anzeige
anzeige
kreuzer plus

»Kritik an der Kleinbürgerhölle«

Schauspielintendant Enrico Lübbe über »Faust« und Fußball, Konkurrenz und Kollegen

  »Kritik an der Kleinbürgerhölle« | Schauspielintendant Enrico Lübbe über »Faust« und Fußball, Konkurrenz und Kollegen

Das Schauspiel setzt seine Strategie der Doppelbefragung fort: Nun wird Goethe gegen Goethe gesetzt oder verschränkt: »Faust I« vs. »Faust II«. Mit dem kreuzer spricht Regisseur Enrico Lübbe über die Wirrungen der Rezeption dieses zum sehr deutschen erklärten Stoffes, Kalendersprüche und seine Freuden außerhalb des Theaters.

kreuzer: Was reizt Sie am »Faust«-Stoff?

ENRICO LÜBBE: Bei längerer Beschäftigung merkt man, dass er überladen ist mit sehr viel Rezeptionsgeschichte, die sich über das Stück gelegt hat. Goethe hat selbst gesagt, er habe im ersten Teil die kleinbürgerliche Beschränktheit, die Enge beschrieben. Das Bemerkenswerte ist, wie es dieses Land geschafft hat, sich das Stück auf die Fahne zu schreiben als sein Nationaldrama.

kreuzer: Und Leipzig schmückt sich mit dem Paris-Vergleich eines betrunkenen Studenten …

LÜBBE: Ja. Das sind zum Teil Kalendersprüche, aber sie werden immer wieder zitiert. Ich hab da vielleicht auch einen kleinen Schaden, weil ich auf einem Goethe-Gymnasium Abi gemacht habe. Den »Osterspaziergang« kann ich bis zum Schluss aufsagen. Das ist bei uns durchgedroschen worden. Natürlich spielen wir in unserer Inszenierung damit, mit der Situation von »jeder muss ihn können« und dass er eigentlich allen aus den Ohren kommt.

kreuzer: Sie interpretieren die Tragödie neu?

LÜBBE: Wir spielen schon Goethe. Aber bei der Beschäftigung merkt man, was die Rezeption mit dem Stück gemacht hat. Die Figur heißt im Personenverzeichnis Margarethe, nicht Gretchen, und ist ganz unschuldig nicht. Sie wurde von Faust nicht gezwungen, auch sie will raus, sucht das Leben. Und in der Rezeption wurde sie das blond gezopfte Mädchen am Spinnrad.

kreuzer: Das Faustisch-Forschende gilt als so eine urdeutsche Eigenschaft.

LÜBBE: Das Kaiserreich, die Nazis, auch die DDR hatten ihr eigenes Faustbild. Wenn man ehrlich ist: Faust redet die ersten Seiten über sich als Wissenschaftler – und dann wird das nie wieder Thema. Im Grunde ist er ein mittelalter Mann, der sich fragt: »Wars das jetzt?« Es gibt ja diesen Satz, »dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«. Das wird immer als Suche nach Weltwissen verstanden. Aber er will wissen, was das Innere zusammenhält, weil er selbst zerrissen ist. Heute würde man sagen Burn-out, Depression. Das ist das Interessante am »Faust I«, die Kritik an Konformität und Kleinbürgerhölle, aus der man nicht rauskommt. Das passt auch zu einer Zeit, wo es wieder einen Heimatminister gibt.

kreuzer: Und »Faust II«?

LÜBBE: Ist eher eine große Themensammlung, wie Goethe selbst schon sagte, die er am Ende »in ein apartes Kistchen« eingekästelt hat, um es der Nachwelt zu überlassen. Man durfte es zu seinen Lebzeiten nicht lesen, weil er Angst hatte vor der Rezeption. Auch damit spielen wir.

kreuzer: Was nehmen Sie an Dramatik aus der philosophischen Themensammlung?

LÜBBE: Goethe interessierten Papiergeld und Inflation, künstliche Intelligenz oder Menscherschaffung, Landgewinnung. Das werden wir als Thementouren in die Stadt hinein aufgreifen.

kreuzer: Indem sie zu Handel, Anatomie und Braunkohleabbau in die Stadt hinaus führen?

