Noch dampft das Kraftwerk Lippendorf fleißig Wölkchen in den Himmel am südlichen Horizont von Leipzig. Doch das könnte bald vorbei sein, denn die Frage ist nicht mehr, ob die beiden Braunkohleblöcke abgeschaltet werden, sondern nur noch wann. Die Stadt Leipzig will sich selbst mit Wärme versorgen und plant den Bau weiterer eigener Kraftwerke – das größte könnte in Connewitz entstehen.
Von Clemens Haug | Lesezeit: 13 Minuten
Erst kurz vor dem Werksgelände wird die volle Größe der beiden Lippendorfer Kraftwerksblöcke sichtbar. Wie riesige graue Türme ragen die Hallen der beiden Dampferzeuger in die Höhe, dahinter die zwei Kühltürme, aus denen unablässig weiße Wolken in den Himmel 13 Kilometer südlich von Leipzig steigen. Es heißt, an schönen Tagen könne man von der Aussichtsplattform in 163 Metern Höhe bis zum Kamm des Erzgebirges schauen, dorthin, wo der Gipfel des Fichtelberg die sanft geschwungenen Hügel in seiner Nachbarschaft überragt.
Oben auf der Plattform hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 das Kraftwerk feierlich eingeweiht. Es war ein Festakt im Rahmen der Expo für eine Erfolgsgeschichte des Aufbau Ost: Bis zu zwei Gigawatt Strom pro Stunde erzeugt das für 2,3 Milliarden Euro neu errichtete, hochmoderne Braunkohlekraftwerk. Dank Abgasreinigung war es auf neuestem technischen Stand viel sauberer als die DDR-Anlagen zuvor. Bei voller Last werden täglich bis zu 34.000 Tonnen Braunkohle verbrannt, der beißende Gestank ist dabei ebenso Geschichte wie die dreckigen Chemiefabriken, die hier früher die Luft verpesteten. Aus dem unzugänglichen Krater nebenan wurde der Cospudener See mit seiner Standpromenade. Eine blühende Landschaft.
Gerne hätte der kreuzer einen persönlichen Blick in das Kraftwerk Lippendorf geworfen, das je zur Hälfte den Energieunternehmen EnBW und LEAG gehört, aber nur von Letzterem gesteuert wird. Die LEAG, die Lausitzer Energie AG, kann leider keine Besichtigung anbieten – Terminschwierigkeiten. Viele Manager aus der Führungsetage sind derzeit offenbar schwer damit beschäftigt, für die Zukunft des Großkraftwerks zu streiten. Geht es nach ihrem Willen, soll der Betrieb bis zum Ende der technischen Lebenszeit weitergehen. Das wäre dann mindestens bis zum Jahr 2040. Die Kohle in den genehmigten Abbaufeldern reicht dafür aus, das Dorf Pödelwitz würde dafür aber abgebaggert. Allerdings wird immer unwahrscheinlicher, dass das Braunkohlekraftwerk so lange am Netz bleibt.
Denn seit einiger Zeit wird wieder gestritten über den Braunkohlestrom aus Lippendorf. Tatsächlich ist die schiere Größe des Kraftwerks eines von vielen Problemen. Die anderen sind sein Beitrag zur Erderwärmung in Form der immensen Mengen Kohlenstoffdioxid, die die Verbrennung der Braunkohle freisetzt. Und dann gibt es noch eine Reihe hochgiftiger Abgase, darunter Quecksilber und die aus der Dieseldebatte bekannten Stickoxide.
Deutschlands Ausstieg aus der Stromerzeugung mit Kohle ist überfällig, offen war bis vor Kurzem nur noch der Zeitpunkt. Jetzt gibt es mit dem Abschlussbericht der Kohlekommission einen ersten Rahmenplan, wie das Ende der Kohle aussehen kann. Und deshalb planen die Stadtwerke Leipzig nun einen Schritt, der eine Art Dominoeffekt auslösen und damit das Ende Braunkohle in der Region Leipzig-Halle einleiten könnte.
Leipzig steigt aus
Specks Hof im Leipziger Zentrum an einem Januarmorgen: Vor den Fenstern der Konzernzentrale der Leipziger Gruppe segeln kleine Schneeflocken durch die Luft. Drinnen am Konferenztisch spricht Maik Piehler über die mögliche Zukunft der Fernwärme in der Stadt. Er ist Bereichsleiter Marktsteuerung bei den Stadtwerken und Leiter des Projekts »Zukunftskonzept Wärme«.
