1988: Jenseits des offiziellen Gedenkens organisierten junge Leipzigerinnen und Leipziger vor 30 Jahren die erste vom Staat unabhängige antifaschistische Demonstration in der DDR. Daran will der Initiativkreis 9. November zum 80. Jahrestag der massenhaften gewalttätigen Übergriffe auf Jüdinnen und Geschäfte und Gotteshäuser am 9. November 1938 erinnern. Gesine Oltmanns, eine tragende Aktivistin der ersten Montagsdemonstrationen, war 1988 mit dabei und ist es heute wieder. Warum, erklärt sie im Interview mit dem kreuzer.
kreuzer: Ihre Aktion von 1988 erlebt in diesem Jahr ein Revival. Wie kam es dazu?GESINE OLTMANNS: Für mich war es verblüffend, dass junge Leute auf dieses Flugblatt gestoßen sind in einem Buch von Peter Wensierski* und sagten: Na hoppla, das sind ja Themen, die sind heute so aktuell wie damals – und sagten, ihr habt ja die erste antifaschistische Demo hier gemacht. Da hab ich erst mal gestockt, weil, dieser Begriff Antifaschismus, das war ja damals Staatsräson und damit hatten wir ein Problem. Jedenfalls habe ich nach langer Zeit den Text noch mal gelesen und mir ist es kalt den Rücken runtergelaufen, weil sich bis heute so wenig geändert hat. Wir können offen drüber reden und jetzt ganz offiziell eine Gedenkdemonstration machen, aber es sind dieselben Probleme.
kreuzer: Neonazis soll es ja nicht gegeben haben in der DDR. Wie machte sich das denn bemerkbar damals?OLTMANNS: Neonazistische Strömungen. Ende 1988 brach das immer mehr auf, wurde immer offensiver. Es gab regelmäßige Überfälle. Freunde hatten ein illegales Nachtcafé aufgemacht, wo sich auch die Opposition traf und wo wir permanent von den Reudnitzer Nazis überfallen wurden – und wir konnten nicht damit rechnen, dass die Polizei uns schützen würde. Als ich selbst noch Schülerin war, kam es in der Region Wechselburg in Mittelsachsen ständig zu Auseinandersetzungen zwischen kubanischen Gastarbeitern und Dorfjugendlichen. Es gab permanente Ausländerfeindlichkeit und Rassismus der Neonazis in der DDR, und das war für jeden wahrnehmbar, der ein bisschen wach durch die Gegend lief. Aber ein Thema, das gedeckelt wurde. In Zeitungen waren es immer nur »Rowdies«. Rowdies – nicht Nazis – sollen beispielsweise die Zionskirche in Berlin überfallen haben. In Leipzig war die Hooligan-Szene um Lok immer nationalsozialistisch durchsetzt. Es wurde nie benannt.
kreuzer: Woran haben Sie die Nazis damals erkannt?OLTMANNS: Die waren mit ihren Parolen eindeutig identifizierbar. Wenn man »Heil Hitler« ruft, oder »Juden raus«, dann ist das eindeutig. Die hinterließen auch eindeutige Schmierereien. Wir wurden ständig als Hippies angefeindet, die nicht zu Deutschland gehören, und als das »bunte Volk«, das nicht gewollt war.
kreuzer: Wie kam es dann zu der Demonstration?OLTMANNS: Es war ein Bedürfnis von Freundinnen und Freunden, der Arbeitskreis Gerechtigkeit, das war eine Menschenrechtsgruppe, die sich 1988 gegründet hatte. Wir wollten ein Statement abgeben, gegen das erstarrte Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 und gegen erstarkende neonazistische Gruppen.Deshalb haben wir dann ein Flugblatt geschrieben. Für uns war der aufregendste Moment, die Flugblätter in die Bänke der Nikolaikirche auszulegen, wo man sich ohnehin zum Pogromgedenken versammelte, wir hatten das aber nicht mit der Kirchenleitung abgesprochen. Wir haben die dort einfach hingelegt, um jedem die Freiheit zu lassen, es zu nehmen und zu lesen oder auch nicht. Denn es war ja schon eine Positionierung, so ein verbotenes Papier in die Hand zu nehmen und zu lesen.
kreuzer: Und was sie da lasen, war der Aufruf zu einem Protestzug zur ehemaligen Synagoge. Hat das funktioniert?OLTMANNS: Es war eher ein Schweigemarsch mit so etwa 150 Leuten, der unbehelligt bis zum damaligen Synagogenmahnmal – das sah anders aus als heute – zog. Wir wussten vorher nicht, ob wir aus der Kirche rauskommen und gleich verhaftet werden. Aber es war natürlich auch so ein Tag, an dem sich der Staat nicht mit Gewalt zeigen wollte, und das haben wir genutzt.
kreuzer: Wie hat sich dieses Gedenken vom offiziellen, dem verordneten, Antifaschismus unterschieden?OLTMANNS: Wir haben etwas als Problem benannt, was es nicht geben durfte. Der Antifaschismus in der DDR war so eine große Nummer, der war nicht diskreditierbar. Deshalb durfte es diese rechte, nationalsozialistische, organisierte Szene nicht geben, sondern die mussten Rowdies heißen. Das zieht sich durch die DDR hindurch. Ich glaube, dass es auch in den fünfziger Jahren Nazis gab, die dieses Denken nicht abgelegt haben. Immer parallel zu dem verordneten Antifaschismus. Wir fanden ganz einfach diesen Rassismus unerträglich, gegenüber Polen, gegenüber Gastarbeiterinnen aus Vietnam, gegenüber Leuten aus Afrika, die hier studierten. Das war ein Riesenproblem. Es hat sich 89 ja auch sehr schnell gezeigt, dass es den Nährboden dafür gab – als die Republikaner auf den Montagsdemonstrationen mitzogen, als die NPD hier sofort Fuß fasste. Das war ein hartes Brot für uns.
kreuzer: Haben Sie das Gefühl, dreißig Jahre lang nicht vorangekommen zu sein?OLTMANNS: Für uns hatte die Aktion damals eine große Bedeutung, weil es der Anfang einer Reihe von Aktionen war. Wir haben das erste Mal mit »Initiative für gesellschaftliche Erneuerung« unterzeichnet und unter diesem Namen auch in der Folge Aktionen gemacht. Wir wollten damals den Leuten eine Chance geben, Farbe zu bekennen – und das ist heute auch wieder wichtig. Leider. Damals wussten wir nicht, wie wir dieses Thema öffentlich machen sollen … den Opfern und Betroffenen, wie wir denen gerecht werden können.
kreuzer: Und heute?OLTMANNS: Heute gibt es ein ganz breites Bündnis. Ausgehend von universitären Gruppen und jungen Aktivistinnen haben wir alle Akteure eingeladen, die im Rahmen der jüdischen Woche aktiv sind, und daraus ist das entstanden. Und es ist so, wie ich es mir wünsche für unsere Gesellschaft. Im Zentrum steht das Erinnern, aber auch das Haltung-Beziehen und Aktiv-Werden im Jetzt. Ich hoffe natürlich, dass am 8. November ganz viele zum Ariowitsch-Haus kommen und gemeinsam diese Gedenkdemonstration machen unter der Überschrift »Erinnern für eine offene Gesellschaft«.