Die rote Jacke auf dem Boden, der Platz des Himmlischen Friedens im Kopf, Totschläger und Pistolen, die Straßenbahnlinie 28, ein umgeschmissener Trabi in Köln, ein Witz, Neonazis und Patrick Swayze – die Bilder und Geschichten vom Herbst 1989 sind in Leipzig noch sehr präsent. Wir haben neun Bürgerinnen und Bürger der Stadt gefragt, was ihre stärkste Erinnerung an diese Zeit ist.Viele wussten erst nicht, was sie sagen sollten, und kamen dann aus dem Erzählen gar nicht mehr heraus. Erinnerungen an eine inzwischen fast 30 Jahre zurückliegende Zeit sind eine heikle Sache. Wer erinnert sich richtig, welche Details wurden vergessen? Und doch sind es Erinnerungen, die unser Leben bestimmen – aber sie sind nur der Startpunkt einer richtigen Erinnerungskultur. Darum wird in dieser Anekdotensammlung an einer Stelle auch aus einem inzwischen historischen Dokument zitiert.
Christian Scheiter
1989: Schüler an der Leibniz-Schule2019: Veranstaltungsorganisator
»Neben der großen Befreiung von staatlichen Massenorganisationen und Herdenmentalität bestaunte ich 11-jähriger ›Stift‹ auf den Montagsdemos vor allem den neu entstandenen kommerziellen Markt der Möglichkeiten. Zunächst aus politischem Interesse fuhren meine Freunde und ich zu den aus dem Boden schießenden Parteibüros und deckten uns massenhaft mit schönen bunten Kulis, Stickern und Broschüren ein. Letztere wurden uns auf den Demos so gierig aus den Händen gerissen, dass wir schnell eine Schutzgebühr von 20, 30 Pfennigen einführten. Insbesondere die von uns vorsätzlich falsch als ›Leipziger Zeitung‹ angepriesene LZ brachte uns so täglich über hundert Mark ein, die wir anderntags auf dem Schulhof unter den neidischen Blicken der Mitschüler aufteilten. In Wahrheit handelte es sich um dieLiberale Zeitung der gewendeten Blockpartei L(D)PD, die auf ihren vier Seiten nichts anderes als eine ellenlange Rede von Hans-Dietrich Genscher zu bieten hatte.«
Petra Lux
1989: Dipl.-Journalistin, Sprecherin des Neuen Forum in Leipzig2019: Lehrerin für TaiChi, QiGong und Energiearbeit
»Damals, im Herbst 89, wurde ein Witz erzählt, den ich gut fand. Heute hat er für mich eher einen bitteren Geschmack: Der Westmensch sagt beschwörend zum Ostmenschen: Du, wir sind EIN Volk. Der Ostmensch lächelt milde und sagt: Du wirst es nicht glauben, wir auch.«
Jonas Beyer
1989: Forschungsstudent an der Uni Leipzig2019: Dozent in der Erwachsenenbildung
»Am 9. Oktober 1989 war ich beim Friedensgebet in der Nikolaikirche. In der Kirche hörten wir, wie auf dem Nikolaikirchhof die Menschen ›Wir sind das Volk‹ riefen. Es war sehr laut und wir hatten keine Ahnung, wie viele Leute da draußen waren, es mussten aber sehr viele sein. Die Stimmung in der Kirche war angespannt, niemand wusste, was an dem Abend noch passieren würde. So viele Menschen auf der Straße, unkoordiniert. Was, wenn einer die Nerven verliert? Ich hatte die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens im Kopf. Dann trat ein junger Mann nach vorn und erzählte von den schweren und gewalttätigen Auseinandersetzungen am 4. Oktober 1989 auf dem Dresdner Hauptbahnhof. Er beendete seinen Vortrag mit dem Ruf: ›Keine Gewalt!‹ Darauf gab es langen Beifall. Für mich ist dieser Ruf des jungen Mannes, ›Keine Gewalt!‹, die entscheidende Erinnerung.«
Karin Alberti
1989: Theaterhandwerkerin2019: Theaterhandwerkerin in Rente
