Einsamkeit ist das nächste schlimme Ding in der an schlimmen Dingen nicht armen westlichen Welt. Leipzig ist vorne mit dabei. Schließlich hat es Berlin als Singlehochburg überholt. Die Gegenstrategen stehen längst auf der Matte. Mit Hausbesuchen, Nachbarschaftstreffs, Patchwork-Communitys oder kostenpflichtigen Kuschelangeboten wollen sie den Einsamen helfen. Die hören aber manchmal lieber Podcasts
»Man muss schon ziemlich verzweifelt sein, wenn man so was macht«, sagt Lena Lauer*. Lauer ist ziemlich verzweifelt, denn sie hat keine Freunde. Um welche zu finden, hat sie auf der Plattform beste-freundin-gesucht.de ein Inserat aufgegeben: »Insgesamt würde ich mich als zurückhaltenden Menschen beschreiben, der aber schnell auftaut, sobald er Vertrauen gefunden hat.« Sie hat sich viel Mühe gegeben, so wie bei einem Bewerbungsschreiben, sagt die 29-Jährige. Aber mehr als ein bisschen Chatten ist dabei noch nicht rumgekommen. Dabei versucht sie, auch immer auf das Profil der anderen Frauen einzugehen. Doch wenn sie mit jemandem zwei Mal hin- und herschreibt, ist das schon viel. Wenn sie Freundschaften schließe, dann keine halben Sachen, ganz oder gar nicht, sagt sie. Leider landet sie mit der Einstellung dann immer bei gar nicht. Es gibt niemanden in ihrem Leben, den sie als Freundin bezeichnen würde.
Jemand habe mal zu ihr gesagt: »Erinnere mich daran, dass ich dich anrufen wollte.« Damit kann sie nichts anfangen. Man muss das doch selbst wollen, sagt sie. Sie saß auch schon im Café, hat gewartet auf eine neue Freundin, mit der sie bislang nur online Kontakt hatte. Aber sie kam nicht. Lauer findet das nicht nachvollziehbar, peinlich. »Internet halt«, sagt sie.
Traurige Realität des modernen Lebens
Einsamkeit als gesellschaftliches Problem wird seit geraumer Zeit immer mal wieder öffentlich thematisiert – nicht zuletzt seitdem Großbritannien am Anfang des Jahres ein Einsamkeitsministerium eingeführt hat.
Premierministerin Theresa May begründete den Schritt mit der »traurigen Realität des modernen Lebens«. Denn mehr als neun Millionen der knapp 66 Millionen Briten fühlen sich laut Rotem Kreuz immer oder häufig einsam. Auch in Deutschland werden seitdem Rufe laut, die Politik solle mehr unternehmen. »Es muss für das Thema Einsamkeit einen Verantwortlichen geben, bevorzugt im Gesundheitsministerium, der den Kampf gegen die Einsamkeit koordiniert«, forderte Karl Lauterbach von der SPD. Zumindest als Wort hat es die Einsamkeit in den Koalitionsvertrag geschafft: Die Gesellschaft wird individualisierter, mobiler und digitaler und dadurch auch einsamer, heißt es dort. Genaue Strategien gegen Einsamkeit wurden allerdings nicht festgelegt.
Aber was ist eigentlich Einsamkeit? »Einsamkeit ist ein Gefühl der inneren Leere und Verlassenheit, während Alleinsein ein Zustand ist«, sagt Karin Demming vom Start-up Bring Together. »Wer also einsam ist, nimmt nicht mehr am sozialen Leben teil. Er fühlt sich ausgeschlossen von der Gesellschaft.« Hausbesucherin Katrin Kapinos definiert es so: »Einsam ist man, wenn man unter dieser Situation leidet.« »Einsamkeit ist wie eine dunkle Wolke, die über einem schwebt«, sagt Elisa Meyer, die als professionelle Kuschlerin arbeitet. »Man wird bissig, ironisch und negativ den anderen gegenüber.« Einsamkeit spiele oft eine Rolle bei psychischen Erkrankungen, hat der Heilpraktiker für Psychotherapie Gilbert Then beobachtet.
