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Literatur

Die Zukunft war gestern

Das Editorial und Epaper des :logbuchs zur Buchmesse

  Die Zukunft war gestern | Das Editorial und Epaper des :logbuchs zur Buchmesse

Zur Buchmesse hat der kreuzer wieder seine eigene Buchmessenbeilage :logbuch herausgebracht. An dieser Stelle veröffentlichen wir das Editorial und vollständige Epaper. Wir wünschen eine schöne Buchmesse und gute Lektüre.

»Es ist das Gefühl, dass das 21. Jahrhundert heimgesucht wird von den Phantomen vieler Zukünfte – politischen, kulturellen, technologischen –, die in ihrer Verwirklichung gescheitert sind. Jemanden, der vor 40 Jahren lebte und ins Jahr 2015 versetzt wird, wäre er enttäuscht über das, was er vorfindet.« Vor zwei Jahren durfte ich für den kreuzer mit Marc Fisher sprechen, über Kapitalismus und Depression. Beim Schreiben dieser Zeilen ist es nun wenige Wochen her, dass sein inspirierender Popintellekt für immer verlosch. Marc, mach’s gut!

Fishers Denken kreiste um verlorene Zukünfte. »Die Zukunft war gestern« heißt unsere Titelgeschichte. Die Überschrift ist geklaut von konkret. Die dortige herrlich nerdige Serie gleichen Namens stellte vergessene Science-Fiction-Klassiker vor und erinnerte daran, was es hieß, das Kommende auszubuchstabieren. Ihren Autor Kay Sokolowsky haben wir gleich mitverhaftet. Er erklärt, warum eine miese Gegenwart ideal ist fürs Sprießen guter Sciene Fiction. Denn hey: »Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein, /

Muß ich sie herzustelln geboren sein«. Mordor steht scheunenoffen, die Death Eater und Chandrian prosten auf ihre Fusion, die Horcling-Matrone verlässt das Untergrundlabyrinth und Darquise feiert Auferstehung. Und tatsächlich: Sokolowsky gibt Signale leiser Hoffnung, Science Fiction ist nicht tot, sie schläft nur unterm Birnenbaum.

»Konkrete Utopien« nannte Ernst Bloch jene Ideen mit gesellschaftsverändernder Kraft, die aus fernem Möglichkeitsraum hereinträufeln. Um dem Jubiläenfetisch des Zeitgeists immerhin krumme Rechnung zu tragen – er starb vor 40 Jahren –, erinnert Elmar Schenkel daran, dass das Verlangen nach dem »Es könnte auch so sein« zutiefst menschlich ist. »Denken heißt überschreiten«, meinte Bloch, der das »Prinzip Hoffnung« auch in seinen nach anfänglichem Glück eher miesen Leipziger Zeit hochhielt. Wo sonst in der Literatur findet sich ein so hoffendes Denküberschreiten wie in der guten Science Fiction?

Literatur, puh. Eigentlich hätte ich große Lust gehabt, das :logbuch allein Sachbüchern zu widmen – vielleicht kann jemand den Jetztzustand schlüssig erklären? In Zeiten von Besorgten und Bekloppten, die auf so etwas wie »deutsche Kultur« pochen, aber ihren Heine, Klemperer et al. nie gelesen haben, geht der Schöngeist spucken. Doch halt, Sie haben natürlich Recht. Gerade die Belletristik versteht es, an Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu rühren. Nicht zuletzt – oder gerade – die Kunst kann gegenhalten.

Für ein Editorial sind diese Zeilen vielleicht nicht einleitend genug. Natürlich birgt das Heft – it’s like a smart magazine – mit sämtlichen hier versammelten Geschichten, Interviews und Rezensionen einen feuilletonistischen Schatz. Für einen Überblick zum Heft empfehle ich das ebenfalls superbe Inhaltsverzeichnis. By the way: Wer liest Editorials?

Falls Sie Editorials lesen, dann besuchen Sie uns doch auf der Buchmesse. Am Stand H 218 in Halle 5 können Sie uns mit Lob und Kritik überziehen – und vielleicht etwas abstauben. Wenn Sie keine Editorials lesen, freuen wir uns auch auf Sie. Ich wünsche fröhliche Lektüre in sinistren Zeiten.

Ihr Tobias Prüwer

Es geht nicht um das Verlangen, die Vergangenheit zurückzuholen, sondern um die Zukünfte, die die 70er und 90er entwarfen, die sich aber nie realisierten.

Marc Fisher


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