»Ich arbeitete damals in den Leipziger Theaterwerkstätten. Die sind in Eutritzsch, Dessauer Straße. Ich kann mich erinnern, dass ich am 9. Oktober 89, wie immer, mit der Straßenbahn quer durch die Stadt nach Hause gefahren bin. Mit der Linie 28 kam ich am Augustusplatz vorbei, dort habe ich eine Menschenansammlung gesehen. Da ist wohl wieder eine Demo, habe ich gedacht. Ich musste in den Kindergarten, meinen Sohn abholen. Darum kann ich da auch nichts Besonderes erzählen. Davon, was an dem Abend passiert war, erfuhren wir erst später von Freunden. Ansonsten ging der Alltag weiter, man musste ja das nächste Stück am Theater vorbereiten. Später kam die Maueröffnung und am Tag danach war ich auf
der Arbeit, aber wir haben nicht gearbeitet. Alle saßen in Grüppchen zusammen, mit Kaffee, und diskutierten – und einige sind gar nicht gekommen. Die sind nach West-Berlin gefahren, zwei Tage später waren sie wieder im Betrieb, für die Abwesenheit hat niemand Ärger bekommen. Zu meinem Sohn, er war damals sechs Jahre alt und kam bald in die Schule, sagte ich: ›Du musst jetzt nicht mehr zu den Pionieren, du kannst jetzt machen, was du willst.‹«
Willie Waschinski
1989: Transportarbeiter2019: Sozialarbeiter
»Es muss an einem Montag im November 89 gewesen sein, als wir – vielleicht ein Dutzend junger Leute, ich war 21 – uns am Neuen Rathaus vor den montäglichen Demozug gestellt hatten. Wir wollten damit gegen den Tross deutlich erkennbarer
Nazis an der Spitze der Demonstration protestieren. In Diskussionen mit durchaus handgreiflichen Aspekten wurden wir als Stasi-Kinder, rote Schweine und so weiter beschimpft. Was wirklich erstaunlich war, dass speziell ich mit Glatze auch als Nazi bezeichnet wurde. Auf meinem Arm war ein Aufnäher mit einer Faust, die ein Hakenkreuz zerschlägt, und großen Lettern ›Gegen Nazis – für Freundschaft und Völkerverständigung‹. Damals habe ich aufgehört, Aufnäher zu tragen.«
Karin Wieckhorst
1989: Fotografin2019: Fotografin
»Ich bin im September 89 mit meinem Trabi nach Köln gefahren, wo meine Fotos bei einer Ausstellung gezeigt wurden. Ich hatte extra ein Visum bekommen. Mit meiner Freundin Paola gab es die Verabredung, dass ich sie ja heimlich in
Rom besuchen kommen könnte, wenn ich im Westen war. Also stellte ich meinen Trabi in Köln ab, besorgte mir einen bundesdeutschen Reisepass und fuhr mit dem Zug nach Rom. Während ich in Rom war, schmissen irgendwelche bösen Leute meinen Trabi in Köln auf die Seite, die linke Tür war zersplittert. Nun fürchtete ich, dass es schwierig werden würde, die Tür in der DDR zu reparieren. Mein Freund Peter hatte eine Idee und fuhr mit mir in eine Werkstatt. Es war eine Porsche-
Werkstatt – und die reparierten mir die Tür. Schließlich kam ich wieder in Leipzig an und wunderte mich, was hier für eine komische Stimmung auf den Straßen war. Es war nämlich genau der 9. Oktober 1989 um 18 Uhr, als ich am Hauptbahnhof vorbeifuhr. Ich wusste ja nicht, was hier los war! Nachdem ich zu Hause angekommen war, rief ich bei einer Freundin an und die sagte nur zu mir: »›Karin, geh heute bloß nicht in die Stadt, das verkraftest du nicht.‹«
Ralph Schüller
1989: Elektromechaniker, Wehrdienstleistender2019: Musiker, Autor, Maler
»Sonntag, 8. Oktober 1989, Berlin: Ich saß den ganzen Tag auf einem überplanten LKW an einer Spreebrücke unweit des Staatsratsgebäudes. Alle Soldaten hatten einen Totschläger, höhere Dienstgrade auch eine Pistole. Die Nacht zum 9. Oktober
