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Kultur

»Leipzig klingt wie Samt«

Der 21. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons über Unterschiede von Boston und Leipzig

  »Leipzig klingt wie Samt« | Der 21. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons über Unterschiede von Boston und Leipzig

Zwischen den Proben gibt Andris Nelsons einen Tag vor seinem offiziellen Antrittskonzert Interviews. Kaum hat der letzte Journalist vor uns den Raum verlassen, sind Trompetentöne hinter der Tür zu vernehmen. Obwohl wir ihn aus seinem kurzen musikalischen Stelldichein mit dem Instrument reißen, tritt uns Nelsons sympathisch, offen und natürlich entgegen. »Seit sechzehn Jahren habe ich nicht gespielt«, sagt der frühere Trompeter, »inzwischen ist es nur ein Hobby«. Die kommenden vier Konzertwochen sind ganz dem neuen Gewandhauskapellmeister gewidmet. Der 39-jährige Lette Nelsons ist bekannt für seine tief emotionale und intensive Art des Dirigierens. Er ist gleichzeitig Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und des Leipziger Gewandhausorchesters. 

kreuzer: Sie sind jetzt hier in Leipzig und mitten in den Vorbereitungen für die Konzerte Ende der Woche. Wie laufen die Proben?

ANDRIS NELSONS: Schon vor zwei Jahren war meine Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester beschlossene Sache. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dass es endlich losgeht. Es ist sehr aufregend. Die Proben sind sehr intensiv und schön, das Orchester ist sehr gut und wir spielen ein tolles, Programm: Mendelssohn, Steffen Schleiermachers neues Stück »Relief«, das extra für diese Konzerte geschrieben wurde, und Bergs Violinkonzert mit der wunderbaren Violinistin Baiba Skride.

kreuzer: Lieben Sie es, noch unbekannte, neu komponierte Werke zu spielen?

NELSONS: Leipzig war immer eine Stadt, in der viele Dinge uraufgeführt wurden. Vor 275 Jahren war Bach auch ein Zeitgenosse! Das Brahms-Violinkonzert wurde zum Beispiel hier uraufgeführt. Wir müssen uns um die großen Werke der Vergangenheit kümmern, aber auch neuen Kompositionen eine Chance geben. Moderne Werke können ja von absoluter Atonalität bis zu Stücken mit sehr romantischem Ansatz reichen. Zeitgenössisches ist oft sehr interessant, aber für mich ist das ist immer eine Frage der Kombination im Programm. Es wird viele Auftragswerke geben.

kreuzer: Sie sind gleichzeitig Chefdirigent von zwei der weltweit bedeutendsten Orchester. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sehen Sie zwischen der Boston Symphony und dem Gewandhausorchester?

NELSONS: Beides sind großartige Orchester mit eigener Geschichte. Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch viele Unterschiede. Boston ist mit seinen 137 Jahren praktisch das älteste Orchester in den USA. Das Gewandhausorchester ist 275 Jahre alt, mehr als ein Jahrhundert älter. Beide haben einen sehr speziellen, unverwechselbar individuellen Klang und besondere Qualitäten. Beide haben ein spezielles Publikum. Ein Hauptunterschied ist die Finanzierung. In Deutschland werden Orchester staatlich finanziert, in Amerika nicht. Aber das ist dort inzwischen Geschichte und Tradition: Hier gibt es großzügige Menschen, die die Kultur durch ihre Spenden unterstützen, so entstehen andere Strukturen.

Aber natürlich spielen wir dieselbe Musik, eine universelle Sprache, die überall verstanden wird.

kreuzer: Wie ist es mit dem Klang der beiden Orchester, wo liegen da die Unterschiede?

NELSONS: Vor zwei Wochen haben wir auch in Boston Mendelssohns Schottische Sinfonie gespielt, als Teil einer Leipziger Woche, es gab auch Schumann und Bach. Jetzt machen wir das hier mit dem Gewandhausorchester. Und natürlich klingen beide Orchester großartig, aber sehr anders.

