Als der Wirbel um das Austauschen von Neujahrswünschen, obligatorisches Aneinanderstoßen von Sektgläsern und das bunte Feuerwerksgezündel bei den meisten schon wieder abgeklungen sind, geht es am Connewitzer Kreuz zu Silvester erst richtig los. Nach einer friedlichen Kundgebung »gegen staatliche Repression und Polizeigewalt« versammeln sich nach und nach immer mehr Menschen rund um das Kreuz, laut Polizei etwa 1.000 Personen. Sie kommen vor allem, um das zu tun, was alle anderen in dieser Nacht auch taten: feiern.
Doch nicht jeder gibt sich lediglich mit Raketen und Knallfröschen zufrieden, und so brennen kurze Zeit später ein Müllcontainer und ein Stuhl, die auf der Straße zusammengestapelt werden. So weit, so gut. Ein kleines Feuer auf der Straße ist noch kein Grund zur Aufregung. Doch Connewitz wäre nicht Connewitz, wenn die Situation nicht binnen kurzer Zeit eskalieren würde. Gegen ein Uhr rückt die Polizei mit massivem Aufgebot in den Stadtteil ein. Zwar gehört das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Autonomen und Polizei zu Silvester in Connewitz schon fast dazu, diesmal werden jedoch nicht zuletzt wegen des vorher ausgesprochenen Versammlungsverbotes schwere Geschütze aufgefahren.
Als die Polizei nicht nur mit mehr als 200 Beamten aus ganz Sachsen, sondern auch mit Wasserwerfern anrückt, um den brennenden Container zu löschen, spitzt die Situation sich zu. Einige wenige – die Polizei berichtet von vierzig bis fünfzig, Augenzeugen von etwa zwanzig – Personen bewerfen die Wasserwerfer mit Steinen und Flaschen. Was später als Ausschreitung und Randale bezeichnet wird, ist jedoch nach einer Viertelstunde ebenso schnell vorbei, wie es begann. Später heißt es, man habe »zum gegenseitigen Schutz und für eine schnelle Löschung der Brände« zwei Wasserwerfer eingesetzt, da die Feuerwehr im gesamten Stadtgebiet gebunden war. Als die letzte Glut verglommen ist, fahren die Gefährte, wie man sie
sonst auf Großdemonstrationen und bei gewaltvollen Ausschreitungen einsetzt, wieder ab. Einige Personen werden festgenommen, zwölf Strafanzeigen und eine Ordnungswidrigkeit laufen nun bei der Polizei.
Ortswechsel. Es ist Anfang September in der sächsischen Kleinstadt Wurzen. Das linksradikale Bündnis »Irgendwo in Deutschland« hat zu einer Demonstration aufgerufen, um auf die neonazistische Gewalt und Strukturen in der Region aufmerksam zu machen, nachdem Wurzen zuvor mehrfach wegen Angriffen auf Geflüchtete in den Schlagzeilen war. Etwa 400 Linke ziehen durch die Stadt, rufen Parolen, tragen Banner – kaum aufregender als eine Laufdemo für mehr Fahrradwege. Dennoch fährt die Polizei Sachsen groß auf. Neben mehreren Hundertschaften der Bereitschaftspolizei, fünf Wasserwerfern und einem Polizeihubschrauber, der über der Stadt kreist, ist auch das Spezialeinsatzkommando (SEK) vor Ort und bewacht schwer bewaffnet die friedliche Demonstration mit Argusaugen. Der Leipziger Polizeisprecher Uwe Voigt sagt nach Kritik an den harten Geschützen, das SEK sei lediglich für den Fall im Einsatz, dass es eskaliere, aber »soll keine Provokation sein«.
Es sind zwei Einzelsituationen, die jedoch exemplarisch für eine Gesamtentwicklung im Freistaat stehen. Denn tatsächlich ist das fast schon militärisch anmutende Auftreten der Polizei keine Seltenheit mehr. Eine kleine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Valentin Lippmann im Landtag in Folge der Wurzner Demonstration hat ergeben, dass der Einsatz von SEK-Einheiten in Sachsen bereits gängige Praxis ist. 25 Mal war das Spezialkommando seit 2014 in Sachsen bei Demonstrationen zum Ziel der »Intervention im Falle gewalttätiger Auseinandersetzungen« eingesetzt, wie es in der Antwort auf die Anfrage heißt. Eigentlich sind SEK-Beamte vor allem für Einsätze im Kontext von Terrorismus, Geiselnahmen und anderen besonderen Gefährdungslagen geschult. Demonstrationen gehören erst seit kurzer Zeit zum regelmäßigen Einsatzgebiet der Spezialeinheiten, die vor allem durch ihre militante Erscheinung auffallen.
