Irgendwer hat aus Versehen das kreuzer-Logo auf die Eintrittskarten des Die-Toten-Hosen-Konzerts in Leipzig drucken lassen, dabei will niemand in der Redaktion was über die Toten Hosen schreiben. Allerdings würden wir Campino gerne mal fragen, wie das so ist, wenn man früher mal Punk war und heute die CDU-Fraktion deine Lieder singt. Und wie er sonst auf 40 Jahre Punk zurückblickt. Er würde auch gern antworten. Also treffen wir uns an einem Nachmittag in Berlin im schicken Café Einstein (sein Vorschlag). Sein Assistent trägt ein Hosen-Tattoo auf der Hand, bezahlt die Getränke (wir: Wein, Campino: Ingwertee) und verschwindet wieder.
kreuzer: Auf Ihrem aktuellen Album heißt es gleich am Anfang: Zurück zum Bolzplatz, zurück zum Ursprung. Im nächsten Lied geht es dann darum, dass man alles schon erlebt hat. Ist das gerade ein Thema für Sie: sich darauf zu besinnen, wo man herkommt?
CAMPINO: Bei dem Lied »Urknall« geht es nicht unbedingt ums Zurück zu den Anfängen, sondern ums Zurück zur Schlichtheit, zum Wesentlichen, zum Kern dessen, was wir da veranstalten. Also nicht nur auf Preisverleihungen rumzuhängen. In dem Lied »Ich nehm’ das alles mit nach Hause« geht es weniger darum, wo man schon überall Tolles war, sondern darum, sich zu fragen: »Was bleibt eigentlich von diesem Leben?«. Das sind dann weniger Auszeichnungen oder Finanzgeschichten, sondern Erlebnisse, die einem keiner nehmen kann. Von dem ganzen Materiellen bleibt dir am Ende des Lebens ja wenig und es sind bestimmt keine Chartplatzierungen, an die man dann zurückdenkt.
kreuzer: Preisverleihungen und Champagner-Empfänge haben Sie selbst oft genug erlebt. Wie geht man damit um als jemand, der aus dem Punk kommt?
CAMPINO: Das war bei uns auch Thema: Wie geht man mit Erfolg um? Wir haben uns ganz schön geziert. Am Ende hat es aber wenig mit Punk zu tun, wie man sich auf Preisverleihungen fühlt. Das sieht man auch am Zaudern von Bob Dylan, der ja offensichtlich auch im hohen Alter nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Andere Bands, ob nun die Ramones oder The Clash, waren mit Recht auch stolz darauf, als sie in die Rock’n’Roll Hall Of Fame aufgenommen wurden. Letztendlich ist eine Auszeichnung ja der Versuch anderer Menschen, deine Arbeit zu goutieren. Von daher ist das total nett. Ich meine aber auch gar nicht die Momente, in denen man selbst gewürdigt wird, sondern das Rumhängen als solches auf diesen Veranstaltungen. Dieses Sich-selber-auf-die-Schulter-Hauen, das Latschen auf dem goldenen Teppich, diese Zurschaustellung der ganzen Oberflächlichkeit, das ist ja das Lächerliche. Aber wenn Kraftklub einen Preis als Beste Band des Jahres erhalten, warum sollen die sich nicht darüber freuen dürfen?
kreuzer: Auf der Zusatz-Platte »Learning English 2« heißt es dann: Zurück zum Punk. Musik machen mit den alten Helden. Feiern Sie 40 Jahre Punk?
CAMPINO: Zu der Zeit der Aufnahmen wurde das in London total zelebriert. Mit Konzerten, Ausstellungen, Bandzusammenführungen, Lesungen. Von daher war das Sprechen über die Vergangenheit eine natürliche und nette Angelegenheit. Wir sind da hingefahren, um das
auf unsere Art noch mal richtig zu feiern, weil das auch tolle Popsongs sind. Da ging es uns jetzt weniger ums Museale, sondern einfach ums Spaßhaben.
kreuzer: Da machen Leute von den Dead Kennedys, den Undertones oder den Buzzcocks mit. Sind Sie mit der deutschen Punkszene auch so gut vernetzt?
