Es ist schon reichlich darüber gestritten worden, was nun genau einen Comic ausmacht. Mit Begriffen wie Graphic Novel sollten die Bildgeschichten noch einmal eingekreist werden, aber das taugt nicht. Also schauen wir mal, was ein Sachcomic der Superlative so bereithält.
Scott McCloud charakterisiert den Comic in seiner gezeichneten Reflexion »Comics richtig lesen« als sequenzielle Erzählung in Bild und Schrift. Dies reicht anderen als Definition zu weit, denn demgemäß wären bereits altägyptische Grabmalereien ebenso Comics wie der mittelalterliche Teppich von Bayeux, der von der Eroberung Englands durch die Normannen berichtet.
Deshalb werden Comics im engeren Sinne mit der Verbreitung in Massenprintmedien verbunden und ihr Beginn ins ausgehende 19. Jahrhundert gelegt. Im Jahr 1896 entwickelte der US-Amerikaner Richard F. Outcault seine Cartoons zum ersten Comicstrip, »Yellow Kid«, weiter. Die Presse stand im Konkurrenzkampf, weshalb dieser Nachahmer anzog und »funnies« beziehungsweise »comics« bald die Zeitungsbeilagen füllten.
Die Verschmelzung von Text und Bild macht die Besonderheit des Comics gegenüber anderen Erzählformen aus. Sie besitzen eine eigene Dramaturgie, bei der jedes Einzelbild jeweils eine Art eingefrorenes Tableau bildet. In diesen sind Raum und Zeit in einer Fläche zerlegt. Letztere verrinnt in der Betrachtungsweise von links nach rechts und kann sogar im selben Bild voranschreiten. Den Handlungszusammenhang konstruiert dabei der Leser in seiner Fantasie, denn er verknüpft die Einzelbilder zu einer Geschichte und die eigentliche Übersetzungsleistung findet zwischen den Bildern statt. So hallt das Ticken einer Uhr aus dem ersten Bild auf den nächsten Seiten nach und setzen sich stinkende Industrieabgase in der Nase bis zum nächsten Kapitel fest, in dem sich die Umgebung ändert.
Okay, zurück zu Schrift und Bild: Höchst unterschiedlich kann dabei ihr Verhältnis ausfallen und es gibt auch Exemplare, die ganz ohne Schrift auskommen und trotzdem sequenziell eine Geschichte erzählen. An einigen Neuerscheinungen soll der variierende Text-Bild-Anteil aufgezeigt werden.
Bilderpoesie
Einen Roman gegossen in Bilder hat Rabaté. In seiner letzten deutschen Veröffentlichung »Bäche und Flüsse« behandelte er das Leben im Alter, allerlei Gebrechen und die Vitalität des x-ten Frühlings. Verschrobene, leicht krakelige Illustrationen lassen den psychisch wie somatisch kränkelnden Figuren einigen Freiraum, sich unter dem flüchtigen Strich im Alter zwischen Angelngehen, Kiffen und Liebestrieben einzurichten. In »Der Schwindler« nun taucht der Leser in eine großartige Bildwelt mit nur gehauchten Texten. Dabei ist die Grundlage für das Werk nichts Geringeres als Tolstois »Ibykus«. Schriftsprache findet sich meisterhaft in Bildsprache übersetzt. Es gibt wenige Sprechblasen, der Comic lebt allein von der charmanten Flüchtigkeit der Panels. Die Adaption schuf Rabeté bereits zwischen 1998 und 2001 als Serie, auf Deutsch liegt sie nun in einem dicken, ja: fetten Band vor. Die Abenteuer des kleinen Angestellten Semjon Iwanowitsch Newsorow in der russischen Oktoberrevolution finden sich in pastellenen Schwarz-Weiß-Bildern mit Graustufen festgehalten. Wie schnell hingetuscht und -gewischt wirken die Panels, die die Hochstapeleien, erotischen Ausflüge und andere Eskapaden dieses »König des Lebens« zeigen. Ein kleines Portfolio an Farbstudien, die Rabaté zum Thema schuf, runden den Prachtband ab.
Bilder vom Abgrund
Ebenfalls besonders auf der Bildebene bestechend ist Lucas Hararis »Der Magnet«. Im Mystery-Thriller besucht ein Architekturstudentdas Schweizer Dorf Vals. Tief in den Bergen liegt hier eine Therme, hinter der der Student ein dunkles Geheimnis vermutet und dahinterzukommen versucht. Das ist eine ganz nette Schauergeschichte. Aber tatsächlich steckt in den Zeichnungen der große Wert dieses Comic. Denn die Therme wurde vom bekannten Architekten Peter Zumthor gestaltet. Er ist unter anderem für das Kunsthaus Bregenz verantwortlich und gewann die Ursprungsausschreibung für das Berliner Mahnmalprojekt Topografie des Terrors. Harari nun zeichnet die Therme aus allen möglichen Perspektive und liefert damit eine Hommage an diesen Bau. Grundrisse und Fluchten dieser kubischen Architektur sind mannigfaltig zu sehen auf den oft großflächigen, in Grundfarben gehaltenen Bildern. Dieses Buch ist eine Feier – der Architektur und in seiner schönen Gestaltung mit Leinenheftung und satt-dickem Papier auch des Comics an sich.