Doch auch die regulären Beamten, die in den vergangenen Jahren in Leipzig und Umgebung bei Demonstrationen im Einsatz waren, stehen in der Kritik. Immer wieder kam es im Kontext von Legida- und Anti-Legida-Demonstrationen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei. Mehrfach stand der Vorwurf im Raum, die Polizei agiere unverhältnismäßig gewaltvoll gegenüber Gegendemonstranten. Im vergangenen Dezember wurde ein Dresdner Bereitschaftspolizist wegen Körperverletzung zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nachdem er im April 2015 an der gewaltsamen Auflösung einer Anti-Legida-Sitzblockade beteiligt war und dabei einem 17-jährigen Gegendemonstranten grundlos mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Außerdem soll er ohne Vorwarnung Reizgas gesprüht und mehrfach in Richtung der Sitzenden getreten haben. Die Richterin Martina Kadler-Orthen verkündete, Demonstrierende hätten zwar nicht das Recht, eine Kreuzung zu blockieren, aber »auch Störer haben ein Recht auf persönliche Unversehrtheit«.
Der Beamte ist nicht der einzige, dem Körperverletzung im Amt vorgeworfen wird. Ebenfalls wegen unrechtmäßigen Sprühens von Pfefferspray gegen Anti-Legida-Demonstrierende steht eine Bereitschaftspolizistin derzeit am Amtsgericht Leipzig vor Gericht.
Immer wieder hat sich eine autoritäre Polizeipraxis im Rahmen der Legida-Proteste und Gegenproteste gezeigt, häufig standen die Beamten in der Kritik. Sicherlich ist ein Faktor für das harte Agieren der Beamten, dass sie aufgrund der Regelmäßigkeit und der angespannten Lage während der Demonstrationen unter enormem Stress standen. Bedeutend ist jedoch auch, dass sich ein Anstieg autoritärer Entwicklungen und repressiver Taktiken bei der sächsischen Polizei verzeichnen lässt. Betrachtet man die polizeilichen Entwicklungen und Debatten der vergangenen Jahre, gibt es allein in Leipzig viele Beispiele dafür. Ob die Einführung einer Waffenverbotszone, die Diskussion um den Einsatz von Bodycams (an den Uniformen befestigte Kameras, die den Einsatz filmen), der Einsatz einer Ordnungspolizei, polizeiliche Trampatrouillen oder der immer wieder kreisende Polizeihubschrauber über Connewitz – die Polizei agiert zunehmend sichtbar und mit autoritären Maßnahmen. Dabei folgt sie der Linie der Landesregierung.
Landesebene gibt autoritären Kurs vor
Diese feilt derzeit an einer Reformierung des sächsischen Polizeigesetzes, das Innenminister Roland Wöller (CDU) Ende Februar vorstellt und das noch vor der Sommerpause beschlossen werden soll. Darin einigten sich CDU und SPD, die Befugnisse der sächsischen Polizeibeamten in vielen Bereichen deutlich zu erweitern. So sollen die Möglichkeiten der Videoüberwachung ausgebaut werden, die nicht nur wie bislang an ausgewählten Kriminalitätsschwerpunkten zum Einsatz kommen darf, sondern auch auf Zugangswegen zu diesen. Zudem wird die Telekommunikationsüberwachung vereinfacht, so dass die Polizei künftig unter Richtervorbehalt nicht nur wie bisher auf allgemeine Verbindungsdaten, sondern auch auf Inhalte zugreifen kann. Zudem sollen verschärfte Meldeauflagen für gewaltbereite Straftäter gelten, wofür auch elektronische Fußfesseln zum Einsatz kommen sollen. Wetere Maßnahmen wie der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware und Bodycams werden noch diskutiert.