CAMPINO: Ich bin jetzt nicht so in dem Geschehen, was die aktuellen jungen Bands betrifft. Keine Ahnung, ob man Feine Sahne Fischfilet noch zu den jungen Bands zählen kann, aber
es freut mich sehr, dass wir mit denen gut im Kontakt stehen. Was die da an Orten wie Anklam gegen Rechtsradikalismus auf die Beine stellen, finde ich extrem wichtig. Die alten Bands kennen wir sowieso, ob das nun Slime sind oder Abwärts. Aber ich finde die deutsche
Szene nicht so eng wie die englische. Dort weiß ich fast mehr, was abgeht. Vielleicht stehe ich auch da nur am Rand und blicke nicht richtig durch. In anderen Szenen ist es genauso. Ich war letztes Jahr beim Splash-Festival. Da hat mich gewundert, wie sehr die Hiphopszene in sich geschlossen ist. Doch wenn es rockt, geht es auch im Hiphop richtig ab. Wenn ich dann höre,
dass 187 Strassenbande den Backstage-Bereich auseinandergenommen haben, denke ich: Das ist auch nicht anders als bei uns früher. Jede Generation durchlebt das, was wir früher als Rock’n‘Roll beschrieben haben. Das ist seelenverwandt.
kreuzer: Der Rapper Marteria hat auch bei Ihren Texten mitgewirkt.
CAMPINO: Ja, wir sind befreundet. Und da wir viel miteinander unternehmen, passiert es manchmal, dass wir uns mit Musik beschäftigen. Da bleibt dann auch mal was hängen.
kreuzer: Auch in Leipzig waren Sie oft.
CAMPINO: Ja, der deutsche Teil meiner Familie hat Wurzeln bis nach Leipzig. Es gibt ja dort auch das Frege-Haus. In Büchern habe ich gelesen, dass Vorfahren von uns ein Bankhaus hatten und wohlgelitten waren, weil sie bei einer Hungersnot Getreide gespendet haben. Leipzig
und Dresden sind Städte, in denen wir uns immer verstanden gefühlt haben. Von Anfang an. Allerdings haben wir auch eines unserer schlimmsten Konzerte in Leipzig gespielt. Kurz nach der Wende. Das war in einer Messehalle, in der sonst Traktoren ausgestellt wurden. Brutalster Sound! Von allen Wänden kam ein zehntausendfaches Echo zurück, so dass ich gerne jedem einzelnen Gast sein Geld wiedergegeben hätte, weil das eine Zumutung war. Wir haben uns selber auf der Bühne nicht verstanden. Dennoch haben alle applaudiert. Dafür bin ich der Stadt heute noch dankbar.
kreuzer: Gibts auch die Chance, dass Sie noch mal im Conne Island spielen?
CAMPINO: Warum nicht? Da waren wir schon oft. Ist ein guter Club.
kreuzer: … der nach den G20-Krawallen wie die Rote Flora wieder unter Beschuss geraten ist.
CAMPINO: Das ist ein legendärer Laden. Es wäre extrem schade und sehr kurzsichtig, den zuzumachen. Das Problem ist immer, dass Vorfälle wie in Hamburg zum Anlass genommen werden für ein Groß-Reinemachen, weil die Allgemeinheit verunsichert und die Berichterstattung total negativ ist. Der normale Bürger im Windschatten zuckt nur die Achseln: »Ja, die machen ja nur Ärger.« Das find ich unmöglich, auch wenn es gerade in den Tagen nach so einem Vorfall unheimlich schwerfällt, für sie eine Lanze zu brechen, weil teilweise auch totaler Schwachsinn passiert ist. Eigentore der Szene. Nicht unbedingt der Szene um die Rote Flora, sondern Gast-Hools, die sich da zum Willie machen und dann ein halbes Jahr nicht auftauchen. Das ist ja immer dasselbe.
kreuzer: Sie sind großer Fußballfan. Ihre Meinung zu RB Leipzig? Waren Sie schon mal bei einem Spiel?
CAMPINO: Nein. Es ist immer leicht, über Investoren zu motzen. Aber wenn kein anderer bereit war einzusteigen? Ich kann nachvollziehen, dass Leute hungrig sind nach hochklassigem Fußball. Daher will ich mich nicht den Leuten anschließen, die RB von vornherein verteufeln. Aber der Fußball ist ein großer Krake geworden. Die Fifa hat inzwischen vermutlich mehr Kraft und Power als manche Nationen. Du siehst ja an den Geldmengen, die bewegt werden, dass ganze Länder wie Katar dahinter stehen, die sich profilieren wollen. Dass da Spiele gespielt werden, die nichts mehr mit Fußball zu tun haben und nicht mehr auszubremsen sind. Man kann den Amerikanern mit ihrer Kommerzscheiße ja viel vorwerfen, aber sie haben verstanden, in der NFL ein Drafting-System einzuführen. Da hat der schwächste Club das Recht, aus den Studentenclubs als Erstes die Talente zu wählen, und Gehälter werden gedeckelt, um eine Ausgeglichenheit herzustellen. Das fände ich vernünftig, aber ich fürchte, der Fußball ist so ein Monstrum geworden, dass man das nicht mehr unter Kontrolle kriegt.
kreuzer: Die Band hat selbst mal einen Spieler gekauft für Fortuna Düsseldorf.
