zu werfen. Drei der fünf Filme kommen aus den USA. Neben »Carol« ist auch die Premiere von »Freeheld« darunter, hochkarätig besetzt mit Julianne Moore und Ellen Page, die um das Recht einer anerkannten Partnerschaft kämpfen. »Der Sommer von Sangailé« aus Litauen verleiht einer jungen Liebe Flügel, während der australische »All about E« von einer Flucht aus der pulsierenden Großstadt in die Weiten des Outbacks erzählt. Abgerundet wird das Programm mit Kurzfilmen. Women in Love, 21.–27.4., Kinobar Prager Frühling

Beyond the Bridge Deutscher Psychothriller, in dem eine junge Frau nach der Rückkehr ins Haus ihrer toten Eltern zunehmend den Halt zwischen Albtraum und Wirklichkeit verliert. Finanziert über Kickstarter. Premiere mit Regisseur Daniel P. Schenk 22.4., 20 Uhr, Luru-Kino in der Spinnerei

La Buena Vida – Das gute Leben Ein kolumbianisches Dorf muss einem Kohletagebau weichen, damit Europa seine Energieversorgung sichern kann. Anschließend Filmgespräch mit Regisseur Jens Schanze und Laura Weis von PowerShift e. V. 22.4., 17 Uhr, Kinobar Prager Frühling

Overgames Haben die USA den Deutschen Gameshows als Mittel psychologischer Kriegsführung implantiert? Enzyklopädische Gedankenreise von Margaret Mead zu Günther Jauch. Spiele für eine kranke Nation. In Anwesenheit des Regisseurs Lutz Dammbeck – mit anschl. Gespräch mit Fred Gehler 23.4., 19 Uhr, Passage Kinos

Safety Last! – Ausgerechnet Wolkenkratzer Stummfilm-Komödie aus dem Jahr 1923, die Harold Lloyd unsterblich machte. Hollywoods erfolgreichster Komiker der zwanziger Jahre schuf mit dieser atemberaubenden »thrill-comedy« ein Meisterwerk, dessen Schlusssequenz sich in das Gedächtnis jedes Zuschauers eingräbt: Das Bild von Harold, der an einem Uhrzeiger hängt, während unter ihm eine Straßenschlucht gähnt, ist eine Ikone der Filmkunst. – Kino-Orgel live 23.4., 19, 20, 22 Uhr, Grassi-Museum Leipzig

Geschenkt wurde uns nichts Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte einer lebenslangen Emanzipation, die mit dem Befreiungskampf gegen den Faschismus begann. Drei Frauen berichten von ihrer Zeit in der Resistenza und deren Bedeutung für sie und viele andere Frauen. Anschließend Gespräch mit dem Regisseur Eric Esser. 26.4., 19.30 Uhr, Cinémathèque in der naTo

La Belle Saison Paris in den 1970er Jahren: Die aufgeschlossene und extrovertierte Carole setzt sich voller Leidenschaft für die Frauenbewegung in Frankreich ein. Als Carol auf Delphine trifft, die nach Paris kommt, um sich aus den Fängen ihrer ländlichen Familie zu befreien und um unabhängiger zu werden, gerät beider Leben auf unvorhergesehene Weise aus dem Ruder. – QueerBlick 27.4., 19.30 Uhr, Passage Kinos

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures Ursprünglich als Teil seiner »Shoah«-Dokumentation geplant, verarbeitete Claude Lanzmann das Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Yehuda Lerner zu einem eigenständigen Film. Zu Recht. Immerhin berichtet Lerner detailliert vom einzigen verbürgten Juden-Aufstand in einem Nazi-KZ. Ein erschütterndes historisches Dokument, das den Mythos vom Juden als willigem Opferlamm korrigiert. 27.4., 20 Uhr, Cineding

Mr. Morgan's Last Love Sandra Nettelbeck inszenierte dieses Drama vom Abschied mit einem wie immer starken Michael Caine. 28.4., 20 Uhr, Schaubühne Lindenfels

Jemenitisches Film- und Kunstfestival Wenn wir etwas vom Jemen hören, dann ist es meist Krieg. Seit einem Jahr herrscht er dort und auch zuvor war die Region von Unruhen geprägt. Film kann ein Mittel zum Ausdruck von Angst, Schmerz und Wut sein – aber auch von Hoffnung in dunklen Zeiten. Das Internationale Jemenitische Film- und Kunstfestival möchte die Arbeit von jemenitischen Künstlern einem breiten Publikum in Deutschland präsentieren und den Zuschauern die Gesellschaft und Politik des Jemen näherbringen. Die Filme erzählen von einem couragierten Mädchen und dem Kampf gegen die Zwangsehe, begleiten Filmemacher und Aktivisten durch ein gespaltenes Land, zeigen aber auch, wie jemenitische jugendliche Parcours-Sportler das Beste aus der Situation machen. An zwei Tagen sind die Filme im Cineding zu sehen und laden im Anschluss zur Diskussion ein. Internationales Jemenitisches Film- und Kunstfestival, 28./29.4., Cineding


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