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Kultur

»Tausendfach gab es jugendliche Verweigerungshaltung«

Der Historiker Sascha Lange über die Jugendopposition gegen den NS und ihre Verfolgung

  »Tausendfach gab es jugendliche Verweigerungshaltung« | Der Historiker Sascha Lange über die Jugendopposition gegen den NS und ihre Verfolgung

In den dreißiger und vierziger Jahren trieben in Leipzig allerlei Jugendcliquen ihr Wesen – mit einer eigenen Subkultur und einer ausgeprägten Abneigung gegen die Hitlerjugend. Die Anklage zur »Vorbereitung zum Hochverrat« durch Leipziger Jugendliche jährt sich nun zum 80. Mal. Für Historiker und Meuten-Experte Sascha Lange ein Anlass, zusammen mit dem Schriftsteller Johannes Herwig, die Geschichte der Meuten zu erzählen.

kreuzer: In Deutschland entstanden ab 1933 verschiedene Jugendgruppen, die nicht dem NS-Regime unterstanden und stattdessen eigene Rituale pflegten. Kann das Motto »Den antifaschistischen Selbstschutz organisieren!« als kleinster gemeinsamer Nenner für diese Gruppen gelten?SASCHA LANGE: Nein. Der Spruch kam in den frühen Dreißigern aus der linken Arbeiterbewegung. Die Jugendcliquen, um die es geht, sind erst ab Mitte der Dreißiger aktiv geworden. Die hatten nur teilweise persönlichen Bezüge zur Weimarer Zeit und die wenigsten waren im linkssozialistischen Milieu verwurzelt.

kreuzer: Verbindet diese Gruppen der Druck durch die Hitlerjugend?LANGE: 1933 wurden alle linkssozialistischen Organisationen verboten, die bündische Jugend zwangsaufgelöst und die evangelischen Jugendverbände in die Hitlerjugend eingegliedert. Durch die Eingliederung bekam die HJ – mit bis zu 100.000 Mitgliedern war sie zuvor eine Splittergruppe – plötzlich eine Millionenbasis. Aber die omnipräsente Jugendorganisation, wie wir das heute aus Dokumentationen kennen, war sie nie. 1935 war zwar auf dem Papier die Hälfte der Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren formal Mitglied. Aber es gab gar nicht genug Führer und Kapazitäten, um die alle zu organisieren. Für Jugendliche, die sich aus verschiedenen Gründen nicht für die HJ interessierten, gab es also Möglichkeiten, sich vor ihr zu drücken. Die Mitgliedschaft war bis 1939 freiwillig, auch wenn es natürlich sozialen Druck gab. Bei Kriegsbeginn wurden zudem die älteren HJ-Führer eingezogen, daher bestanden viele Gruppen nur auf dem Papier und Jugendarbeit fand nicht statt. Das machte die wilden Cliquen noch interessanter, zumal sich dort Mädchen und Jungen zusammen trafen.

kreuzer: Was waren das für Cliquen?LANGE: Die Arbeiterjugendcliquen trafen sich nach Feierabend in ihren Wohnvierteln im öffentlichen Raum. Für Tanzpaläste und Kino fehlte ihnen das Geld. Am Wochenende ging es dann zum Zelten hinaus in die Natur, wo man sein ungezwungenes Jugendleben führen konnte. Um sich von der HJ und den Erwachsenen abzugrenzen, nutzte man bestimmte Kleidung. Das waren kurze Hosen und karierte Hemden, sozusagen sportliche Bergsteigerklamotten. Bestimmte Abzeichen wie Totenköpfe, Edelweiß oder rote Halstücher kamen noch dazu. Man hob sich damit klar von der HJ ab, was schnell zu Konflikten führte.

kreuzer: Meuten, Blasen, Piraten: eine verwirrende Flut von Namen. Sind das Selbstbeschreibungen der Gruppen?LANGE: Die Cliquen haben sich in den wenigsten Fällen selbst Namen gegeben. Die wurden ihnen von außen durch HJ und Gestapo aufgedrückt, wie auch der Begriff »bündische Jugend«. Die gab es gar nicht mehr, aber das Wort geisterte als Mythos herum und wurde auch zur Eigenbezeichnung: »Ich bin nicht HJ, also muss ich bündisch sein.« Wichtiger als die Namen waren aber die Treffpunkte für den Zusammenhalt.