CAMPINO: Ja, wir haben Geld gesammelt und Fortuna durfte dann aussuchen, wen sie kaufen.
kreuzer: Ihr wart quasi auch Investor und Sponsor.
CAMPINO: Klar, sonst wäre der Verein in Konkurs gegangen. Und Stand heute sind wir Tabellenführer in Liga 2 und haben ein Stadion mit 50.000 Leuten. Wir diskutieren darüber aber auch immer in der Band, denn schließlich ist das auch Kommerz und Unterhaltung. Die Frage steht immer im Raum: Sollten wir nicht lieber mehr Geld an Pro Asyl geben? Das versuchen wir auszubalancieren. Aber wir sind ja nicht von Robin Hood beauftragt und müssen immer nur Gutes tun. Wir sind ja leider auch beknackt und haben immer schon beknackte Aktionen gemacht. Ein gewisser Anteil kann also auch für Sachen draufgehen, die nicht alle nachvollziehen können.
kreuzer: Sie betonen immer, dass Bands sich engagieren oder zumindest politisch sein sollten.
CAMPINO: So kann man das nicht sagen. Ich zeige nicht mit dem Finger auf andere Bands und behaupte: »Ihr müsstet mehr tun!« Das steht mir nicht zu. Ich sage nur, dass wir uns das nicht anders vorstellen können. Working Class Attitude war immer schon wichtig für die englische Punkszene. Bands wie The Clash haben bereits die Diskussion geführt: »Was machen wir mit den Einnahmen? Wie teuer darf Merchandise sein?« Wir konnten uns das alles abschauen. Und wenn du so geprägt wirst, reicht es dir nicht, einfach ein schönes Lied zu hören. Easiness, Happiness, Diskoliedchen und alles andere ist scheißegal – das hat mir nie gereicht. Aber auf ihre Weise ist deren Einstellung auch okay und ich würde da nie jemanden indoktrinieren wollen.
kreuzer: Weil Sie eh niemanden indoktrinieren wollen?
CAMPINO: Ich klage niemanden an, weil er sich zu wenig einbringt. Wenn man sich damit unwohl fühlt, politisch Stellung zu beziehen, ist das eine legitime Haltung. Nur ich kann so nicht sein und fände es schade, unsere Möglichkeit als Sprachrohr nicht auch für eine Sache einzusetzen, die uns wichtig ist. Insofern können wir was von unserem Erfolg und Glück zurückgeben, indem wir Sachen unterstützen, die einen fantastischen Job machen: Seawatch, Ärzte ohne Grenzen oder Oxfam.
kreuzer: Wie entscheiden Sie, wem Sie Geld geben?
CAMPINO: Zum einen ist langfristige Zusammenarbeit besser, als nach dem Gießkannenprinzip immer ein bisschen was zu verteilen und sich da nicht mehr blicken zu lassen. So verstehen wir auch die Arbeit der Organisationen besser. Das andere ist, dass du durch individuelle Erlebnisse sensibilisiert wirst. Ganz billiges Beispiel: Du hast mal in Thailand Urlaub gemacht, siehst einen Monat später die Überschwemmung und denkst: »Das könnte ich sein oder die Leute, die mir das Zimmer vermietet haben.« Natürlich spendest du dann mehr. Weil viele Leute aus Deutschland schon mal Urlaub dort gemacht haben, sind gerade beim Tsunami die Spendengelder explodiert. Andere Regionen, wo sie noch nie waren, müssen hart kämpfen, um an Gelder zu kommen. Ein Dauerbrennerthema ist Afrika. Das gilt heutzutage fast schon als Reizwort. Wenn du das erwähnst, gehen die Schotten dicht. Als wir in Uganda waren, haben wir Elend ohne Ende gesehen. Dann kommst du nach Hause und denkst: »Da muss jetzt was passieren, das musst du erzählen!« und merkst, wie selbst dein engstes Umfeld müde wird: Schon wieder jemand arm, schon wieder Kindersoldaten. Und du kommst und kommst nicht durch. Das ist so hart für Leute, die da täglich dran arbeiten. Eine Endlosschleife. Grauenhaft.
kreuzer: Bei der Bundestagwahl vor vier Jahren hat die CDU nach ihrem Sieg »Tage wie diese« gesungen. Danach hat Angela Merkel bei Ihnen angerufen. Was hat sie gesagt?