Schlimmer als 15 Zigaretten
»Einsamkeit ist das neue Rauchen«, behauptet Manfred Spitzer. Der Bestsellerautor und Professor für Psychiatrie in Ulm hat dieses Jahr sein neues Buch »Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich« veröffentlicht und in dem Zusammenhang in allen möglichen Medien die schreckliche Kunde verbreitet: »Einsamkeit bringt ein größeres Sterberisiko mit sich als 15 Zigaretten am Tag, Fettleibigkeit oder Bluthochdruck.« Wenn Raucher nun aber auf die Idee kämen, einfach in fröhlicher Runde an der Zigarette zu ziehen, um die Gesundheit zu fördern, würde das wahrscheinlich nicht viel bringen. Denn Spitzer neigt dazu, die Dinge etwas zu überspitzen, worauf schon seine Verkaufsschlager mit den alarmierenden Titeln »Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen« oder »Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert« hindeuteten. Nun ist für ihn also Einsamkeit die »Todesursache Nummer eins«. Dabei fängt der Fehler schon im Titel an. Einsamkeit ist per definitionem keine Krankheit. Sie ist vielmehr ein Symptom, wobei Ursache und Wirkung teils schwer zu unterscheiden sind. Depressive Menschen fühlen sich auch umgeben von ihrer Familie oder ihren Freunden oft einsam. Andererseits neigen einsame Menschen wiederum auch zur Depression. Oder zur Paranoia.
[caption id="attachment_68541" align="aligncenter" width="640"] Foto: Marcel Noack[/caption]
»Viele merken gar nicht, was das mit ihnen macht«, sagt Heilpraktiker Gilbert Then. Er hat es oft erlebt, dass einsame Menschen Vorstellungen entwickeln, die nicht der Realität entsprechen. Manche erzählen ihm voller Überzeugung, sie würden abgehört. Andere werden angeblich komisch angeschaut oder verfolgt. Immer wieder hören sie Stimmen oder Geräusche. Eine Frau ist auch der Ansicht, dass ihre Sachen in ihrer Wohnung ausgetauscht wurden, als sie nicht da war – egal ob Klamotten oder Weinflaschen. Eine andere Frau wartete mit der Bratpfanne bewaffnet auf ihre Nachbarin, um ihr eins überzuhelfen. Wenn sich ein Bewohner über den Lärm seiner Nachbarn beschwert, läuten bei Then die Alarmglocken. Suche nach Streit ist auch Suche nach Kommunikation.
In der DDR brachte der Betrieb die Freizeit mit
Then hat schon 2001 festgestellt, dass immer mehr Leute, die in Leipzig wohnen, vereinsamen. Damals gründete er den Verein Gemeinsam statt Einsam, der Sommerfeste, Grillpartys, Skatrunden oder auch Ausflüge nach Eisleben oder zum Schloss Wackerbarth anbietet.
Vor fünf Jahren hatte Then das Gefühl, dass die Sache mit der Einsamkeit eskalieren wird. »Wir kriegen ein dickes Problem mit alten Menschen ohne soziale Struktur«, war er sich sicher. Inzwischen sieht er die Entwicklung nicht mehr ganz so negativ. Die 60- bis 70-Jährigen sind heutzutage besser aufgestellt als die 80- bis 90-Jährigen. Die sind ungefähr zur Wendezeit in Rente gegangen, haben in der Bundesrepublik nie gearbeitet, sind nicht mehr im System angekommen. Denn in der DDR waren fast alle sozialen Strukturen mit dem Arbeitsplatz verknüpft. Es gab den Betriebssportverein, das Betriebsferienlager, den Betriebsliteraturzirkel, Betriebschor, Ferienlager für die Kinder der Angestellten und Bungalows des Betriebs für die eigenen Ferien. Wer krank war, konnte in den großen Betrieben sogar zur dazugehörigen Poliklinik gehen. Als die Betriebe nach der Wende geschlossen wurden, fielen damit also auch viele Gemeinschaftsaktivitäten weg.