kreuzer: Dann gab’s noch die Swings?LANGE: Parallel zu den Arbeiterjugendcliquen trafen sich bürgerliche Jugendliche. Auch dort stellte man sich die Frage: Was mache ich jenseits der HJ? Da bot sich für viele amerikanische Jazz- und Swingmusik als Fluchtpunkt an. Dieser moderne Lifestyle war bei Tanzveranstaltungen und in Kinos präsent, es gab bis Ende der dreißiger Jahre diese Platten zu kaufen und amerikanische Filme zu sehen. Jugendliche wollen sich ja immer auch von der Masse abheben und HJ bedeutete Masse. An schmutzigen Ecken wie die Arbeiterjugend wollten die bürgerlichen aber nicht abhängen, da war der gepflegte Kleidungsstil und der Habitus der Filmstars attraktiver.

kreuzer: Ist das vergleichbar mit der Konkurrenz zwischen Punks und Poppern?LANGE: Könnte man sagen. Die Meuten und Edelweißpiraten waren eher proletarisch-punkermäßig orientiert, man prügelte sich auch schnell mal mit der HJ. Den Swings ging es vordergründig um die Pflege ihrer Kultur, man traf sich in Tanzlokalen. Es war die erste Jugendkultur der Moderne, die sich um Musik, Tanz, Kleidung und Attitüde drehte.

kreuzer: Waren auch Frauen dabei?LANGE: Die Quellenlage ist schwierig, aber ein Viertel bis die Hälfte der Cliquenmitglieder war weiblich. Manchmal wurde ihnen eine etwas passivere Rolle zugewiesen, aber nichtsdestoweniger fanden sie in der Regel dort als gleichberechtigte Mitglieder ihre soziale und kulturelle Heimat und gestalteten sie mit. Die NS-Verfolger sahen in ihnen gemäß ihrem Frauenbild nur Lockvögel, die dazu geholt wurden, um andere Jungs anzuziehen. Deswegen wurde gegen sie oftmals nur wegen Kuppelei ermittelt.

[caption id="attachment_71616" align="alignnone" width="320"] Der Historiker und Meuten-Experte Sascha Lange wird am Sonntag bei der Veranstaltung »Wir feiern die Meuten!« in die Geschichte der Leipziger Jugendcliquen einführen. Foto: schmidtshot[/caption]

kreuzer: Welche Sanktionen mussten diese Jugendlichen befürchten?LANGE: Viele Jugendliche gingen in der Anfangszeit mit der drohenden Verfolgung geradezu unbekümmert um. Sie glaubten ja nicht, etwas Verbotenes zu tun, wenn sie sich zum Tanz trafen oder in kurzen Hosen auf Fahrt gingen. Klar, man suchte die Provokation, war aber nicht unbedingt darauf aus, strafrechtlich belangt werden zu können. Aus heutiger Sicht scheint es überraschend, wie viel Freiraum sie sich genommen haben.

kreuzer: Konkret zu Leipzig: Die Verfolgungswelle rollte aber an. In diesem Herbst jähren sich zum 80. Mal zwei Prozesse wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« in Leipzig. Was geschah mit den Verfolgten?LANGE: In Leipzig gab es seit Mitte der dreißiger Jahre überall in den Arbeiterwohnvierteln Jugendcliquen jenseits der HJ, die dann unter dem Begriff „Meuten“ zusammengefasst wurden. Zunächst dachten Gestapo und HJ, dass es sich um verbotene bündische Gruppen handeln würde. Erst Anfang 1938 bekamen sie mit, dass in einigen dieser Meuten viele Jugendliche aus früheren SPD- und KPD-Kindergruppen aktiv waren. Man unterstellte diesen darum die Mitgliedschaft in einer illegalen kommunistischen Jugendwandergruppe und wollte ein Exempel statuieren. Es folgten die beiden Hochverratsprozesse gegen Mitglieder der Meuten „Hundestart“ aus Kleinzschocher und „Lille“ aus Reudnitz vor dem Volksgerichtshof. Die Verurteilten waren zwischen 17 und 25 Jahre alt und wurden zu teilweise hohen Zuchthausstrafen verurteilt, einige kamen anschließend ins KZ Buchenwald.