CAMPINO: »Hallo, Herr Campino.« Genau weiß ich es nicht mehr, aber daran kann ich mich erinnern: »Ich rufe an, um mich zu entschuldigen, weil wir so auf Ihrem Lied rumgetrampelt sind.« Rumgetrampelt – das fand ich einen ganz guten Ausdruck. Als das Kanzleramt anrief, dachte ich, das sei ein Scherz der Titanic, und meinte zu meiner Assistentin, sie solle mal zurückrufen. Das Amt war aber tatsächlich am Apparat und ließ ausrichten, die Bundeskanzlerin wolle mit mir sprechen. Ich wusste nicht, wie ich das Gespräch einordnen sollte und ob sie das dann danach irgendwie nutzen wollte. Ich bin mir im Nachhinein ziemlich sicher, dass das ein privates Anliegen von ihr war. Daher war es eine ziemlich große Geste. Andererseits
habe ich mich gefragt: »Hat sie gerade nichts Wichtigeres zu tun?«
kreuzer: Wie sehr hat Sie das geschmerzt, dass auf dem Lied so »rumgetrampelt« wurde?
CAMPINO: Ach, mein Gott, so ein Lied entwickelt ein Eigenleben. Letztendlich wollen wir mit unserer Musik Menschen berühren und freuen uns, wenn bei ihnen Emotionen ausgelöst werden. Nicht korrekt finde ich, wenn diese Musik auf Wahlkampfveranstaltungen läuft. Als Einmarschmusik zum Beispiel. Denn das ist nichts anderes als eine Werbeveranstaltung und ich stelle meine Musik auch der kommerziellen Werbung seit 40 Jahren nicht zur Verfügung, obwohl wir zum Beispiel oft von Autoherstellern gefragt wurden. Da habe ich prinzipiell was gegen. »Tage wie diese« wurde ja von vielen Parteien gespielt. Als Band kann man so was aber nicht verbieten lassen, das gibt die Gesetzeslage nicht her. Wir haben uns also nur öffentlich dagegen ausgesprochen. Ich finde, unsere Musik soll politisch sein, aber nicht parteipolitisch.
kreuzer: Sondern?
CAMPINO: Für Projekte, Situationen und Aktionen, hinter denen wir stehen können, geben wir sie gerne her. Unser Song »Europa« über die Flüchtlingskatastrophe kann natürlich bei allen Demos gegen das Sterben im Mittelmeer gespielt werden. Soll es ja auch. Parteipolitik bedeutet für viele nur, sich für das geringste Übel zu entscheiden. Mehr nicht. Das Kreuz zu machen bei dem, den man am wenigsten schlimm findet.
[caption id="attachment_60944" align="aligncenter" width="664"] Campino in Buenos Aires, Foto: Montecruz Foto[/caption]
kreuzer: Ein anderes großes Thema auf Ihrem Album ist der Tod.
CAMPINO: In unserer Gesellschaft wird der Tod sehr oft tabuisiert. Ich denke jedoch oft darüber nach, wie man damit umgeht: Was ist ein volles Leben? Was ist ein kurzes Leben? Ich habe sehr früh angefangen, alle paar Jahre mein Testament zu schreiben. Als kleine Übung für mich selber, um mir klarzumachen, wer mir wichtig ist. Das kann ich jedem nur empfehlen, sich mal zwei Stunden mit einem Rotwein alleine hinzusetzen und zu überlegen: »Wem willst du noch mal
ein Zeichen senden, wem willst du danke sagen, bei wem dich entschuldigen?« Da geht es nicht darum, wer ein Auto kriegt, sondern wer einem wichtig ist. Das bringt mich weiter. Ansonsten gibt es eine Form von Tod, die friedlich ist und mit der man klarkommt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch verstörende Weisen, wie Menschen aus dem Leben scheiden – sei es durch Unfälle, Übermut, Drogen oder Freitod in jungen Jahren, wo du nicht verstehst, warum man der Person nicht den Anker bieten konnte, um zu sagen, es lohnt sich noch, weiterzuleben. Diese verschiedenen Arten zu sterben sind nicht zu vergleichen.
kreuzer: Bei Ihrem tausendsten Konzert ist ein Mädchen gestorben. Wie haben Sie es geschafft, danach weiter Musik zu machen und Konzerte zu geben?