LÜBBE: Genau. Wir vermitteln, um was für eine Themenwelt es geht, spielen aber keine Figuren nach. Uns interessieren an »Faust II« vor allem diese Inhalte. Daher bereiten wir es so auf. Die Idee am Gesamtprojekt Faust war auch die: Das Haus hat ein so großartiges Team auf und hinter der Bühne – alle werden hier gefordert sein. Mit ihnen kann man diesen überbordenden Text als so ein außergewöhnliches Projekt angehen. Auch als Dank an die Stadt, die uns seit fünf Jahren so wohlgesinnt ist.

kreuzer: Ist der Druck, »Faust« zu inszenieren, in Leipzig größer als anderswo?

LÜBBE: Es ist ein Erwartungsdruck, denn die Stadt schmückt sich sowieso schon mit Goethe. Davon muss man sich frei machen. Und jeder hat Bilder zu »Faust« im Kopf. Wenn ich Ostern in der Kirche bin, wird jedes Jahr der »Osterspaziergang« zitiert, komplett. Da sind wir wieder bei der Rezeption: Die Welt im »Faust« besteht aus dumpfen Gemächern, niedrigen Häusern, quetschender Enge; er beschreibt wirklich so kleine Butzelhäuschen. Aber die Rezeption macht daraus »unsere schöne Heimat«.

kreuzer: Sie fühlen sich angekommen in Leipzig?

LÜBBE: Ich denke schon. Unsere Spielplanprogrammatik, auch die Förderung junger Dramatik, könnte man nicht überall machen. Das hat schon sehr mit der Stadt zu tun, die das ermöglicht. Dass es dafür das Publikum gibt, ist natürlich eine Motivation, das so weiterzumachen. Es gibt Kollegen, die müssen da ganz anders kämpfen. Dass auch die Residenz und die Diskothek funktionieren, ist toll. Und das ist auch ein Aushängeschild für die Stadt.

kreuzer: Bleibt es ein Problem, den Großen Saal zu füllen?

LÜBBE: Erst mal ist zu sagen, dass wir überall ein Publikum mit einem Durchschnittsalter unter 40 haben; 38,5 Jahre ganz genau. Das ist super. Aber daran hängt auch die Besonderheit, dass es ein Publikum ist, das nicht so langfristig plant. Das verstehe ich. Sie sagen: Ich will genau das Stück sehen, buchen mit dem Smartphone ihre Karte. Wenn das an dem Abend nicht läuft, kommen sie ein anderes Mal. Sie gehen nicht einfach mal so ins Theater. Damit lässt sich viel schwieriger kalkulieren. Aber die Älteren kommen natürlich auch, es gibt hier nicht den klassischen Theaterbesucher. Damit muss man beim Großen Saal umgehen können. Das war bei Engel so, bei Hartmann, das ist kein Intendanzproblem, sondern eher ein Leipzigphänomen. Aber da geht die Tendenz für uns nach oben, das war vorher so nicht abzusehen.

kreuzer: Der neue Dresdener Intendant lässt unter anderem Sebastian Hartmann und Rainald Grebe inszenieren. Ist das eine Konkurrenz?

LÜBBE: Nein, gar nicht. Beide Häuser haben ihre eigene Programmatik und auch die Städte sind ja sehr verschieden.

[caption id="attachment_70082" align="aligncenter" width="640"] Menschen, die auf Goethe starren (Auszug aus Faust), Foto: R. Arnold[/caption]

kreuzer: Sie leben in Markkleeberg, wie entgehen Sie der Kleinbürgerhölle?

LÜBBE: Ach, ist das dasselbe? Wenn man jeden Tag in der Innenstadt so im Fokus arbeitet, ist es wichtig, auch noch ein anderes Leben zu haben. Darum gehe ich oft raus, bin auch regelmäßig in Chemnitz oder fahre ins Erzgebirge.

kreuzer: Man sieht Sie manchmal in die Stadt radeln, ist das ein Hobby oder lieben Sie anderen Sport?

LÜBBE: Die zwölf Kilometer machen nicht bei jedem Wetter Spaß. Aber es tut auch gut, nach der Probe den Kopf frei zu bekommen. Ich war schon immer großer Fußballfan. Es war mein Traum, in einer Stadt zu wohnen, wo ich mit dem Fahrrad zum Stadion fahren kann, um ein Bundesliga- oder auch Champions-League-Spiel zu schauen. Und mein Sohn spielt auch Fußball, da ist man am Wochenende zwangsläufig auch bei diesen legendären Bambini-Turnieren dabei.


Kommentieren


0 Kommentar(e)