verbrachten wir im Palast der Republik und lungerten oder schliefen auf den Sitzgarnituren im Foyer. Dort telefonierte ich mit meiner Mutter. Am nächsten Morgen fuhren wir zurück in die Kaserne und ich war froh, dass wir auf niemanden losgelassen wurden.«
Alexander Dehmel
1989: Schüler2019: Zahnarzt
»Wir lebten damals in Gotha. Meine Mutter war eine in der Stadt bekannte Ärztin und seit dem Kirchentag 1983 in Wittenberg in der politischen Szene der DDR engagiert. Ein Kollege hatte meinen Eltern gesteckt, dass beide auf einer Internierungsliste der Stasi stehen würden. Eines Abends machten wir einen Spaziergang und da sagte meine Mutter Folgendes: ›Ihr kennt doch meine rote Jacke, die an der Garderobe im Flur hängt. Wenn ihr nach Hause kommt und die Jacke liegt auf dem Boden, dann wisst ihr, dass sie mich abgeholt haben.‹ Glücklicherweise blieb die Jacke immer hängen. Später, am 5. Dezember 1989, wurde in Gotha die Stasi-Zentrale von Demonstranten besetzt. Ich war damals 14 Jahre alt und mit meinen Eltern vor Ort. Es waren sehr viele wütende Menschen dort, die Lage war angespannt – zeitweilig kam es mir vor wie eine Stimmung zur Lynchjustiz. In dem Gebäude saßen noch viele Stasi-Mitarbeiter. Schließlich fuhr ein W-50-LKW der Polizei vor, um die Stasi-Leute in Sicherheit zu bringen. Meine Mutter und eine weitere Frau setzten sich dann zu ihnen auf die Pritsche. Sie boten sich als Schutzschilde für die Stasi-Leute an. Falls Steine fliegen würden oder falls ihnen jemand etwas antun wollte, müssten sie erst an ihr vorbei, sagte sie.«
Sandra Schubert
1989: Schülerin2019: Fotografin und kreuzer-Bildredakteurin
»Ich war damals elf Jahre alt und habe in Rostock gewohnt. Am Montag, 6. November 1989 schrieb ich in mein Tagebuch:
Hi Lovergirl 1!Wieder ein paar Zeilen an dich. Heute hatten wir nur 3 von 6 Stunden. Ist das nicht geil! Außerdem habe ich heute noch Post von Judith bekommen und das Reisegesetz [rosa unterstrichen] ist so gut wie sicher. Wenn das Reisegesetz [rosa unterstrichen] dann veröffentlicht wird, werden wir uns so schnell wie möglich einen Reisepass [rosa unterstrichen] holen und dann über Silvester (toll) zu Ines fahren. Dieses Feuerwerk stell ich mir super vor. Außerdem haben sie auch Kinder, Frederike (Baby), dann (mir fällt der Name nicht ein), noch ein Mädchen (Kindergarten) und einen Jungen, der genauso alt ist wie ich. Vielleicht ist er sogar hübsch?! [rosa unterstrichen] Verzeih meine Hintergedanken, aber … Naja! Ich stell mir es schon lustig vor! [Foto von Patrick Swayze eingeklebt] Das ist übrigens mein Lieblingsstar: Patrick Swayze. [rosa unterstrichen] Er ist mein Idol. Ich könnte ihn mir gut als Kumpel vorstellen. Nicht als Verliebter, wie manche Girls ihren Star [rosa unterstrichen] bezeichnen. Dazu hat er auch noch ein Kind und ist glücklich verheiratet. Besonders bei ›Dirty Dancing‹ ist er mir aufgefallen (Jonny). Er war zwar schon in ›Fackeln im Sturm‹ gut, aber eben in ›Dirty Dancing‹ besser. Es soll ja jetzt auch ›Dirty Dancing 2‹ gedreht werden. Wer weiß, wann der bei uns anlaufen wird? Aber wenn wir ›rüber‹ fahren, könnten wir es vielleicht schon dort im Kino gucken. Übrigens, ich habe nachgedacht und festgestellt, dass Canada und Brasilien meine Lieblingsländer sind. Tschüß Dein Lovergirl 2
Der Entwurf für ein DDR-Reisegesetz wurde am 6. November 1989 veröffentlicht. Drei Tage später fiel nach einer unbedachten Äußerung des Sprechers des Zentralkomitees der SED Günter Schabowski die Mauer.«