Die heute 60- bis 70-Jährigen waren damals zwischen 30 und 40 Jahre alt, viele haben Wege gefunden, im neuen System irgendwie ohne Betriebschor klarzukommen. Auch im Rentenalter tun sie oft selbstständig etwas, um Einsamkeit zu vermeiden. Sie lernen mit dem Computer zu kommunizieren, um in Kontakt zu bleiben. Wenn die Enkel nicht mehr ans Telefon gehen, muss die Oma Whatsapp lernen. Sie fahren eigenständig in den Urlaub und warten nicht darauf, dass jemand an der Tür klingelt, um ihnen Unterhaltungsangebote zu unterbreiten. Jemand wie Katrin Kapinos zum Beispiel.
Einsamkeit ist peinlich
Sie verschenkt Blumen gegen Vereinsamung. Mit einem Strauß kommt sie zum 75. Geburtstag bei Menschen vorbei, die sie gar nicht kennen. Sie will ihnen gratulieren. Und sie will herausfinden, ob das Geburtstagskind vielleicht einsam ist und Hilfe braucht. »Präventive Hausbesuche« heißt das Projekt in Gohlis, das von der Deutschen Fernsehlotterie gefördert wird.
Beratungsstellen gebe es in Leipzig genug, findet Kapinos. Ein Beamter sitzt an seinem Schreibtisch und wartet darauf, dass ein einsamer Mensch zu ihm kommt. Meist vergeblich. »Viele Leute brauchen jemanden, der die Initiative übernimmt«, sagt Kapinos. Oft sind es gesundheitliche Einschränkungen, die zur Einsamkeit führen. Man kann nicht mehr so, wie man will. Vielen ist es peinlich, dass sie hilfsbedürftig sind, so dass sie lieber gar nicht erst rausgehen. »Es fällt schwer zuzugeben, dass man einsam ist«, sagt Kapinos. Daher müsse die Stadt die präventiven Hausbesuche mehr unterstützen, die bereits in Tschechien oder auch anderen deutschen Kommunen erfolgreich durchgeführt werden.
Die Menschen und Firmen, die mit einsamen Menschen Geld machen wollen, erreichen sie weit schneller als die Stadt. Then erzählt von einem Mann, der jeden Monat seine Rente von 2.000 Euro ausgibt. Dabei ist die Miete für seine Einraumwohnung eher niedrig. Doch er bestellt immer wieder alles Mögliche – von Tiefkühlkost bis Tageszeitungen. Hauptsache, es klingelt mal jemand an der Tür. »Damit sie mit jemandem reden können, unterschreiben sie alles«, kann auch Kapinos berichten.
Singlehochburg Leipzig
Die meisten Menschen in Leipzig leben allein. Früher galt Berlin als die Hochburg der Singles, doch Leipzig hat die Hauptstadt inzwischen überholt. Mit 52,6 Prozent Singlewohnungen hat sie den drittgrößten Prozentsatz der Bundesrepublik, wie eine Studie der Marktforschungsgesellschaft GfK Anfang des Jahres herausfand. Mehr gibt es nur in Würzburg und Regensburg (warum gerade in zwei bayerischen Städten, müssen die dortigen Stadtmagazine oder Horst Seehofer klären).
