Gefühlt 90 Prozent aller jüngeren Leipzig-Dokus beschäftigen sich mit den Großruinen dieser Stadt. »Die Sehnsucht nach dem Meer« reiht sich hier nahtlos ein. Erzählt wird die Geschichte des Lindenauer Hafens, der bis voriges Jahr nur auf dem Landweg erreichbar war. Nach mehr als 100 Jahren wurde 2015 die 665 Meter lange Wasserverbindung zum Karl-Heine-Kanal fertiggestellt.
In die andere Richtung ist hinter den Speichern immer noch Schluss: Der Durchstich zum Saale-Leipzig-Kanal soll erst in den kommenden Jahren gebaut werden. Aber auch an dessen westlichem Ende nahe Leuna fehlen noch mehrere Kilometer Wasserstraße und ein sehr teures Schleusenbauwerk, um die Verbindung zur Saale und damit zu den Weltmeeren herzustellen.
Die Leipziger Designerin und Filmemacherin Ute Puder fragt sich, welche Träume und Ziele hinter dem Bau von Hafenbecken und Speichern fernab jeder ernstzunehmenden Wasserstraße standen und wie die Zukunft der Geländes aussehen könnte. Wer sich bereits mit der Geschichte der Anlage beschäftigt hat, erfährt dabei zwar wenig neues, bekommt aber eine kompakte Zusammenfassung, die von schönen Aufnahmen begleitet wird. Allerdings hat die Filmemacherin das dritte Reich ausgespart. Da damals der Hafen und der daran anschließende Kanal Richtung Saale gebaut wurden, fehlt ein recht zentrales Stück Historie, das viel der Absurdität der Anlage erklärt.
Puder geht stattdessen zurück in die Zeit der Erschließung des Leipziger Westens. Vordergründig soll es Karl Heines Wunsch gewesen sein, die Baumwolle von seinen Plantagen in der Kolonie Deutsch-Ostafrika (das heutige Tansania) per Schiff nach Leipzig direkt zu seiner Spinnerei transportieren zu können. Tatsächlich diente der nach ihm benannte Kanal durch Plagwitz wohl aber eher als eine Art Steinbruch und als Nachschubweg für Baumaterial in die aufstrebenden westlichen Stadtteile, die der Industriepionier Heine erschloss. Außerdem half der Kanal die sumpfige Gegend zu entwässern. Der Verlauf der schmalen Wasserstraße mit ihren engen Kurven und niedrigen Brücken macht eine ernsthafte Nutzung für die Schifffahrt auch in Zukunft mehr oder weniger undenkbar.
Die Stadtverwaltung hat sich daher einen realistischeren Plan für das Areal überlegt und es als Wohngebiet erschlossen. Im kommenden Jahr soll auf den ersten Grundstücken gebaut werden. Die Regisseurin lässt verschiedene Positionen zu Wort kommen: Ein Bürgermeister argumentiert für das finanzielle Interesse der Kommune, ein Architekt träumt vom Erhalt des Freiraums und einer Nutzung als soziales Labor und ein Soziologe erklärt, was aus seiner Sicht realistische Ansprüche an den Hafen sein können. Ein Bootsverleiher wiederum träumt von der Vollendung des Wasseranschlusses an die Weltmeere. Der Zuschauer sieht derweil verträumte Bilder aus den leerstehenden Speichern, blickt aus deren oberen Stockwerken über die umliegende Gegend und wird eingehüllt in die Atmosphäre des Verfalls und der Verlassenheit. Verglichen mit anderen Leipziger Ruinenfilmen wirkt »Die Sehnsucht nach dem Meer« professioneller als etwa die »Geschichten hinter vergessenen Mauern«, bleibt erzählerisch aber weniger dicht als »Bowlingtreff«.