Es sind Vorstöße, die Foucault und seine Studien zur Gouvernementalität zum Zittern gebracht hätten. Denn in der Konsequenz bedeutet es: mehr Überwachung, weniger Freiheit, Ausweitung des sogenannten »Predictive Policing«
(s. S. 23). Gerechtfertigt wird das Ganze unter dem Credo der Sicherheit. »Das neue Polizeigesetz ist ein Frontalangriff auf die Bürgerrechte«, sagt Lippmann. Als innenpolitischer Sprecher der Grünen im Landtag beschäftigt er sich intensiv mit den Entwicklungen der sächsischen Polizei. Denn nicht mehr konkrete Anhaltspunkte für Straftaten sind handlungsweisend, sondern eine Gesamtüberwachung. »Nach den Vorstellungen der Koalition ist damit wohl jeder verdächtig«, sagt Lippmann. »Eine Koalition, die den Frontalangriff auf die Bürgerrechte als guten Kompromiss preist und sich gleichzeitig nicht einmal auf die Einführung der Polizeikennzeichnung einigen kann, ist endgültig von allen guten Geistern verlassen.«
Die Tendenz zu diesen Entwicklungen zeichnet sich schon länger ab und ist nicht nur in der konservativen Regierungsführung zu suchen, sondern vor allem in den Städten auch in den damit einhergehenden strukturellen Veränderungen der Polizeibehörden. 2005 wurden in Sachsen die Polizeipräsidien als Mittelbehörden abgeschafft, seitdem gibt es nur noch das Landespolizeipräsidium, das als oberste Dienstbehörde an das Innenministerium angegliedert und in fünf Polizeidirektionen unterteilt ist. Jede dieser Direktionen verfügt über Reviere, welche wiederum über Schutz- und Kriminalbeamte verfügen. Mit den Fusionen verschiedener Institutionen gingen Verteilungskonflikte um Personal und Zuständigkeiten einher. »Leipzig ist aus diesen Konflikten gestärkt hervorgegangen«, sagt die Geographin Sophie Perthus. Sie promoviert derzeit am Frankfurter Institut für Humangeographie zu räumlicher Ungleichheit in der sächsischen Polizeipraxis und untersucht dafür die Entwicklungen bei der sächsischen Polizei, speziell im Leipziger Osten und in Bautzen. Perthus erklärt, dass auch, wenn in den Polizeidirektionen zwar weniger Beamte arbeiten, die Personalzahlen auf der Straße und in den Revieren nicht zwangsläufig geringer geworden sind. So zeigt sich zwar ein deutlicher Rückgang der Beamten bei der Polizei Sachsen allgemein, dieser spiegelt sich jedoch nicht in der drastischen Form in den Revieren wider. Waren im gesamten Freistaat im Jahr 2007 noch 12.030 Polizeibeamte beschäftigt, sind es derzeit nur noch 10.737, also etwa 1.300 Polizisten weniger. Anders bei der sächsischen Bereitschaftspolizei: Hier waren im Jahr 2007 nur 1.192 Polizeivollzugsbeamte beschäftigt, heute sind es mit 1.311 etwa einhundert mehr. »Die Erhöhung der Präsenz auf der Straße ist seit Anfang der neunziger Jahre durchgängig ein Ziel der Polizei.«
Repression statt soziale Lösung
Gleichsam haben auch die politischen Diskurse Einfluss auf das Handeln. In Bezug zu einigen Konflikten hat in Leipzig eine Angleichung des Umgangs an den konservativ-autoritären Kurs der Landesregierung stattgefunden. Das sieht man vor allem im Vergleich von historischen Beispielen mit aktuellen Konfliktlösungsstrategien. Da wäre beispielsweise die Debatte um die Legalisierung der Hausbesetzungen Anfang der neunziger Jahre, bei der die Stadt gegen
den Willen der CDU-Landesregierung statt auf Repression und Räumung auf verwaltete Legalisierung gesetzt hat. Vierzehn von siebenundzwanzig Häusern wurden legalisiert und konnten als genossenschaftliche Modelle fortbestehen. »Es war zwar auch ein disziplinarischer, aber eben ein sozialerer Umgang, der die Bedürfnisse der Menschen ernst genommen hat«, sagt Perthus. »Dennoch war es ein umkämpftes Feld.« So habe es damals immer wieder verbale Angriffe seitens der Landespolitik und der Polizei auf die Stadt gegeben.
