Jetzt ist das Jahr schon fast wieder um, und es liegen noch so viele schöne Bücher herum. Nicht ungelesen, aber leider unbesprochen. Doch wozu gibt es dieses moderne Internetz? Als Weihnachts-Special legt Ihnen die kreuzer-Literaturredaktion drei Klassiker ans Herz, die sich ideal zur Feiertagslektüre eigenen. Für unsere Leser ist uns das Beste gerade gut genug, darum anstelle der üblichen Bestseller-Knallchargen und literarischen Eintagsfliegen nur die Crème de la Crème der abendländischen Literatur.
Beginnen wir mit dem Klassiker der Klassiker: Homers Ilias (8. oder 7. Jahrhundert v. Chr.), dem ersten schriftlich verfassten Werk der abendländischen Literatur. Johann Heinrich Vossens berühmte deutsche Übersetzung der Ilias von 1793 ist selbst zum Klassiker geworden, aber niemals ganz unumstritten gewesen. »Der Hexameter«, urteilte zum Beispiel der Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, »wird im Deutschen nie eine gute Übersetzung erbringen: Das Versmaß eignet sich nicht für die deutsche Sprache!« Einer seiner Schüler, Wolfgang Schadewaldt, hat dann eine Prosa-Übersetzung der homerischen Epen vorgelegt, die unter Kennern als besonders originalgetreu und sprachlich gelungen gilt und bis heute höchstes Ansehen genießt. Nun legt der Schweizer Philologe Kurt Steinmann, der zuvor schon die Odyssee metrisch übersetzt hat, wieder eine Versübersetzung vor. Was ist davon zu halten? Bereits der erste Vers lässt den Leser stutzen: »Singe vom Ingrimm, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilleus«, übersetzt Steinmann. »Ingrimm«? Nahezu alle Homer-Übersetzer geben »mênis« als »Zorn« wieder. Steinmann pfeift darauf, wohl vor allem aus metrischen Gründen. Aber der etwas altertümliche Klang eines einzigen Wortes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier mit einem großen Wurf zu tun haben. Steinmann übersetzt bisweilen unkonventionell, aber immer philologisch einwandfrei. Er hält eine maximale Nähe zum Original ein und schafft zugleich ein sprachlich wunderbar ungezwungenes, im besten Sinne zeitgemäßes Kunstwerk. Wer sich heute mit Homers Epen befassen will, darf sich getrost dieser Übertragung anvertrauen – es sei denn, er möchte den Rat eines anderen Ilias-Übersetzers, des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg, befolgen, der angesichts der Unmöglichkeit einer vollkommen werkgetreuen Übersetzung meinte: »O lieber Leser, lerne Griechisch und wirf meine Übersetzung ins Feuer!«
Ovids erotisches Lehrgedicht »Ars amatoria« (zwischen 1 v. und 4 n. Chr.) gilt seit zweitausend Jahren als Skandalbuch, ein Klassiker des Giftschranks sozusagen. Nicht völlig zu Unrecht, wie man sagen muss. Aber erwarten Sie nicht zu viel davon. Zwar hat Ovid ein paar zeitlose Tricks auf Lager, wie ein Mann sich einem Mädchen am besten nähert, ihre Liebe gewinnt und später die Partnerin bei der Stange hält; auch über bestimmte Sexstellungen gibt er Auskunft. So richtig pornografisch wird es aber nie, und manches wirkt heute doch eher befremdlich. So befürwortet Ovid zwar den gleichzeitigen Orgasmus von Mann und Frau, gibt aber eben das als Grund an dafür, weswegen ihn die Knabenliebe nicht so sehr reize. Na ja, toll trieben es die alten Römer. Mit anderen Worten: Die »Ars amatoria« ist heute vor allem von Interesse als kulturhistorisches Dokument und Sprachkunstwerk. Und was das angeht, bietet die Ausgabe des Verlags Galiani den schieren Luxus: Eine Übersetzung des Gedichts ist eingebettet in einen üppig wuchernden Kommentar, der den Leser über all die literarischen, mythologischen, historischen Bezüge und Anspielungen aufklärt, von denen die »Liebeskunst« wimmelt. So erinnern die Seiten dieser Prachtausgabe fast an die Gliederung des Talmuds, bei der die Mischna von den Kommentaren und Analysen der Gemara umrahmt ist. Dazu kommen ein kundiges und ausführliches Nachwort, ein Stadtplan des augusteischen Rom und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Aber eines fehlt! Warum, bei der männermordenden Göttin Venus, hat man bei all dem Aufwand nicht auch den Originaltext abgedruckt? Griechisch, na gut, wer hat das noch gelernt? Aber Latein ist noch immer die Fremdsprache, die an deutschen Schulen am dritthäufigsten unterrichtet wird, und die Chance, dass ein Leser, der sich diese Ausgabe gönnt, sie irgendwann einmal gelernt hat, dürfte nicht allzu gering sein.