Während einer Pressekonferenz Anfang Dezember verkündeten die Stadtwerke eine kleine Überraschung: Sie wollen deutlich früher als bisher geplant aus der Fernwärmelieferung durch das Kraftwerk Lippendorf aussteigen. Schon innerhalb der kommenden vier Jahre könnte es so weit sein. Zuvor galt 2030 als frühestmöglicher Zeitpunkt.
»Wir haben seit einigen Jahren die Energiewende. Auch der Ausstieg aus der Braunkohle ist absehbar. Die Frage ist also: Wie zuverlässig ist die Wärmelieferung aus Lippendorf, wie wirtschaftlich wird ihr Preis in Zukunft sein?«, fragt Piehler und weist auf die steigenden Kosten für Klimazertifikate. Für jede Tonne Kohlenstoffdioxid, die ein Kraftwerk in die Luft bläst, muss der Betreiber eine Emissionserlaubnis erwerben. Viele Jahre kosteten diese Zertifikate um die fünf Euro pro Tonne, vergangenes Jahr stieg der Preis plötzlich rasant. Im September wurde die Tonne mit 24 Euro gehandelt, aktuell kostet sie über 21 Euro. Stromproduktion durch kohlenstoffdioxidintensive Braunkohleverbrennung – Lippendorf stieß 2016 insgesamt 10,8 Millionen Tonnen aus – wird künftig also deutlich teurer. Weil aber die Marktpreise für Strom seit Jahren niedrig sind, könnten Kraftwerksbetreiber wie die LEAG ihre Fernwärmepreise anheben, um die Verluste auszugleichen, befürchtet man bei den Stadtwerken.
Die Fernwärme wird als Nebenprodukt der Stromerzeugung vermarktet. Bis zu 320 Megawatt Wärme im Jahr bezieht das städtische Unternehmen bislang vom Braunkohlemeiler. Das entspricht etwa 60 Prozent der in Leipzig verteilten Fernwärme. Es ist nur ein kleiner Teil der Wärme, die in Lippendorf quasi als Abfallprodukt beim Verbrennen der Braunkohle entsteht, doch sie reicht aus, um damit mehrere Tausend Häuser und Großimmobilien wie das Stadion, das Universitätsklinikum oder Einkaufspassagen in der Innenstadt zu heizen. Diese Wärme wollen die Stadtwerke künftig selbst produzieren und dafür neue Erzeugungsanlagen errichten.
Für das Vorhaben haben die Mitarbeiter des städtischen Energieversorgers seit 2016 verschiedene Stadtentwicklungs-Szenarien durchgespielt, Studien beauftragt, umfangreiche Rechnungen zur Entwicklung des Fernwärmebedarfs in Leipzig angestellt und konventionelle sowie regenerative Energiequellen geprüft. Das Endprodukt nennt das Unternehmen sein »zukünftiges Erzeugungsportfolio«.
Das Portfolio besteht zum einen aus dem bereits existierenden Gaskraftwerk in der Eutritzscher Straße nahe dem Leipziger Hauptbahnhof, aus einer Reihe von kleineren Blockheizkraftwerken und Gasmotoren, die die Stadtwerke in den vergangenen Jahren gebaut haben, sowie aus Beteiligungen an Windparks und zwei Biomassekraftwerken außerhalb der Stadt. Neu hinzukommen sollen unter anderem ein paar kleinere Solarthermieanlagen und ein neues Gaskraftwerk mit 150 Megawatt, das Strom und Wärme produziert. Standort könnte ein Stadtwerke-Gelände in Connewitz werden, wo auch neue Wärmespeicher gebaut werden sollen. Das sind hohe, längliche Tanks, einige Exemplare davon kann man heute schon von der Arno-Nitzsche-Straße aus sehen. Alles in allem will der Energieversorger für die neuen Anlagen in den kommenden vier Jahren mehr als 250 Millionen Euro investieren.