Ein weiteres Beispiel für einen lange Zeit dominanten sozialen Umgang stadtpolitischer Debatten ist der Konflikt um die kommunale Drogenpolitik im Jahr 2011/12. Lange Zeit herrschte in Leipzig ein akzeptierender Ansatz vor, der vor allem durch die seit 1998 von der Stadt geförderten Drug Scouts eine Basis erhielt, deren Credo es ist, sachlich und umfassend über Substanzen aufzuklären. Im Jahr 2011 erfuhr dieser akzeptierende Ansatz einen massiven Angriff seitens der Polizei, als der damalige Polizeichef Horst Wawrzynski der Stadt vorwarf, sie sei mit ihrem Umgang für steigende Drogenkriminalität und Beschaffungskriminalität verantwortlich. Ein emotional aufgeladener Brief des Kriminaldirektors, in dem er die Angst um seine Tochter schilderte und den Drug Scouts Drogenaffinität vorwarf, befeuerte die Debatte, bis schließlich auch Bernd Merbitz, heutiger Leipziger Polizeichef und damaliger Landespolizeipräsident, mit einstieg und sagte, dass Leipzig eine »Wohlfühlstrategie für Junkies« fahre. Die Polizei erkämpfte eine Stimmberechtigung im Drogenbeirat der Stadt. Dennoch wurde damals von der Stadt dagegengehalten. Sozialbürgermeister Fabian verteidigte den akzeptierenden, präventiven Ansatz der Drogenpolitik gegenüber einem repressiven.
[caption id="attachment_64357" align="aligncenter" width="608"] Forscherin Sophie Pertus[/caption]
In den letzten Jahren hat sich das Verhältnis zwischen Stadt und Polizei verändert. »Die Polizei macht autoritäre Antworten auf soziale Konflikte zunehmend stark«, sagt Perthus. Zwar gebe es in Leipzig immer noch viele linke oder zivilgesellschaftliche Akteure, die andere Problemlösungsansätze als die der Polizei forcieren, jedoch werden zunehmend autoritäre Lösungsstrategien umgesetzt. »Der Ruf nach mehr Sicherheit hat in den letzten Monaten häufiger eine Einigkeit zwischen der Stadtverwaltung und der Landesregierung in Dresden in Bezug auf einzelne Konflikte produziert«, sagt Perthus. »Es wird sich massiv an dem Thema Sicherheit abgearbeitet – und damit vor allem Unsicherheit produziert.«
Beispiele dafür gibt es zahlreiche. Da wäre zum einen die Maßnahme, die Eisenbahnstraße als erste Waffenverbotszone in Sachsen zu deklarieren – ein Vorstoß, der vom Land vorgeschlagen und dann von der Stadt beantragt wurde. »Das Instrument ist deswegen so problematisch, weil die Polizei damit im Vorfeld von Straftaten handeln und Menschen verdachtsunabhängig kontrollieren kann«, sagt Perthus. Im Gegensatz zu Kontrollbereichen, die das Land Sachsen schon zuvor immer wieder in Leipzig einsetzte, wird über Waffenverbotszonen von den Kommunen entschieden. Während die Kommunen früher eine stärkere Kontrollinstanz der Polizeibehörden darstellten, geht die Arbeit heute häufig Hand in Hand.
Ein weiteres Beispiel ist die von Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) im Herbst 2017 angekündigte Aufstockung des Ordnungsdienstes. Ein Vorschlag der CDU als Reaktion auf die fehlenden Polizeibeamten, der nun nach Gesprächen zwischen Jung, Merbitz und dem damaligen sächsischen Innenminister Markus Ulbig (CDU) im Rahmen der Einführung einer »Stadtpolizei« umgesetzt wird. Das bedeutet: Nicht mehr nur die eigentlich für solch exekutive Handlungen verantwortliche Polizeibehörde wird als Streife Leipzigs Straßen kontrollieren, sondern auch dafür eigentlich unqualifiziertes Personal des Ordnungsamtes. Diese Mitarbeiter werden zukünftig nicht nur mit Uniformen, sondern auch mit Handfesseln, Schlagstöcken und stichsicheren Westen ausgestattet – »operative Gruppen«, wie Jung sie nennt. Polizeipräsident Merbitz verkündete Ende des Jahres feierlich die Absprachen mit Jung zur Aufstockung der Ordnungsbehörde. Es wird zukünftig gemeinsam Streifen in Straßenbahnen und rund um sogenannte Kriminalitätsschwerpunkte wie den Hauptbahnhof geben. Ob dies die Sicherheit der Stadt wirklich verstärkt oder die zunehmende Präsenz von Uniformierten nicht eher verunsichert, bleibt fraglich. »Durch diese Maßnahmen wird das soziale Angstgefühl nicht etwa verbessert, sondern nur verlagert«, meint Perthus. So werde eine Angst vor bestimmten Gruppen und Räumen produziert – seien es die Trinkenden am Hauptbahnhof, Migranten und Geflüchtete oder Orte wie Connewitz und die Eisenbahnstraße per se. Schon jetzt fahren Autos des Ordnungsamtes durch Leipzig, auf denen »Polizeibehörde« steht. »Die Präsenz der staatlichen Gewalt im öffentlichen Raum wird dadurch massiv verstärkt«, wie Perthus sagt.
