Wie ergeht es Menschen auf der Flucht? Bevor sie fliehen, bis zu dem Moment, an dem sie in ihre Heimat zurückkehren wollen? Auf unterschiedliche Weise erzählen die Filme »Als Paul über das Meer kam« und »Haus ohne Dach« persönliche Geschichten, die auch politisch sind.
Film der Woche: Als Jakob Preuss 2011 nach Nordafrika kam, wollte er eigentlich einen Film über die Außengrenzen Europas drehen. Mit seiner Kamera in der Hand ging er in eines der Camps vor den Toren von Marokko, wo die Menschen auf ihren Moment der Flucht warteten. Dort traf er auf Paul Nkamani, einen freundlichen Mann Anfang dreißig, der ihn durch die provisorische Zeltstadt führte. Paul hatte bereits eine Odyssee aus Kamerun hinter sich, um hierher zu gelangen. In seiner Heimat war er von der Uni geflogen, weil man ihn mit Studentenprotesten in Zusammenhang brachte. Armut und die Anfeindungen anderer Stammesmitglieder ließen ihm keine Wahl, als die Flucht nach Europa anzutreten. Zwischen den beiden unterschiedlichen Männern entwickelt sich eine Freundschaft, die geprägt ist von Erwartungen und Hoffnungen, Hilfe und Hilflosigkeit und einer scheinbar unüberwindbaren Schlucht zwischen zwei Lebensrealitäten. Preuss bezieht aber auch die Grenzer in seinen Film ein, zeigt ihren Alltag, die moralisch fragwürdigen Express-Abschiebungen an der Mauer und die Streifen der Grenzschützer an den Rändern der Republik. Aber es sind die Begegnungen mit Paul, die den Schlagzeilen ein Gesicht geben. So wird aus dem geplanten Blick aus der Distanz ein zutiefst persönliches Langzeitdokument.
»Als Paul über das Meer kam«: ab 31.8., Luru Kino in der Spinnerei
Die Geschwister Liya, Jan und Alan leben mit ihrer Mutter Gule in Deutschland. Vor langer Zeit kamen sie aus Kurdistan, nun erwartet die Mutter von ihren erwachsenen Kindern, dass sie sie zurück in die Heimat begleiten. Doch nur Jan kehrt mit seiner Mutter zurück in das Gebiet im Norden des Iraks. Kurz darauf sendet er seinen Geschwistern eine Nachricht: Gule ist gestorben. Sie will in einem kleinen Ort neben dem Vater beerdigt werden. Doch die Familie ist dagegen. Die Gründe dafür verheimlicht Jan seinen Geschwistern. Heimlich stehlen sie den Leichnam und eine Odyssee durch die gewaltige Landschaft beginnt, während weiter im Norden der Islamische Staat erste Städte besetzt. Als das Team um Soleen Yusef mit den Dreharbeiten rund um ihre alte Heimatstadt beginnen wollte, besetzte der IS die Stadt Mosul. Die Geschichte, die Yusef erzählen wollte, nahm plötzlich eine andere Wendung. Das Trauma ihrer Eltern, das die Geschwister aufarbeiten, steht stellvertretend für das des ganzen Landes. Familiäre Geheimnisse treten ans Licht der gleißenden Sonne, die über der atemberaubenden Landschaft brennt. Yusef setzt sie gemeinsam mit ihrem Kameramann Stephan Burchardt eindrucksvoll in Szene und widmet ihrer Heimat und den Menschen dort ein berührendes und bemerkenswertes Debüt.
Wir sprachen mit Regisseurin Soleen Yusef über ihren Debütfilm.
kreuzer: Wie kam es, dass Sie sich gleich mit Ihrem ersten Film so weit raus wagten?
SOLEEN YUSEF: Das ist schon ganz schön irre. Ich wollte eine Familiengeschichte erzählen. Eine Biografie, die in zwei Ländern beheimatet ist. Den Konflikt zwischen dem neuen Leben und dem alten. Es sollte um drei Geschwister gehen, die zurückgehen an den Ort ihrer Kindheit und gleichzeitig das Trauma ihrer Eltern aufarbeiten, stellvertretend für das des ganzen Landes. Dazu dient die Form des Roadmovies.
kreuzer: Wie haben Sie die Mitstreiter für so ein riskantes Projekt gefunden?
YUSEF: Ein Großteil des Teams stammte aus Baden-Württemberg. Der Kameramann Stephan Burchardt hat mit mir in Ludwigsburg studiert, genauso wie die Produzentin bis hin zur Postproduktion. Das ist ein Team, das über die Jahre hinweg zusammengewachsen ist. Ohne das Vertrauen hätten sie sich auch nicht dazu bereiterklärt, mitzukommen.
kreuzer: Wie fanden Sie Ihre starken Hauptdarsteller?
YUSEF: Ich habe ein Dreivierteljahr im gesamten deutschsprachigen Raum gesucht. Sie sollten zusammenpassen als Geschwister, Kurdisch und Deutsch sprechen und einen ähnlichen Hintergrund haben. Jede noch so kleine Figur soll eine Geschichte haben und menschlich spürbar sein.
»Haus ohne Dach«: ab 31.8., Cineding, am 2.9. in Anwesenheit der Regisseurin
Flimmerzeit August 2017
Weitere Filmtermine der Woche
Der Wald vor lauter Bäumen
Eine junge Lehrerin bemüht sich, Anschluss in der neuen Stadt zu finden. Die Versuche der schüchternen Frau sind schmerzlich ungeschickt und verzweifelt. Auch in der Schule wird sie mehr und mehr zur Lehrerwitzfigur.