[caption id="attachment_74307" align="alignleft" width="320"] »Eigene Erzeugungsanlagen bis 2022 ans Netz«: Stadtwerke-Mann Maik Piehler[/caption]
Das Produkt Fernwärme ist in den vergangenen Jahren immer attraktiver geworden. Ganz praktisch handelt es sich dabei um heißes Wasser oder Wasserdampf. In Leipzig wird es über das Heißwasserleitungsnetz verteilt. Man kennt die riesigen Rohre etwa aus dem Lene-Voigt-Park, an dessen nördlichem Rand sie oberirdisch verlaufen, oder aus dem Leipziger Auwald, wo jeder Radfahrer auf dem Weg zum Cospudener See unter der Trasse hindurchmuss.
Was ursprünglich eine Art Abfallprodukt war, siehe Lippendorf, bietet Energieerzeugern heute die Möglichkeit, ihre Einnahmen erheblich zu verbessern. Kraftwerke, die in sogenannter Kraft-Wärme-Kopplung Strom und Fernwärme produzieren, bekommen pro Kilowattstunde Strom, den sie ins Netz einspeisen, 3,1 Cent Zuschuss. An der Strombörse EEX werden derzeit im Schnitt etwa 5 Cent pro Kilowattstunde Strom bezahlt, macht zusammen 8,1 Cent pro Kilowattstunde. Anlagen wie das Gaskraftwerk Eutritzscher Straße, die aufgrund hoher Gas- und niedriger Strommarktpreise lange Zeit mit Elektrizität kein Geld verdienen konnten, können durch diese Förderung wieder Profite erwirtschaften.
Zwar ist auch Gas keine erneuerbare Energiequelle, solange es aus Erdgas stammt. Allerdings liegt hier der Kohlenstoffdioxid-Ausstoß deutlich niedriger als bei der Braunkohle. Gaskraftwerke sind flexibel, können innerhalb weniger Minuten an- und abgeschaltet werden und so bei Windflauten rasch fehlende Energie ins Netz einspeisen. Zudem sind Gasturbinen kurzlebiger als Braunkohlemeiler, ein Vorteil in Zeiten, in denen sich neue Erzeugungs- und Speichertechnologien rasch weiterentwickeln. Die Stadtwerke rechnen für ein neues Gaskraftwerk im Leipziger Süden mit einer Lebenszeit von etwa 15 Jahren. Innerhalb dieser Zeit soll die Anlage ihre Kosten wieder eingespielt haben. Gibt es dann umweltfreundlichere, kostengünstigere Techniken, kann das Unternehmen rasch umsteigen.
Nun drängt der Stadtkonzern auf eine rasche Entscheidung. »Für uns gibt es wirtschaftliche Gründe, die neuen Erzeugungsanlagen bis 2022 ans Netz zu bringen«, sagt Maik Piehler. Neben der Förderung für Kraft-Wärme-Kopplung gibt es noch die sogenannten vermiedenen Netzentgelte. Das ist ein etwas komplizierteres Förderinstrument, das, vereinfacht gesagt, Strom bezuschusst, der am Ort seiner Erzeugung verbraucht wird. Hier werden neue Kraftwerke aber nur gefördert, wenn sie spätestens im Dezember 2022 den Betrieb aufgenommen haben. Stadtspitze und Stadtrat wollen im März über die Pläne beraten, eine endgültige Entscheidung soll spätestens im Sommer fallen.
Lippendorfs wunder Punkt
Lippendorfs Betreibergesellschaft LEAG reagierte noch im Dezember mit Unverständnis auf die Leipziger Ausstiegsabsichten. »Für mich gibt es politisch und wirtschaftlich keine Veranlassung, aus der Fernwärmeversorgung von Lippendorf auszusteigen«, sagte Vorstandsmitglied Hubertus Altmann laut LVZ bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Zugleich leugnete er jede Konsequenz für die beiden Braunkohleblöcke, deren Weiterbetrieb bis in die 2040er Jahre hinein quasi sicher sei. Ein Ausstieg Leipzigs aus dem Fernwärmevertrag sei »nicht die Existenzfrage für das Kraftwerk«, auch Arbeitsplätze seien davon nicht abhängig.