kreuzer: Wurden die Leipziger Gruppen dadurch zerschlagen?LANGE: Nein. Zumindest nicht durch diese beiden Prozesse, die Attraktivität der ungezwungenen Jugendgruppen blieb hoch. Es gab in Leipzig um 1938 etwa 1.500 Jugendliche, die in einer Meute waren. Erst im Laufe des Jahres 1939 wurden immer mehr Jugendliche verhaftet und es gab weitere Verurteilungen, etwa 100 sind aktenkundig. Selbst das Jugendamt der Stadt Leipzig richtete eine Art Internierungslager ein. Nach Kriegsbeginn wurden dann viele 18-Jährige zur Wehrmacht eingezogen, die Cliquen lösten sich dann auch dadurch oftmals auf. Es gab aber auch noch welche, die die Verfolgung 1939 überdauert hatten. Und ab 1942 hatte dann eine jüngere Generation in Leipzig keinen Bock mehr auf den HJ-Dienst – die Broadway-Cliquen.

kreuzer: Wie sahen damals überhaupt Opposition und Widerstand aus?LANGE: Die von mir verwendete Widerstandsdefinition nach dem Historiker Detlev Peukert ist eng gefasst und bleibt lediglich politisch bewussten Aktionen vorbehalten, die sich fundamental gegen den NS gerichtet haben. Das finde ich auch gut so, damit nicht alles, was nicht NS-konform war, gleich Widerstand genannt wird. Man braucht gerade für Deutschland abgeschwächtere Begriffe wie Opposition und Nonkonformität, weil es einen breiten Widerstand wie etwa in Frankreich oder Osteuropa nicht gegeben hat. Unter Opposition und Nonkonformität fallen eben die Jugendcliquen. Dort hat es teilweise fließende Übergänge gegeben, es gab Ansätze zur Konspiration, wie Pläne zur Sabotage oder zum Flugblätterverteilen. Dann wird aus Jugendopposition eine Widerstandshandlung. Es gab in Köln Graffiti, HJ-Schaukästen wurden in Leipzig zerstört. Das waren dann Dinge, wo es den Jugendlichen nicht mehr nur darum ging, in Ruhe gelassen zu werden. Die Schikanen durch die HJ, die Vorladungen, das zwangsweise Haareabschneiden, all das führte zur Politisierung. Das gab den Betroffenen noch mehr Grund, die HJ abzulehnen. Das ist bislang zu wenig gewürdigt worden, dass es neben der Weißen Rose und den anderen viel zu wenigen Jugendlichen aus dem Widerstandsmilieu eben tausendfach eine jugendliche Verweigerungshaltung gegeben hat.

kreuzer: Warum fühlte sich der NS-Staat durch die Jugendgruppen so herausgefordert?LANGE: Die ganze Jugend hatte in der HJ zu sein. Aber viele wollten lieber ihr eigenes Ding machen. Darum hat man alle Mittel des Zwangs genutzt, zum Beispiel Einweisungen in Arbeits- und Konzentrationslager. Nach dem NS-Verständnis helfen ja einzig harte Strafen, was natürlich Unsinn war. Keiner dieser inhaftierten Jugendlichen ist überzeugter Nazi geworden. Man hat sie vielleicht für eine Zeit eingeschüchtert, aber nicht ihre Einstellung geändert.

kreuzer: Man kann nicht aus der Geschichte lernen. Aber Sie als Historiker gefragt, kann man Einsichten aus der damaligen Jugendopposition fürs Heute mitnehmen?LANGE: Ich glaubte, man kann total viel aus der Geschichte lernen. Konkret für die oppositionellen Jugendcliquen wird klar, dass man jugendtypisches Alltagsleben nicht in eine Massenorganisation pressen kann, dass der jugendliche Eigensinn immer stärker sein wird. Nicht von allen, aber auch nicht nur von ein paar Dutzend. Und dass man auch unter widrigen Umständen seine Freiräume behaupten und seinem Gewissen folgen kann.


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