Erstarkung der autoritären Hegemonie
Warum das traditionell links-sozialdemokratische Leipzig sich so sehr der konservativ-autoritären Landesregierung anpasst, kann mehrere Gründe haben. Die Polizei selbst begründet die Maßnahmen mit dem Bevölkerungswachstum der Stadt und einem damit einhergehenden Anstieg der Kriminalitätsrate. In einem geheimen Lagebericht der Leipziger Polizei vom Januar 2018, der an die Öffentlichkeit gelangte, heißt es außerdem: »Es ist zu unterstellen, dass aufgrund fehlender Präsenz im öffentlichen Raum rechtsanwendungsfreie Räume geduldet bzw. die Entstehung solcher billigend in Kauf genommen werden.« Eine durchschnittliche jährliche Zunahme von 4.000 bis 5.000 Straftaten sei bei dem derzeitigen Bevölkerungszuwachs realistisch. Tatsächlich ist die Polizeikriminalitätsstatistik jedoch differenziert zu bewerten, da sie zwar das polizeiliche Registrierungsverhalten von Verdachten auf Straftaten abbildet, nicht jedoch die tatsächlichen Kriminalitätszahlen erfasst.
Dennoch offenbart das Papier eine Diskrepanz zwischen einem »hochkriminalitätsbelasteten wachsenden Ballungsraum« und der Ausstattung der Polizeidirektion, die »die geringste Personalstärke in Relation zum tatsächlichen Kriminalitätsaufkommen« habe. Bis zu 206 Beamte fehlen demnach in Leipzig, verteilt auf Vollzugsbeamte und Verwaltungsleute. Dies führe zu Mehrbelastung und höheren Krankenständen, was sich negativ auf die Polizeiarbeit auswirkt. Das Problem des fehlenden Personals bei der Leipziger Polizei ist kein neues. Mit der sächsischen Polizeistrukturreform 2013 wurden im gesamten Freistaat Personalstellen abgebaut. Dies wurde zwar inzwischen gestoppt, der Wiederaufbau geschieht jedoch nur sukzessive, beispielsweise durch die in dem internen Leipziger Papier angekündigte Schaffung eines Lehrrevieres, an dem junge Polizisten Praktika absolvieren und so schneller für den Vollzug fit gemacht werden können. »Die Politik hat die Zeichen der Zeit erkannt und hat den Personalabbau gestoppt«, sagte Polizeisprecher Andreas Loepki vergangenes Jahr. Der Zuwachs sei aber erst nach 2018 sichtbar.
Hinter den Maßnahmen steckt jedoch mehr als lediglich eine Reaktion auf die Bevölkerungsentwicklung. Das zunehmend autoritäre Agieren der Exekutivbehörden und die steigende repressive Präsenz der Beamten im öffentlichen Raum geschehen im Kontext politischer Veränderungen im Land. »Wir erleben derzeit nicht nur die Erstarkung der Neuen Rechten, sondern auch eines autoritären Hegemonieprojektes«, sagt Perthus. So sei nicht nur die Zustimmung zur AfD gewachsen und die CDU nach rechts gerückt, sondern die generelle Zustimmung zu autoritärer Konfliktlösung gewachsen – auch bei linken Akteuren. Autoritäre Akteure seien sichtbar, die Forderung der Opposition zur Demokratisierung des Exekutivorgans dagegen weniger. »Auch das mediale Klima zu den Themen Sicherheit, Polizei und Kriminalität hat einen unglaublich hohen Stellenwert«, sagt Perthus. »Weit vor sozialer Ungleichheit, Rente oder Mieten.«
Beschwerdestelle als mögliche Lösung
Es sind Beobachtungen wie das Treten oder Schlagen von Demonstrationsteilnehmenden oder der unrechtmäßige Einsatz von Tränengas durch die sächsische Polizei bei den Protesten gegen den G20-Gipfel, die die Forderungen nach Demokratisierung der Polizei vorantreiben. Eine Kontrollinstanz bilden in anderen Ländern Unabhängige Polizeibeschwerdestellen, bei denen Bürgerinnen und Bürger unrechtmäßiges Verhalten von Polizeibeamten anzeigen können. In Sachsen gibt es eine solche Beschwerdestelle zwar seit Anfang 2016, jedoch untersteht diese dem Innenministerium, hat keine Ermittlungszuständigkeit und keine disziplinarische Kraft. Der Fall des Leipziger Fotografen Marco Bras dos Santos zeigt, warum dies ein Problem darstellt: Dieser reichte im Herbst 2016 Beschwerde gegen eine Polizeibeamtin ein, weil diese am Rande einer Demonstration in Heidenau ihren Dienstausweis nicht erkennbar zeigte. Gegen die Polizistin wurde zwar nicht ermittelt, stattdessen zeigte diese jedoch Santos an, wegen Verstoß gegen das Kunst- und Urheberrecht. Santos hatte als Beweis der Beschwerdestelle ein Video zur Verfügung gestellt, das dokumentierte, wie die Polizistin mit ihrem Dienstausweis so sehr herumfuchtelte, dass man die Dienstnummer nicht lesen konnte. Dies soll eine unrechtmäßige Verbreitung gewesen sein, so die Staatsanwaltschaft.
