Spätis gehören einfach zu Leipzig. Ob Chips, Bier oder Eis: Sie sind immer für einen da. Das Ordnungsamt hat sie nun aber ins Visier genommen. Deshalb müssen sie gemäß des Ladenschlussgesetzes an Sonntagen schließen – ein Verlust, der für sie existenzbedrohend sein kann.
Als der Südplatzspäti Ende August »auf Grund des sächsischen Ladenschlussgesetzes« an Sonn- und Feiertagen den Betrieb ganz ruhen ließ, war die Aufregung groß. Auf der Facebookseite fanden sich Kommentare wie: »Langsam gehts mit Leipzig zu Ende«. Diese Tendenz zeichnete sich auch in den Reaktionen auf den Beitrag »Immer wieder sonntags kommt das Ordnungsamt« auf kreuzer online zu den Problemen der Spätis Ende August ab. Berichtet wurde darin über Kontrollen der Öffnungszeiten nicht nur des Südplatzspätis, sondern auch anderer Spätverkäufe in der Stadt. Mehrere Läden mussten Strafen zahlen. Mysteriös an der Kontrollwelle ist vor allem der Zeitpunkt – warum wird gerade jetzt massiv kontrolliert und sanktioniert, was jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelang kaum jemanden interessierte?
Zuerst einmal gibt es die Spätverkaufsstelle gar nicht – zumindest im Verständnis der Behörden. Die stellvertretende Ordnungsamtsleiterin Helga Kästner, die für ein vertiefendes Gespräch leider nicht zur Verfügung stand, erklärte auf eine kreuzer-Anfrage: »Den Begriff der Spätverkaufsstelle gibt es nach den Regelungen des Ladenöffnungszeitengesetzes nicht. Ich weise vorsorglich darauf hin, dass daher die Begrifflichkeit ›Späti‹ auf keine gesetzlich legitimierte Verkaufsstelle zutreffen kann. Das Offenhalten von Verkaufsstellen außerhalb der Ladenschlusszeiten ist in Sachsen und damit auch in Leipzig stets widerrechtlich.«
Der Späti muss sich dem Gesetz fügen, das Öffnungszeiten von Montag bis Sonnabend von 6 bis 22 Uhr, sonntags zwischen 7 und 18 Uhr vorsieht. An Sonn- und Feiertagen herrscht zudem eine spezielle Produktvorgabe, die, kurz gesagt, Produkte ausschließt, die nicht zum sofortigen Verzehr gedacht sind. Zwischen den geschätzt 30 Spätis in Leipzig herrscht eine große Spanne an Einkaufsoptionen, an Angebot und Atmosphäre. Bei Musik- oder Fernsehuntermalung kann von Tabak, Süßigkeiten und ungekühltem Billigbier über handgefertigte vegane Seife bis zu Bioweinen und Kochfertigem fast alles ausgewählt werden. In den letzten Jahren änderte sich in vielen Läden das Sortiment. Bioprodukte eroberten ebenso die Regale wie regionale Erzeugnisse und spezielle Getränke, die der Discounter nicht bereithält.
Wer zum Späti geht – so sind sich viele Spätibesitzer einig –, wählt ganz bewusst den Laden aus. »Er will das Bier so kaufen und nicht einfach Bier kaufen«, bringt es eine Besitzerin auf den Punkt. Die Läden bedeuten Lifestyle, urbanes Leben, soziale Nähe – und oft auch Hilfe in letzter Not. Sie sind die Nachkommen der Tante-Emma-Läden, wo man sich kennt, den Schlüssel abgibt. Der Inhaber ist zumeist ein geselliger Mensch, der Wert auf seine soziale Umgebung legt, weiß, dass der Job schön, aber mühsam
ist und Reichtümer sich nicht anhäufen werden. Doch diese innewohnende Friedfertigkeit wird in letzter Zeit auf die Probe gestellt. Bereits seit vergangenem Sommer kontrolliert das Ordnungsamt die Öffnungszeiten. Operative Kontrollen erfolgen laut Amt allerdings immer erst nach der Beschwerde durch Dritte. Was ist das Ziel dieser Dritten, die seit Jahren existierenden Läden anzukreiden?