Tatsächlich ist die Situation für das Kraftwerk allerdings ziemlich sensibel. Die Erlöse aus dem Fernwärmeverkauf mögen gegenüber dem Gewinn aus der Stromerzeugung gering sein. Die Kraft-Wärme-Kopplung sichert aber bislang den relativ störungsfreien Weiterbetrieb der beiden Braunkohleblöcke. Entfällt die Fernwärmelieferung, könnte das Kraftwerk künftig zu deutlich häufigeren Abschaltungen gezwungen werden, die dann empfindliche Gewinneinbußen bedeuten. Grund sind die Regeln der Energiewende, durch die Strom aus erneuerbaren Energiequellen im Netz Vorfahrt hat. Fernwärmeproduzenten allerdings sind vor diesen Zwangsabschaltungen sicher.
Braunkohlekraftwerke wie Lippendorf sind träge Riesen. Sie sehen nicht nur äußerlich ein bisschen wie Atomkraftwerke aus. Auch ihre Leistung ist ähnlich stark. Lippendorfs Blöcke verbrennen Braunkohle, um damit Wasser in Wasserdampf zu verwandeln, der zwei riesige Turbinen antreibt. Sind die Blöcke voll ausgelastet, produzieren sie rund 1.900 Megawatt Strom in der Stunde. Zum Vergleich: Neckarwestheim 2, Deutschlands jüngster Atomreaktor, kann rund 1.400 Megawatt pro Stunde erzeugen. Im Jahr 2018 produzierte Lippendorf so etwas mehr als 12 Terrawattstunden Strom.
[caption id="attachment_74308" align="alignright" width="320"] Gewaltige Leistung, hübsch verpackt: Dampfturbine (933 MW) unter der Verkleidung im Hintergrund, im Vordergrund drei Umwälzpumpen[/caption]
Was diese gewaltige Leistung konkret bedeutet, preist Lippendorf auf einem Schild, das die Kraftwerksleitung an der Einfahrt zum Werksgelände aufgestellt hat. Hier werde Strom für rund drei Millionen Haushalte produziert, steht dort. Dass dieses Potenzial eher Problem als Vorteil ist, wird klar, wenn man mal zusammenzählt, wie viele Haushalte es in und um Leipzig herum überhaupt gibt. In der Stadt sind es über 335.000, im benachbarten Halle etwa 140.000. Nimmt man noch alle umgebenden Landkreise dazu, kommt man auf insgesamt 795.000 Haushalte. Die ganze Metropolregion braucht also nicht mal ein Drittel der Leistung, die das Großkraftwerk erzeugt.
Hinzu kommt: Lippendorf ist nicht allein. Schon auf halbem Weg nach Halle steht bei Schkopau das nächste Großkraftwerk mit insgesamt 900 Megawatt. Die beiden Lausitzer Riesenkraftwerke Jänschwalde und Boxberg haben eine Spitzenleistung von mehr als 2.500 Megawatt, gleich nebenan in Schwarze Pumpe steht mit 1.600 Megawatt noch ein Kraftwerk von den Dimensionen Lippendorfs. Hinzu kommen weitere, kleine Kraftwerke, etwa das in Chemnitz. Zählt man alle zusammen, wird klar: Die Kapazitäten zur Stromerzeugung sind im Osten Deutschlands vollkommen überdimensioniert, sogar der Stromverbrauch der Millionenstadt Berlin ändert daran nichts. Stromintensive Schwerindustrie, etwa Aluminiumhütten, gibt es hier auch keine.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ein Institut der Leibnizgemeinschaft, kommt in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass die Überschüsse der Stromproduktion im Süden Ostdeutschlands und in der Lausitz pro Jahr im zweistelligen Terrawattstundenbereich liegen. Ballungsräume wie Frankfurt am Main, Stuttgart oder München können mit dieser überschüssigen Energie kaum versorgt werden, weil dafür das Hochspannungsnetz deutlich stärker ausgebaut werden müsste. Das aber haben zahlreiche Bürgerinitiativen in Bayern und Thüringen bislang wirksam verhindert. Die Energie wird deshalb ins Ausland exportiert. Für Deutschland bedeutet das: Lippendorf könnte praktisch von heute auf morgen ausgeschaltet werden, ohne dass jemand den Verlust bemerken würde.