CAMPINO: Das war ein Schockmoment und wir haben uns in dieser Phase natürlich viele Fragen gestellt: Darf man vor so vielen Menschen so wilde Konzerte abziehen? Ist das ein unkalkulierbares Risiko, das wir mit zu verantworten haben? Geht es immer nur um Rekorde? Für uns war das sehr lehrreich, weil wir überhaupt erst begriffen haben, wie sehr wir die Musik lieben und wie sehr wir daran hängen, sie zu machen. Aber unsere Einstellung zu unserer Verantwortung hat sich komplett geändert. Ich habe beschlossen, Konzerte nur noch nüchtern zu spielen – es sei denn, ich singe vor zehn oder zwanzig Leuten. Ich habe es mehrmals erlebt, dass bei einem Konzertabbruch die Polizei auf die Bühne kam. Die Folge war jedes Mal das totale Chaos. Ein Gebuhe, ein Gepfeife, egal, was die gesagt haben. Niemand hat die akzeptiert. Autorität hat in dem Fall nur die Band. Und gerade bei den Anlässen der letzten Zeit – Terrorwarnungen, Massenpanik, weil jemand einen Knallfrosch zündet, Tränengas – musst du nüchtern sein und deinen Job machen. Stell dir mal vor, du bist völlig dicht und schätzt die Situation komplett falsch ein, das wäre unverzeihlich.
kreuzer: Sie sind Mitte 50. Wie hat sich da generell die Sicht verändert auf alte Slogans wie »Nur die Besten sterben jung«?
CAMPINO: Wenn du das erste Mal raus von zu Hause und in der Welt bist, denkst du, dass du für dich selbst verantwortlich bist. Wenn dir was passieren würde, wäre das scheißegal. Seitdem ich Vater geworden bin, hat sich da bei mir viel getan. Man hat plötzlich Verlustängste, ist verletzlicher und muss auch für jemand anderen funktionieren. Da fängt man an zu relativieren. Das ist aber ein normaler Prozess.
kreuzer: Sind Sie dadurch weniger risikofreudig?
CAMPINO: Ja, klar. Wieso sollte ich jetzt noch mit 140 Sachen voll alkoholisiert durch eine Ortschaft sausen – was damals schon bescheuert war? Oder auf den Traversen rumklettern? Damals ging es um eine Art russisches Roulette, Grenzenauschecken und auf komische Art Befriedigung zu empfinden, wenn andere entsetzt sind. Alles sehr unreife Gefühle. Diese diffusen Todessehnsüchte habe ich Gott sei Dank hinter mir. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass man an einen Punkt kommt, an dem man sein Glück würdigen kann. Das würde ich nicht mehr so dumm aufs Spiel setzen. Auch die Drogenerlebnisse und all die Substanzen, die man sich selbst reingeballert hat: Ich wäre entsetzt, wenn ich das bei Jugendlichen heute sehen würde. Dann sagen die: »Wieso, du hast das auch gemacht?!« Aber ich kann ja nicht erwarten, dass das Glück, das ich hatte, auch denen widerfährt, die gerade denselben Wahnsinn abziehen.
kreuzer: Wie kann man das als jemand, der selbst jede Menge Scheiße gebaut hat, vermitteln?
CAMPINO: Glaubwürdig bleiben und zugeben, dass es so gelaufen ist. Trotzdem ist es legitim, sich um diejenigen größte Sorgen zu machen. Du kannst auch sagen: »Ich habe die Scheiße hinter mir und habe welche gesehen, die runtergefallen sind. Ich kann das aus meiner Position einschätzen.« Wieso kann nicht jemand, der im Krieg war, zu jedem, der gerade so was vorhat, sagen, dass das scheiße ist? Bei dem ganzen Säbelgerassel, das gerade stattfindet, wäre es wünschenswert, wenn das in der Politik auch häufiger mal passieren würde, zum Beispiel einem Donald Trump gegenüber, der mit seinen dummen Spielregeln erstaunlich weit gekommen ist und nun auf gefährliche Weise versucht, diese auf die Welt zu übertragen.
Biografie: Campino heißt eigentlich Andreas Frege und wurde während einer Bonbonschlacht in der Schule nach einem Lutschbonbon benannt. Seine familiären Wurzeln reichen einerseits nach England, andererseits nach Leipzig in die Bankiersfamilie Frege. 1978 gründete er mit 15 Jahren die Punkband ZK, aus der später Die Toten Hosen wurden.