Heldinnenrückkehr
Yoko Tsuno is back! Im hohen Alter – sicherlich mit einiger Hilfe anderer – legt Roger Leloup das 28. Abenteuer seiner Heldin vor. »Der Tempel der Unsterblichen« zeigt sich gewohnt im Stil formvollendet. Die Eleganz der Bildstriche, für das die belgische Serie seit 1970 bekannt ist, besticht auch hier wieder. Einmal mehr sind schaurig-schöne Ruinen zu sehen und elektronische Apparate außerirdischer Herkunft. Yoko Tsuno ist nicht nur interessant aufgrund seiner weiblichen Heldin – das war damals noch eher ungewöhnlich. Spannend ist die Serie auch deshalb, weil hier Außerweltliches und Historisch-Fantastisches zusammenkommen, sie also Amalgam aus Science-Fiction und Fantasy ist. So kann man im neuen Band in dieser Hinsicht die Spitze dieses Ansatzes erkennen. Tief im Innern der Erde unter einem Zisterzienserkloster lebt eine antike keltische Kultur. Sie wird von magisch aufgeladen scheinenden Robotern bedroht. Yoko und ihre Freunde müssen einige Wendungen in der Geschichte meistern, um das selbstverständliche Happy End anzusteuern. Da helfen die schönen Bilder an sich nicht mehr aus, der Text ist manchmal zu mager, um immer mit dem Gang der Story mithalten zu können. So wirkt das Album doch leicht überladen.
Rasante Fantasy
Da liest sich »Das Konzil der Bäume« viel leichter weg. Das toll gemachte Album verpackt eine spannende Geschichte um verschwundene Kinder und dämonische Wiederkunft mit schwungvollem Strich im viktorianischen Ambiente. Erst am Ende entpuppt sich der Comic doch als eher konventionell im Inhalt. Was aber nicht viel macht. Es ist einfach mit gutem Erzählbeat ausgestattet, man fliegt beim Lesen dahin und ist weg von den ausladenden, dynamischen Zeichnungen. Die zwei skurrilen Protagonisten und ihr Wortwitz haben ihren eigenen Charme. Dem schurkisch anmutenden, aber mit großem Herz ausgestatteten Kasimir Duprey und der smarten Artemis Hartcourt mit großer Klappe und hartem Kinnhaken beim Ermitteln zuzuschauen, ist reine Freude. Und dafür braucht es nicht viel Text.
Das Geheimnis der Kreuzworträtsel
»Fun« will kein Sachcomic sein, ist es aber größtenteils doch. Paolo Bacilieris dicker Band erzählt die kleine Kulturgeschichte des Kreuzworträtsels – und was die mit Comics zu tun haben könnte. Wie entstand 1913 in den USA aus dem Wortquadrat der neue Rätseltypus? Und warum schlug er sofort bei den Zeitungslesern ein? Wann schwappte der Trend über den Teich und wieso ist er nicht totzukriegen? All das ist akribisch recherchiert und in eine liebevoll gestaltete Krimigeschichte gebettet. Dabei ist der Text doch sehr erklärend, man muss schon Interesse an der Rätselhistorie haben, um das Buch genießen zu können. Denn die kleinen Abschweifungen, die sich Bacilieri mit freieren Zeichnungen und Mini-Geschichten erlaubt, lockern wenig auf. Es ist die textlastige Sachebene, die überzeugt, die Zeichenkunst ist schönes, optisches Beiwerk.
Öffentliche (H)Ausgeburten
Fast allein auf Text fokussiert ist »Zuhause während der digitalen Revolution«. Wolfgang Buechs zeigt in hübsch-absurden Parabeln auf, wie man den »richtigen Alltag im falschen« meistert – oder eben nicht. Die Strips sind zuerst in der Zeitschrift Jungle World wöchentlich erschienen. Sie sparen kaum eine Nische oder etwas Randständiges aus. Natürlich geht es mal um Fäkalien, um anale Phasen von Internetausdruckern. Aber es wird auch der Unterschied von neoliberal und neokonservativ erklärt und warum deren Verbindung am scheißigsten ist. Immer wieder sind Technik und das Humane Thema. Dabei liegt der Witz in den als Textwüsten gestalteten Sprechblasen. Die niedlichen Figuren sind rein illustrativ. Aber auch das kann ein Comic sein. Und wer noch nie über den in Hausgeburtenvideos inhärenten Widerspruch sinniert hat, ist hier völlig richtig.