[caption id="attachment_68539" align="aligncenter" width="640"] Foto: Marcel Noack[/caption]
»In den letzten Jahren haben sich durch den demografischen Wandel die Lebensformen stark verändert«, erklärt Karin Demming den Trend zum Singlehaushalt. »Zu erkennen ist eine starke Vereinzelung; die klassischen Familienstrukturen haben sich nahezu aufgelöst, ebenso die traditionelle Familienform ›Ehepaar mit Kindern‹.« Demming will das ändern. Die Leipzigerin hat zusammen mit ein paar Mitstreitern das Start-up Bring Together ins Leben gerufen. Dessen Ziel: »die Förderung von gemeinschaftlichen Lebens- und Wohnformen sowie die Stärkung nachhaltiger und solidarischer Handlungsprozesse in der Gesellschaft«. Oder fürs Marketing prägnanter zusammengefasst: »Zusammen gegen die Einsamkeit, finde deine Patchwork-Community.« Für die passende Community suchen sie Matches, also Menschen, die für ein gemeinsames Wohnprojekt zusammenpassen. Fragt man Demming, ob es jetzt solcher Patchwork-Communitys bedarf, weil das Zusammenleben mehrerer Generationen in »herkömmlichen« Familien nicht mehr funktioniert, malt sie ein recht düsteres Bild der heutigen Gesellschaft: »Obwohl es uns vermeintlich gut geht, haben viele der Menschen ihr Sicherheitsgefühl verloren. Jeder kämpft für sich, wir sind auf Konsum konditioniert. Höher, schneller, weiter! Wettbewerb, wohin man schaut – zeig mir, was du hast, und ich sage dir, wer du bist. Und jeder schaut nur noch auf sich.« Auch die Schere zwischen Arm und Reich spiele eine große Rolle. Und die Politik, denn nicht mehr alle verstünden die ganzheitlichen Zusammenhänge, sondern merkten stattdessen, dass sich etwas nicht richtig anfühle.
»Es war also nur eine Frage der Zeit für den Beginn einer Gegenbewegung«, schlussfolgert Demming. »Das Schaffen von Wahlfamilien, also Gemeinschaften, kann unsere sozialen Sicherungssysteme nachhaltig entlasten.«
Solche privat organisierten Wohnprojekte gibt es natürlich schon weitaus länger als das schicke Start-up. Von Wohngemeinschaften, bei denen das Matchen beim WG-Casting mit Bier am Küchentisch stattfindet, bis zu Wächterhäusern, bei denen sich verschiedene Menschen zusammentun, um heruntergekommene Bauten zu bewohnen.
Mobilität führt zu Einsamkeit
Heilpraktiker Then hat zudem beobachtet, dass bei Geflüchteten der Familienzusammenhalt viel stärker ist. Deswegen leiden auch viele darunter, wenn sie ihre Familie nicht nachholen können. »In Deutschland sind die Familien aufgedröselt«, sagt er, »es gibt eher lose Bindungen.« Dass Familien nicht mehr zusammenwohnen, sieht er als einen der Gründe, warum gerade die Menschen im Alter sich so einsam fühlen. Die Kinder sind meistens in andere Städte gezogen. Dennoch würde er nicht dazu raten, ihnen zu folgen. »Ich kenne nur Leute, die es bereut haben«, sagt Then. Sie finden keine neue Kontakte, müssen die Gegend erst langsam neu erkunden und der Sohn, dessentwegen man umgezogen ist, kommt nur alle paar Wochen mal vorbei. »Die meisten ziehen ja nicht zum Sohn ins Haus«, sagt Then, »sondern nur in seine Nähe.« Mobilität führt zu Einsamkeit, glaubt er.
Die professionelle Matcherin Demming sieht das ähnlich, zieht den Zusammenhang aber auch bei jungen Leuten. »Wer heute beruflich vorankommen möchte, muss sicher mehr als einmal umziehen, dorthin, wo er bessere Ausbildungs- und später Berufschancen hat. Den hohen Anforderungen geschuldet bleibt wenig Zeit, sich um ein soziales und stabiles Umfeld zu kümmern. Viele der erfolgreichen jungen Menschen binden sich deshalb auch meist sehr spät.«
Ehen werden im Durchschnitt nach 15 Jahren wieder geschieden. Aus einem Haushalt werden zwei. Oder man bleibt verheiratet, bis der Partner stirbt. Der typische Fall: der Partner tot, der Freundeskreis zusammengeschmolzen, die Familie irgendwo anders. Ohne es zu wollen, landet man in der Isolation.