Hinzu kommt: Der Marktanteil von Windrädern, Solarzellen, Biogasanlagen und Co. wächst seit Jahren. 2018 trugen die Erneuerbaren laut den Daten der Strombörse EEX insgesamt 40,4 Prozent zur deutschen Stromproduktion bei, ein neuer Rekord. Weil die Leistung von Windrädern und Solarzellen von Wetter und Tageszeit abhängt, schwankt ihre Stromproduktion. An windigen und sonnigen Tagen entsteht schnell eine Überspannung im Netz. Netzbetreiber wie 50 Hertz, das für die Hochspannungsnetze zwischen Erzgebirge und Ostseeküste zuständig ist, ordnen dann einen »Redispatch« an. Betreiber von konventionellen Kraftwerken müssen ihre Stromerzeugung herunterfahren, um die Spannung wieder zu senken und das Netz auszugleichen. Als Fernwärmeerzeuger ist Lippendorf bislang von diesen Maßnahmen ausgenommen und profitiert davon.
Auf seiner Seite www.energy-charts.de stellt das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme Diagramme zum deutschen Strommarkt bereit, basierend auf den Strommarktdaten der Energiebörse EEX. Für Lippendorf zeigen die Diagramme: Die beide Blöcke laufen oft auf voller Last. Nur selten wird das Kraftwerk teilweise heruntergefahren, denn das würde aufgrund seiner Schwerfälligkeit Probleme machen. Die riesige Anlage kann nicht einfach aus- und wieder angeschaltet werden. Wer selbst einmal mit Kohlen geheizt hat, kann sich das leicht erklären: Ein kalter Ofen muss erst langsam aufgeheizt werden, bevor die Kohle so richtig glüht und Wärme abgibt. Für das Kraftwerk bedeutet das: War es länger als zwei Tage kalt, dauert ein erneuter Start zwischen 9 und 15 Stunden.
Es lohnt sich also erst, Lippendorf abzuschalten, wenn der Strompreis am Markt länger als ein paar Tage unter den Produktionskosten für den Braunkohlestrom liegt, sagen Strommarktkenner.
Die Treue zur Kohle
Die Lausitzer Energie AG ist noch ein relativ junges Unternehmen. Gegründet wurde es 2016 vom tschechischen Investor EPH, der zuvor die deutsche Braunkohlesparte des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall übernommen hatte. Den dafür gezahlten Preis haben beide Seiten zwar geheim gehalten. Kein Geheimnis war allerdings, dass Vattenfall die Braunkohle schnell und unkompliziert loswerden wollte. Eine Recherche der Umweltschutzorganisation Greenpeace förderte damals zu Tage: Brandenburgs Landesregierung hatte sich offenbar in den Übernahmeprozess eingeschaltet mit dem Ziel, die Übernahme für EPH so attraktiv zu machen wie möglich. Die Hoffnung der Politiker: Der Konzern möge sich mit langfristigem strategischem Interesse in der deutschen Braunkohlenwirtschaft engagieren.
Doch wie wird es in Zukunft um dieses langfristige strategische Interesse bestellt sein? Ende Januar hat die Kohlekommission ihren Abschlussbericht vorgelegt. Das Gremium, in dem unter anderem Vertreter von Bundesbehörden und Ministerien sowie Energiewirtschaft, Umwelt- und Verbraucherverbänden zusammensaßen, hat damit einen Rahmenplan zum Ausstieg aus der Stromerzeugung mit Kohle vorgelegt. Viele Details davon müssen noch in Gesetzen ausformuliert werden. Klar ist aber: Schon bis 2022 sollen Braunkohlekraftwerke mit insgesamt fünf Gigawatt stillgelegt werden. Betroffen sind davon zunächst alte Kraftwerke, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Die Betreiber sollen eine Entschädigung erhalten.