1.9., 20.30 Uhr, Kulturkosmos Leipzig
About Love 2
Episodenfilm über verschiedene Figuren im sommerlichen Moskau, die alle auf ihre eigene Art auf der Suche nach Liebe sind. Am 2. September im russischen Original ohne Untertitel im Cineplex.
2.9., 17.30 Uhr, Cineplex
Walk with me
Eine Gemeinschaft buddhistischer Zen-Mönche und -Nonnen lernt beim weltberühmten Mönch, Schriftsteller und Lyriker ThÌch Nhat Hanh. Die Gruppe trennt sich von ihrem Besitz und stellt ihr Leben in den Dienst eines Ziels: Leiden überwinden und Achtsamkeit leben. Drei Jahre begleiteten Marc Francis und Max Pugh den Alltag der Mönche mit der Kamera. Schauplätze sind das Kloster im ländlichen Frankreich und Straßen in den USA. In der Originalversion des Dokumentarfilms liest Benedict Cumberbatch die frühen Schriften ThÌch Nhat Hanhs.
3.9., 13.30 Uhr, Passage Kinos
Freunde in Preußen oder: Ob ein edler Jude etwas Unwahrscheinliches sei
Autor Heiner Michel und Regisseur Rolf Busch führen uns ein Preußenbild vor, das so gar nicht in die deutsch-deutsche Feierstimmung 1981 passen will: Judenverfolgungen, Unterdrückung des Deutschen als Kultur- und Literatursprache, beengte geistige und materielle Verhältnisse, Polizeistaatsmethoden, Pogromstimmung. – Deutsch-deutsche Filmgeschichte(n). Gemeinschaftsproduktionen im geteilten Deutschland
4.9., 19 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum
Kino verbindet: Ballerina
Französischer Animationsfilm, der technisch überzeugt, jedoch eine Spur zu laut und bemüht geraten ist.
5.9., 17 Uhr, Schaubühne Lindenfels
Kino verbindet: Billy Elliot – I will dance
Der elfjährige Billy entdeckt das Ballett-Tanzen für sich.
5.9., 19 Uhr, Schaubühne Lindenfels
It was fifty years ago today! The Beatles: Sgt. Pepper & beyond
Doku über die Entstehung eines der legendärsten Beatles-Alben überhaupt, leider ohne die zugehörige Musik. – Musikkiste
5./6.9., 20 Uhr, Schaubühne Lindenfels
Mary & Max oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?
Eine besondere Freundschaft zwischen dem neugierigen und einsamen Mädchen Mary aus Australien und dem schrulligen New Yorker Max (gesprochen von Philip Seymour Hoffman), der an Asperger leidet. – Stark behindert – Eine Reihe zu Behinderung und Selbstbestimmung
5.9., 19.30 Uhr, Cinémathèque in der Nato (OmU)
Mietrebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt
Dokumentation über den Kampf um bezahlbaren Wohnraum in Berlin. Am 5. September in der Kinobar mit anschließender Diskussionsrunde mit den Grünen-Abgeordneten Monika Lazar, Wolfram Günther und Tim Elschner.
5.9., 18 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Being with Clay
6.000 Jahre Tradition des Töpferns in Chinas Provinz Hainan. Mit anschließender Führung durch die Ausstellung »Frühchinesische Keramik«.
6.9., 18 Uhr, Grassi-Museum für Angewandte Kunst
Concerning Violence
Doku-Essay über die Befreiungsbewegungen in Afrika in den sechziger und siebziger Jahren, unterlegt mit dem von Lauryn Hill gelesenen Text von Frantz Fanon »Die Verdammten dieser Erde«. – GlobaLE, im Anschluss Diskussion mit Aktivisten
6.9., 20 Uhr, Freizeitpark Rabet
Sundance Shorts Attack
Sieben Independent-Filme mit Gewinnern des diesjährigen Sundance-Film-Festivals und Highlights wie dem Regiedebüt von Kristen Stewart. Mischung aus Spielfilm, Dokumentation und Animation.
6.9., 21 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Deutsche Musikgeschichte im Film: »Conny Plank – The Potential Of Noise« und »Revolution of Sound. Tangerine Dream«
Zwei Mal deutsche Musikgeschichte, von der man sich gern inspirieren lassen darf. Immerhin produzierte Conny Plank in den siebziger und achtziger Jahren wegweisende Bands wie Cluster, Ultravox, Devo und die Eurythmics, während Tangerine Dream zur selben Zeit die elektronische Musik maßgeblich prägten. Zwei Dokumentarfilme würdigen im September ihr Schaffen: »Conny Plank – The Potential Of Noise« ab 30. September und »Revolution of Sound. Tangerine Dream« am 7./8. September.
7./8.9., 20 Uhr, Schaubühne Lindenfels
I am not your negro
Ein aufrüttelndes, Oscar-nominiertes dokumentarisches Essay über die Situation von Afroamerikanern in den USA, von der Zeit der Sklaverei bis zu den jüngsten Unruhen in Ferguson. – GlobaLE, im Anschluss Diskussion mit Aktivisten.
7.9., 20 Uhr, Freizeitpark Rabet