Sechs Monate tot in der Wohnung
Viele wohnen danach bis zu ihrem Tod allein. Immer wieder hört man Geschichten von Menschen, die monatelang tot in ihren Wohnungen lagen, ohne dass es jemand merkt. Auch Then hat das schon erlebt. Sechs Monate verweste ein Mann in seiner Wohnung, bis ihn jemand fand.
Bei der Leipziger Polizei heißt es allerdings, dass sich die Zahl der Toten, die man erst nach mehreren Tagen oder Wochen in ihren Wohnungen findet, für die Großstadt Leipzig in Grenzen halte. »Die Toten liegen meistens 24 bis 48 Stunden in den Wohnungen«, sagt Polizeisprecher Udo Voigt auf kreuzer-Anfrage. »Ausnahmen hatten wir in den letzten Jahren nur einmal, wo ein Toter über mehrere Monate in der Wohnung lag.« Die Gründe, wieso andere den Tod bemerken, seien vielfältig. Voigt nennt als Indizien: überfüllte Briefkästen, dass ein Hausbewohner mehrere Tage nicht gesehen wurde oder nicht zu einem regelmäßigen Termin erscheint. »Viele der aufgefundenen Toten sind natürlich auch einsam«, sagt Voigt, »sie haben keine Verwandten mehr oder es besteht eben kein Kontakt mehr zu diesen«.
Was gegen die Einsamkeit getan wird, unterscheidet sich in den Leipziger Stadtbezirken. In Grünau gibt es eine große Vielfalt an soziokulturellen Angeboten, in Thekla oder Sellerhausen dagegen kaum.
Unterschiede im Umgang mit der eigenen Einsamkeit gibt es auch im Geschlecht. »95 Prozent, die in unsere Begegnungsstätten kommen, sind Frauen«, sagt Kapinos. Warum? »Sie sind sozialer eingestellt«, glaubt sie, »und sie werden meistens älter als Männer.« Männer würden zudem eher denken, sie kämen schon alleine klar. Für Frauen sei es daher im höheren Alter schwieriger, einen neuen Partner für eine Liebesbeziehung zu finden. Aber mit 70 Jahren hat sich auch die Vorstellung von Partnerschaft geändert. Heiraten und Kinderkriegen ist kein Thema mehr, man sucht eher jemanden, mit dem man was unternehmen kann. Alter und Geschlecht spielen dabei nicht mehr so eine wichtige Rolle. Es kann also auch eine Frau sein, die den verstorbenen Ehepartner ersetzt.
Kuscheln gegen Geld
Aus achtzig Prozent Männern besteht die Kundschaft von Elisa Meyer. Meyer ist professionelle Kuschlerin. Das heißt, sie wird von Menschen dafür bezahlt, dass sie mit ihnen kuschelt. Seit November lebt die Luxemburgerin in Leipzig, vorher hat sie ihre Kuschelkiste in Wien etabliert. Bislang hat sie nur zwei, drei Kunden pro Woche, die aber teilweise aus dem ganzen Land oder auch aus Prag anreisen, um sich mit Meyer auf die Couch in ihrer Schleußiger Dachgeschosswohnung zu legen. Kostenpunkt fürs Kuscheln: 60 Euro pro Stunde. Gehen Männer mit dem Geld nicht lieber zu Prostituierten? »Auch Prostituierte erzählen, dass manche ihrer Kunden einfach nur reden und kuscheln wollen«, sagt Meyer. Sie sieht im Kuscheln einen therapeutischen Zweck. »Gesprächstherapie in einem anderen Rahmen« nennt sie das. Für viele sei das Reden wichtig, weil sie nur Kollegen zum Quatschen hätten, denen sie keine in-timen oder persönlichen Dinge erzählen wollen. Neben der Möglichkeit des Redens spielt beim Kuscheln natürlich die Berührung eine wichtige Rolle. Kuscheln sei gut gegen Stress, Bluthochdruck und gut fürs Immunsystem. »Durch Berührung werden Schmerzen gesenkt«, sagt Meyer. »Händchenhalten beim Zahnarzt ist also auf jeden Fall hilfreich.« In der Schweiz gibt es Berührung als Heilung, auch in den USA sind Kuschelstunden schon viel bekannter. Hierzulande wird Kuscheln nicht von der Krankenkasse bezahlt. »Noch nicht«, sagt Meyer. »Aber wenn ich jetzt sage, Schmerzmittel und Antidepressiva kann man durch Berührungstherapie ersetzen – dann wirds heikel«, hat sie erkannt. Es gebe noch nicht genug Studien. Autor Manfred Spitzer ist aber schon mal der gleichen Meinung wie Meyer.