Aber natürlich können wir auf Übersetzungen nicht verzichten. Einer, der auf diesem Gebiet Überragendes und Bleibendes geleistet hat, war August Wilhelm Schlegel (1767–1845). Seine zahlreichen Shakespeare-Übertragungen, darunter »Ein Sommernachtstraum«, »Romeo und Julia«, »Der Sturm«, sind ebensolche Klassiker wie Vossens Homer-Übersetzungen. Doch dieser Bursche hat in seinem Leben noch viel mehr zuwege gebracht: Gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich Schlegel und seinen Freunden Novalis und Ludwig Tieck hat er die deutsche Romantik begründet; er war einer der bedeutendsten Literaturkritiker und Kunsttheoretiker seiner Zeit, nebenbei Sprachwissenschaftler. A. W. Schlegel war der erste Lehrstuhlinhaber des Fachs Indologie in Deutschland. Zugegeben, die Romantik hat schillerndere, abgründigere Gestalten hervorgebracht als ihn, und Heinrich Heines Diffamierungen seines alten Bonner Lehrers haben Schlegels Ansehen bei der Nachwelt auch nicht gerade befördert. Aber, auch wenn A. W. Schlegel vielleicht der bürgerlichste aller Romantiker war, so war er doch zweifellos auch der gelehrteste, vielseitigste und weltgewandteste unter ihnen. Der Marburger Germanist Jochen Strobe hat nun zu seinem 250. Geburtstag eine kenntnisreiche, sehr lesenswerte Biografie vorgelegt, die uns diesen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Romantiker wieder in Erinnerung ruft.
Ein anderer Romantiker kann sich über mangelnde Beachtung nicht so sehr beschweren: In Arno Schmidts monumentaler Biografie »Fouqué und einiger seiner Zeitgenossen« erfahren wir alles, aber wirklich alles über den seinerzeit kolossal erfolgreichen Schriftsteller Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843) – bloß nicht, warum zur Hölle wir seine Werke lesen sollen! Zwar machen Romane wie »Der Zauberring« und andere nordische Heldensagen den preußischen Aristokraten, Berufsoffizier und Patrioten hugenottischer Herkunft zum Urvater der modernen Fantasy-Literatur. Aber, unter uns, man muss dieses Zeug nicht unbedingt gelesen haben. Anders steht es mit seiner »Undine« (1811), die gerade in einer wunderschönen Ausgabe bei der Edition Büchergilde erschienen ist. Die Geschichte von Ritter Huldbrand und der schönen Meerfrau gilt als romantische Erzählung par excellence. Unzählige Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Komponisten hat sie zu eigenen Ausdeutungen und Werken inspiriert: von E. T. A. Hoffmann und Albert Lortzing über Hans Christian Andersen, Prokofjew bis hin zu Ingeborg Bachmann. Mit »Undine« hat Fouqué eine unsterbliche Erzählung geschaffen, die bis heute nichts von ihrem Zauber eingebüßt hat.
Wir könnten problemlos so weitermachen. Ich würde Ihnen so gerne noch »Ein Herr aus San Francisco« ans Herz legen, den gerade erschienenen herrlichen Erzählungsband des großen russischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers von 1933 Iwan Bunin oder Viktor Schklowskijs prachtvolle »Sentimentale Reise«. Aber irgendwann ist ja mal Schluss, und so müssen Sie mir aufs Ehrenwort glauben, dass Sie sich mit diesen Büchern über die Ferien nicht langweilen werden. Denn für langweilige Bücher haben wir nun wirklich keine Zeit.
Herzlichst
Ihr
OLAF SCHMIDT