Zwei Thesen zur Erklärung hört man immer wieder. Erstens: Die Existenz eines Konkurrenten mit politischem Einfluss und neuen Ambitionen. Aufhorchen ließ daher das LVZ-Interview mit den Chefs der Konsum-Genossenschaft Dirk Thärichen und Michael Faupel Anfang September. Der Konsum wirbt mit dem Slogan »Nah. Frisch. Freundlich« und beschreibt sich als »echter Nahversorger«. Denn, so wissen die Chefs: »Die Leute wollen im Quartier einkaufen. Das ist die Zukunft.« Regionales ohne Auto einzukaufen – damit strebt die Firma 2017 einen Umsatz von 115 Millionen Euro an. Der Konsum selbst sieht die Spätis nicht als Konkurrenz, denn, so die Antwort aus der Zentrale,
das Unternehmen binde seine Kunden durch »emotionale Nähe«, Frische und gut geschulte Mitarbeiter.
Zweitens: Die Spätis müssen weichen (der Wegfall des umsatzstarken Sonntags würde viele
in ihrer Existenz gefährden), weil »die« Stadtgesellschaft auf diese Einkaufskultur verzichten möchte. Die Monat für Monat aus dem Boden sprießenden schuhkartonähnlichen Betonbutzen wirken deurbanisierend. Anders gesagt: Wer viel Geld für Wohnfläche ausgibt, will auch sein Umfeld beherrschen. Und die Spätis mit ihrem Publikum könnten da ein Dorn im Auge gesetzter Anwohner und auf Wertsteigerung schielender Hausbesitzer sein.
Vor wenigen Monaten wollte eine Petition in Sachsen eine Öffnungszeitenfreigabe von Montag bis Sonnabend 0 bis 24 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen die Öffnung »inhabergeführter Verkaufsstellen wie auch kleinerer Verkaufsstellen des Lebensmitteleinzelhandels und Spätshops« erwirken. Der Freistaat lehnte ab und verwies auf den »objektiv-verfassungsrechtlichen Schutzauftrag« gegenüber seinen Bürgern zur Sonntagsruhe sowie den Wettbewerbsvorteil des Einzelhandels gegenüber den Discountern (siehe kreuzer 08/2017). Wie denken die Fraktionen darüber?
Für Juliane Nagel (Die Linke) steht fest, dass die Spätis zur Stadtkultur gehören und einer Ausnahmeregel unterstehen sollten. »Ansonsten sind wir strikt dagegen, die Arbeitszeiten weiter zu liberalisieren.«
Auch Gerd Lippold, der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, steht »einer generellen Freigabe der Ladenöffnungszeiten kritisch gegenüber«. Er sieht darin eine große Gefahr, dass Innenstädte veröden, wenn Discounter auf der grünen Wiese ihre Öffnungszeiten verlängern. Lippold fordert daher einen »sensiblen« Umgang mit Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen: »Die Bürgerschaft einer Stadt sollte doch wenigstens in diesem Punkt selbst vereinbaren können, welches Leitbild von der Art des Zusammenlebens sie umsetzen möchte.« Keine Gesetzesänderung
strebt die SPD an. Holger Mann vertritt allerdings persönlich die Meinung, dass »das Ordnungsamt zurzeit andere Probleme und Prioritäten haben« sollte.
Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU Frank Heidan verweist ebenso darauf, dass Spätis zur urbanen Lebenskultur in Städten gehören. Da die CDU »für christliche Werte steht«, seien seiner Meinung nach die »bisherigen Lösungen ein guter Kompromiss«.
Es sieht ganz so aus, als müsste nicht nur die Stadtgesellschaft entscheiden, wie urbane Kultur heute zu erleben ist, sondern auch der Landtag sich auf eine zeitgemäße Gesetzgebung einigen. Für die Spätibesitzer steht fest, dass alle sehr gut miteinander leben können, denn es klappte doch bisher auch – und so könnte Leipzig von seinem Ende verschont bleiben.