Bekannter als die Solo-Kuschel-Sitzung sind sogenannte Kuschelpartys, die es schon seit über zehn Jahren gibt. Dort treffen sich mehrere Menschen, um sich zusammenzulegen. »Wie Hundebabys«, sagt Meyer. Dabei entwickelten sie ein Gefühl von Geborgenheit. Ein Nest.
Doch nicht immer ist Berührung etwas Wohltuendes. Das hat nicht erst die Metoo-Debatte gezeigt. Distanz kann vor allem nützlich sein, um unangenehme oder gefährliche Kontakte zu vermeiden. Sobald einer Macht ausübt, ist schon seine Hand auf der Schulter zu viel. Die zwanzig Prozent Frauen, die zu Meyer kommen, tun das meistens eher nicht zum Plaudern, sondern zur Traumabewältigung. Sie haben Angst vor Berührungen, wollen aber wieder angefasst werden. »Es ist gefährlich, wenn man wegen der schlechten Erfahrung alle Menschen auf Distanz hält«, sagt Meyer. Dennoch gibt es natürlich Menschen, die mit dem Alleinsein sehr gut zurechtkommen. Die einmal in der Woche mit einer Freundin oder einem Familienmitglied telefonieren und den Rest der Zeit zufrieden allein verbringen. »Das sind aber eher Einzelfälle«, sagt Then.
[caption id="attachment_68542" align="aligncenter" width="640"] Foto: Marcel Noack[/caption]
»Wenn man keine Lust hat, braucht man gar nicht mehr mit Menschen zu reden«, sagt Meyer. Man kann alles über das Internet regeln. Doch das verändere die Art der Kommunikation. Bei Chats sind Missverständnisse im Gespräch wahrscheinlicher, weil die Eindrücke von Gestik und Mimik fehlen.
Leben mit Soziophobie
Für Lena Lauer, die im Internet Freunde sucht, ist das Netz nicht nur Fluch, sondern auch Segen. Bei ihr ist die Einsamkeit tatsächlich Symptom einer psychischen Erkrankung. Sie leidet unter Soziophobie, also der Angst, in sozialen Situationen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Lauer sagt, das führe vor allem zur Vermeidung solcher Situationen. Nur an guten Tagen schafft sie es, dem Postmann die Tür zu öffnen. »Wenn ich mal zum Schuster gegangen bin, dann feiere ich das.« Wegen der Erkrankung wurde sie für arbeitsunfähig erklärt, hat daher keinen festen Job. Einmal in der Woche hilft sie bei Oxfam aus, sortiert dort die Kleidung. »Meistens die Unterwäsche«, sagt sie verlegen. So richtig gefällt es ihr aber da nicht, sie will eigentlich mehr arbeiten, bei einem Job, der die Tage strukturiert. Stattdessen sitzt sie zu Hause. Was macht man da den ganzen Tag? »Den Haushalt, Hemden bügeln«, sagt sie, lacht, weil sie weiß, dass das nicht so viel ist, und fügt an: »Im Internet rumhängen, Computer spielen, Podcast hören.« Podcasts stellen für sie einen Ersatz für echte Freundschaften dar. Dort kann sie am persönlichen Leben anderer Menschen teilhaben. Ihr Lieblingspodcast trägt auch noch den Titel »Beste Freundinnen«. Allerdings tauschen sich dort zwei Männer über Sex aus.