[caption id="attachment_74309" align="alignleft" width="320"] Prägt das Stadtbild: Fernwärmetrasse am Lene-Voigt-Park in Reudnitz[/caption]
Aber auch Betreiber neuerer Kraftwerke, zu ihnen zählt Lippendorf, werden irgendwann finanzielle Anreize für den Ausstieg erhalten. Gerd Lippold, Energie- und Klimapolitischer Sprecher der Grünen im sächsischen Landtag, glaubt daher nicht an allzu große Loyalität des Eigentümers EPH. »Der Investor hat immer deutlich gemacht: Wenn die Entschädigung finanziell besser ist als ein Weiterbetrieb, dann wird er aussteigen.«
Das aber wäre dann nicht im Sinne der Beschäftigten bei der LEAG und angeschlossenen Tagebaugesellschaften wie der Mitteldeutschen Braunkohlen AG (MIBRAG), die um ihre Arbeitsplätze bangen. Das wird auch für die betroffenen Landesregierungen von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg zum Problem. Werden wütende Kohlekumpel und Kraftwerksarbeiter aus Protest AfD wählen? »Wenn man im Landtag auf einer Regierungsbank vor 24 AfD-Abgeordneten sitzt, von denen 15 direkt gewählt wurden, die fast alle aus dem mitteldeutschen Chemie- und Kohlerevier stammen, dann weiß man, welche Verantwortung man hat«, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) noch im Dürresommer 2018 in eine Kamera des Norddeutschen Rundfunks. Klimaschutz funktioniere nur, wenn die eigene Bevölkerung dahinterstehe. Wenn einem dagegen die Gunst der Wähler am Wahltag verloren gehe, könne man nichts mehr bewirken.
Ähnliche Ängste treiben wohl auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretzschmer um. Zusammen mit seinen Kollegen Woidke (SPD, Brandenburg) und Haseloff gab er sich in den vergangenen Monaten einige Mühe, die Arbeit der Kohlekommission zu verzögern. Nun können die drei immerhin als Erfolg vorweisen, dass die besonders stark von der Braunkohle abhängigen Regionen im Süden Ostdeutschlands umfangreiche Fördermittel bekommen sollen, um sich wirtschaftliche Perspektiven nach der Kohle zu erschließen. Zugleich spricht Kretzschmer in eigenen Pressemitteilungen von einem Kohleausstieg im Jahr 2038. Das ist das spätestmögliche Jahr, das die Kommission vorgeschlagen hat.
Kampf um die Ökobilanz
Um in der anstehenden Ausstiegsdebatte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, geben sich die Betreiber von Lippendorf jede Mühe, zumindest bei giftigen Abgasen Fortschritte zu erzielen. Im Fokus steht hier besonders Quecksilber, das in der hiesigen Braunkohle reichlich enthalten ist. Seit Januar dürfen durch die Kühltürme maximal 10 Mikrogramm Quecksilber pro Kubikmeter Abluft ausgestoßen werden. Ab Sommer 2021 greifen noch schärfere EU-Vorschriften, die Grenzwerte von maximal 7 Mikrogramm vorsehen.
Wie sieht da Lippendorfs Bilanz aktuell aus? Aufgrund des Quecksilber-Problems wird es laufend von den Behörden überwacht. Laut Umweltinformationsgesetz hat jeder Bürger das Recht, die aktuellen Messwerte bei den zuständigen Ämtern abzufragen. Eine Anfrage des kreuzer bei der Landesdirektion Sachsen ergibt: Der LEAG-Block stieß 2018 im Jahresmittel nur 7 Mikrogramm aus, beim EnBW-Block waren es noch 11 Mikrogramm.
[caption id="attachment_74310" align="alignright" width="320"] Im Besitz der Stadt: Gaskraftwerk an der Eutritzscher Straße[/caption]
Dieser Grenzwert könne leicht erreicht werden, wenn bei der Abgaswaschung zusätzliche Mengen einer Chemikalie namens »TMT15« eingesetzt würden, schätzt der Ingenieur Christian Tebert auf Anfrage des kreuzer ein. Tebert ist Gutachter beim Umweltinstitut Ökopol, das unter anderem Expertisen für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen angefertigt hat. »Dieses Organosulfid bindet das Quecksilber im Waschwasserschlamm, so dass es als schwer lösliches Quecksilbersulfid in der Waschwasserreinigung entfernt werden kann.« Der Vorteil: Diese Form der Abgasreinigung erfordert keine aufwendige technische Aufrüstung und ist mit relativ geringen Kosten verbunden. Es spricht also vieles dafür, dass LEAG-Pressesprecher Stefan Hermann sein Versprechen tatsächlich einhalten kann: »Das Kraftwerk Lippendorf wird alle bestehenden und zukünftigen gesetzlichen Grenzwerte einhalten und die dafür notwendigen Maßnahmen ergreifen.«
Neuer Ärger droht der Braunkohle hingegen vom Karlsruher Meteorologen Wolfgang Junkermann. Der Wissenschaftler des KIT hat zusammen mit einem Kollegen Ende 2018 eine Studie im prominenten Journal der American Meteorological Society veröffentlicht, wonach die Kraftwerke bislang wenig erforschte und kaum entdeckte ultrafeine Staubpartikel ausstoßen. Diese Partikel zerfielen rasch wieder und seien daher von Bodenmessstationen kaum nachzuweisen, schreibt der Forscher. Mit einem Ultraleichtflugzeug voller Messinstrumente ist er mehrfach durch die lange Kette der Abgaswolken verschiedener Meiler geflogen. Für Lippendorf hat er zwar keine aktuellen, vollständigen Daten, aber für die technisch vergleichbaren Kraftwerke in der Lausitz. Das Pikante an den Partikeln: Nach Junkermanns Einschätzungen können sie Wolkennebel feiner machen und dadurch ein Abregnen der Wolke zunächst verhindern. Der Regen entlädt sich dann erst später, an einem anderen Ort. Stimmt das, bedeutet es: Die Wolkenmaschine hält etwas Regen von Leipzig fern. Bei der LEAG will man diese Erkenntnisse nicht kommentieren, verweist aber darauf, dass es bislang kaum andere Studien mit ähnlichen Ergebnissen gebe.