[caption id="attachment_64078" align="alignleft" width="300"] Andris Nelsons, Foto: Sandra Schubert[/caption]

Die historischen Einflüsse spielen dabei eine große Rolle. Boston ist im Klang und der Phrasierung neben anderen europäischen Einflüssen vor allem französisch geprägt. Hier gibt es die Kombination eines sehr reichen Orchesterklangs verbunden mit dem schönen Raumklang des Konzerthauses, das ja eine Kopie des zweiten Leipziger Gewandhauses ist. Ein reicher und singender Klang, wie Seide, nicht forciert. Sensitiv vielleicht und nicht so typisch amerikanisch, das wäre dann sehr hell und konkret, etwas härter, Richtung New York Philharmonic.

Den Leipziger Klang würde ich eher mit Samt vergleichen, er ist auch sehr empfindsam, kommt aber nicht aus der französischen Richtung, sondern von der Barockmusik, von Bach her und hat auch Mendelssohns Helligkeit. Die Einflüsse von Bach und Mendelssohn sind hier sehr stark, auch was die Spielart betrifft.

Es wäre langweilig, wenn Orchester auf dieselbe Art spielen würden. Ich muss mich als Dirigent um die Kontinuität der Tradition kümmern und das jeweilige Orchester dazu bringen, seinen eigenen Weg des Ausdrucks zu nutzen. Die Musiker machen den Klang. Ich selbst muss also flexibel sein.

kreuzer: Werden Sie in beiden Städten verschiedenes Repertoire spielen?

NELSONS: Das meiste ist verschieden, einige Stücke spielen wir aber mit beiden Orchestern. In Boston nehmen wir alle Schostakowitsch-Sinfonien auf, das beschäftigt uns noch bis 2021. In Leipzig spielen wir einen Bruckner Zyklus ein.

Aber dazwischen spielen wir Mahler, Mendelssohn, einen Brahms-Zyklus, Auftragswerke, Strauss, Tschaikowski, das Repertoire, das man überall auf der Welt spielt.

kreuzer: Wie werden Sie es kräftemäßig bewältigen, zwei Orchester auf zwei Kontinenten zu leiten?

NELSONS: Jetzt habe ich vor allen Dingen Boston, Leipzig und manchmal die Wiener Philharmoniker, selten Berlin und Amsterdam.

Insgesamt sieht meine Planung logischer und klarer aus als vorher, ich habe auch super Management-Teams. Ich versuche ungefähr einen Monat in Europa, einen Monat in Amerika zu sein, wechsle nicht so häufig. Ich werde regelmäßig konzentrierte Phasen dort und hier haben. In der Zwischenzeit haben die beiden Orchester wunderbare Gastdirigenten. Mir bleibt mehr Zeit für die Vorbereitung.

kreuzer: Sie wurden in Lettland geboren, damals ein Teil der Sowjetunion. Hat es für Sie eine Bedeutung, dass auch Leipzig im früheren Ostblock liegt?

NELSONS: Sicher, die Zeiten haben ihre Spuren hinterlassen. Kurt Masur hat es zu seiner Zeit geschafft, das Gewandhaus hier bauen zu lassen! Zur Zeit des Eisernen Vorhangs war ich Schuljunge, die westlichen Orchester und die westliche Welt waren unerreichbar. Aber wir hatten die Schallplatten vom Gewandhausorchester mit Kurt Masur, Brahms- und Mendelssohn-Sinfonien. Ich erinnere mich gut daran.

kreuzer: Hatten Sie schon Zeit, Leipzig kennenzulernen?

NELSONS: Ich bin im Augenblick sehr auf die Proben konzentriert. Aber ich war seit 2011 jedes Jahr als Gastdirigent in der Stadt. Ein Bassist hat mir das Mendelssohn-Haus gezeigt, ich habe verschiedene Stadtteile gesehen und bemerkt, wie schnell man im Wald, am Fluss, in der Natur ist. Die Stadt ist so konzentriert wie eine europäische Hauptstadt, nur etwas kleiner. Das Angebot an Musik, Kunst, Sport und die Lebensqualität sind toll. Aber es gibt noch viel zu entdecken.

kreuzer: Alles Gute für Sie und vielen Dank für das Gespräch.


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