Lena hat selbst einen Mann. Mit ihm ist sie aus der Nähe von Hamburg zusammen nach Leipzig gezogen. Er unterstützt sie, gibt ihr Halt. Aber er ist auch viel unterwegs, hat einen festen Job und eine Band. Manchmal ist Lena dabei, wenn er seine Freunde trifft. »Doch dann bin ich sehr still«, sagt sie. Sie glaubt, dass sich die anderen nicht für sie interessieren, weil sie nicht mitreden kann: über Arbeit, Freunde und das Leben. »Ich denke immer: Was sollen die von mir wollen? Ich bin keine studierte Ärztin.«
Der Umzug vor einem halben Jahr von Stade bei Hamburg nach Leipzig hat sie noch einmal zurückgeworfen. In Stade hat sie in einem Café gearbeitet, einem Ort, wo Gesunde und Kranke zusammenkamen. Das fehle in Leipzig, sagt sie. Doch in Leipzig gebe es mehr Gleichaltrige, nicht nur alte Leute. »Die Leute hier sind sehr frei«, hat sie beobachtet. »Sie setzen sich einfach irgendwo auf die Wiese oder die Straße.« Wenn sie das sieht, denkt sie: Das schaffe ich nie. Ihr nächstes Ziel ist es, an einem Spieleabend von nebenan.de teilzunehmen. Spieleabende findet sie gut, dort fühlt sie sich erwünscht. »Man braucht schließlich immer jemanden, der mitspielt.«
Lauer gibt sich schon seit Jahren mit der Situation ab. »Andere Frauen schaffen sich Kinder an, um nicht einsam zu sein«, sagt sie. Aber das fände sie dann auch schade. Oft ist sie auch gerne allein. »Das Schöne am Alleinsein ist die freie Zeiteinteilung«, sagt sie. »Man kann machen, wonach einem der Sinn steht.« Und für einen kurzen Moment ist die Verzweiflung verschwunden.
Wohin mit der Einsamkeit?
Telefonnummern, die weiterhelfen
- Leipziger Nightline – studentisches Sorgentelefon von 21 bis 0 Uhr:
9 73 77 77
- Telefonseelsorge der Leipziger Diakonie, 24 Stunden erreichbar:
0800 1 11 01 11 oder 0800 1 11 02 22
Webseiten für die Freundschaftssuche
Angebote für Senioren
- Der Verein Gemeinsam statt einsam veranstaltet Kreativnachmittage,
Hausbesuche und Ausflüge: www.gemeinsam-statt-einsam-leipzig.de
- Die Stadt bietet Seniorenbesuchsdienste an: 1 23 45 33,
seniorenbesuchsdienst@leipzig.de
Menschen zum Anfassen
Wer sonst noch hilft
- Der Verein Sefa vermittelt freiwillige Großeltern, die Familien und Alleinerziehenden bei der Kinderbetreuung helfen, und Besuchsdienste, die einsamen Rentnern helfen: www.sefa-leipzig.de
- Die Stiftung Bürger für Leipzig organisiert viel soziale Begegnungen – ob Gemeinschaftssingen im Johannapark, Erzählcafés oder Besuche von Kulturveranstaltungen mit ärmeren Bürgern: www.buergerfuerleipzig.de
- Das Start-up Bring Together vermittelt die passende Wohngemeinschaft oder Patchwork-Community: www.bring-together.de