Zwar wurde Santos letztendlich freigesprochen, aber dennoch verdeutlicht der Fall, warum Polizeibeschwerdestellen unabhängige Instanzen sein sollten. »Die aktuelle Beschwerdestelle beim Innenministerium ist ein zahnloser Tiger. Sie ist nicht unabhängig und damit im Zweifel auch Weisungen des Innenministeriums unterworfen. Ihr fehlt eine gesetzliche Grundlage, wodurch die Kompetenzen nicht eindeutig geregelt sind und beispielsweise umfassende eigene Ermittlungen zu Sachverhalten gar nicht möglich sind«, sagt der Landtagsabgeordnete Lippmann. Mehr als 1.200 Beanstandungen und Vorschläge hat die zentrale Beschwerdestelle der sächsischen Polizei bisher entgegengenommen. Nach Informationen des Innenministeriums ging es in einem Drittel der Fälle um Kritik an der Polizeiarbeit, der Großteil waren aber sonstige Anliegen wie Bitten, Hinweise, Anregungen und Anfragen.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema »Unabhängige Polizeibeschwerdestelle in Sachsen« im vergangenen November klagte auch Elke Steven vom Komitee für Grundrechte über dieses Problem. »Bei Klagen in Folge von Demonstrationen folgt meist eine Gegenklage wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte«, so Steven. Dies sei jedoch ein gesamtdeutsches Problem, international seien Beschwerdestellen hingegen eher selbstverständlich. »Notwendige Bedingungen für funktionierende Beschwerdestellen sind die Kennzeichnung von Beamten, eine Unabhängigkeit von der Exekutive, die strafrechtliche Verfolgung, die Frage nach der Zusammensetzung des Personals und eine Ermittlungsbefugnis«, so die Grundrechtlerin. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern schon seit Jahren die Einrichtung solcher Stellen in Deutschland.
Auch Thomas Müller, Integrationsbeauftragter der Polizei Bremen, sagte im Rahmen der Diskussion, dass so eine Institution nicht nur für Bürger von Vorteil wäre. »Es wäre eine Erleichterung für die Polizei, wenn es unabhängige Beschwerdestellen gäbe.« Denn so herrsche nicht nur eine Null-Fehler-Kultur unter den Beamten, sondern auch ein enormer Korpsgeist, der es den Polizisten quasi unmöglich mache, Fehler der Kollegen im Amt anzuzeigen oder gegen diese auszusagen. »In Fällen von Strafanzeigen gegen Polizisten ermitteln in Deutschland faktisch Kollegen gegen Kollegen«, sagt auch Lippmann. Dies führe nicht unbedingt dazu, dass die Ermittlungen immer unabhängig und umfassend seien. Außerdem könne der Tatverdächtige oft gar nicht ermittelt werden, weil die Beamten im Einsatz aufgrund fehlender Kennzeichnungspflicht nicht identifizierbar sind.
Eine Zunahme militanter und autoritärer Tendenzen innerhalb der sächsischen Polizei ist politisch determiniert und wird durch die bevorstehende Reform des sächsischen Polizeigesetzes nur noch deutlicher zum Ausdruck kommen. Dennoch gibt es Ansätze, die eine demokratische Kontrolle des Exekutivorgans verbessern könnten. Kennzeichnungspflicht und Beschwerdestellen gehören zu Ideen, denen in der politischen Debatte weiter Raum eingeräumt werden sollte. So wüssten die Leipziger in Zukunft wenigstens, welcher Polizeibeamte sie künftig maßregelt, wenn dieser auf seiner Streife durch die Trams mal wieder jemanden erwischt, der die Füße auf den Sitz legt.