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Nah-Tod-Erfahrung

Über den Tod und das Sterben in Leipzig

  Nah-Tod-Erfahrung | Über den Tod und das Sterben in Leipzig

Manche sagen, der Alltag sei sterbenslangweilig. Dabei harrt an jeder Ecke eine erschütternde Todesahnung. Ein Memento mori im Vorübergehen

Solche Mahnungen an die Sterblichkeit nehmen wir im Alltag üblicherweise gar nicht wahr, wie wir in den meisten Denkmalen diese Funktion übersehen. Vielleicht rütteln noch die über 250 in Leipzig verlegten Stolpersteine ein paar Menschen wach. Das Völkerschlachtdenkmal, diese monströse Totenburg, an der man nicht vorbeikommt, dient hingegen vor allem der Stadtvermarktung. Beim Passieren des Gerichtswegs denkt wohl niemand mehr an das Grauen der einstigen Richtstätte. Welche Besucher wissen um die traurige Geschichte vom Johannapark, der dahingeschiedenen unglücklichen Verliebten gewidmet ist? Oder um die in ihrer Bedeutung verblassten Symbole wie den Raben am Märchenbrunnen, der die letzte Stunde verkündet? Ein ganzes Arsenal solcher halten natürlich die Friedhöfe vor: patinierte Putten mit Riesenköpfen, segnende Hände auf aufgeschlagenem Buch, Sphinxen und Schmetterlinge, die die Metamorphose der unsterblichen Seele versinnbildlichen.Manchmal kommt die Mahnung so süß daher wie die Totenkopfäffchen im Zoo, oder fantasievoll wie die Gewänder auf dem Wave-Gotik-Treffen. Oder als »Death Metal«-Graffito an der Brücke überm Elsterflutbett. Und ist es nicht von großer Ironie, dass ein Club namens Hellraiser just in Engelsdorf residiert? »Übe zu sterben«: Einige der in der Stadt virulenten Subkulturen nehmen Platons angeblich letzte Sentenz beim Wort.

Die erste Rationalisierung des Todes in der antiken Philosophie wird im Christentum zur frommen Kunst zu sterben, der Ars moriendi. Als ob das irgendwie erlernbar und der Tod damit überwindbar wäre. Das eigene Leben ist verfügbar, der Tod nicht. Er ist unerbittlich, total. Mit verschiedenen Sinnzusammenhängen haben Religion, Kultur und Philosophie versucht, dem Tod Bedeutung zuzuweisen. Aller metaphysischen Absicherung jedoch entkleidet, demütigt der Tod die Vernunft, macht das Bewusstsein der kommenden Bewusstseinslosigkeit irre. Keine Begegnung ist daher drastischer als das Sterben der anderen, der Freunde und Lieben. In die tiefe Trauer mischt sich ebenso tiefe Erschütterung.

Noch nicht! Wir können den Tod nicht verstehen, erfahren ihn als unbarmherzigen Fakt. Man kann vom ihm nicht sprechen. Er ist ein leerer Begriff, unheimlich, ein Wort, das auf Nichts hinweist. Wir haben nur Krücken: Kultur ist für uns Überlebensleistung und die Lebensleistung des Menschen besteht darin, temporärer Überlebender zu sein. Sich dem Tod zu stellen, heißt, sich dem Leben zu stellen. Vom Tod sollten wir vielleicht etwas weniger schweigen, aber mehr noch über das Leben sprechen. Denn das bietet Gesprächsstoff genug.


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