Politische Entscheidungen
Letztlich geben aber auch die Kraftwerk-Chefs in Lippendorf offen zu, dass es sich bei der Stromgewinnung aus Braunkohle um ein Auslaufmodell handelt. Seit Längerem denken sie laut über neue Erzeugungstechnologien am Standort Lippendorf nach. Kurz vor Weihnachten boten sie den Stadtwerken an, wenn diese Wärme lieber aus einem Gaskraftwerk beziehen wollten, könne man ein solches Kraftwerk doch gleich in Lippendorf errichten. Das Gelände ist an alle Ebenen des Stromnetzes angebunden, auch die Fernwärmeleitung nach Leipzig ist noch in sehr gutem Zustand. Möglicherweise könnten für das Vorhaben die versprochenen Strukturwandelhilfen genutzt werden.
Bei den Stadtwerken prüfe man diesen Vorschlag ernsthaft, sagt Maik Piehler, der Bereichsleiter Marktsteuerung. Und: Zum jetzigen Zeitpunkt sei man über die Zukunft der Fernwärme in enger Verhandlung mit der LEAG, könne deshalb zu Details der Gespräche keine Auskunft geben. »Häufig werden wir gefragt: Wenn die LEAG ein besonders günstiges Angebot macht, beziehen wir die Wärme dann weiter von dort?« Die Stadtwerke seien guten Angeboten nicht abgeneigt. Aber die Problemfelder Ökologie und Versorgungssicherheit seien eben auch relevant. »Deshalb lässt sich das Thema nicht rein über den Preis klären. Wichtig ist, dass wir bereits heute die sichere Versorgung in Leipzig auch mit Blick auf den Braunkohleausstieg nachhaltig organisieren.« Versorgungssicherheit, so viel wird bei diesem Gespräch deutlich, bedeutet für die Stadtwerke: Sie können die Anlage selbst steuern, weil sie ihnen gehört.
[caption id="attachment_74311" align="alignleft" width="320"] »Gründungstraum der ostdeutschen Umweltbewegung«: Grünen-Stadträtin Märtens hofft auf das baldige Ende der Braunkohle im Leipziger Südraum.[/caption]
Auch für die Stadt Leipzig hätte eine Verlagerung der Fernwärmeproduktion zu den Stadtwerken einige Vorteile. Es bedeutet, dass das stadteigene Unternehmen mehr verdient und dadurch auch mehr Geld für die Verkehrsbetriebe hat, die es aus seinen Gewinnen querfinanziert. Die Stadt ist als Hauptgesellschafter der Stadtwerke auch diejenige, die die zentrale Entscheidung über die Zukunft der Fernwärme in Leipzig trifft. Eine Zustimmung des Stadtrats ist eigentlich nicht nötig, soll aber trotzdem eingeholt werden.
Dort sind die Abgeordneten von Grünen und Linken bereits seit Langem für den Ausstieg aus der Lippendorfer Fernwärme. »Wir kommen damit der Verwirklichung des Gründungstraums der ostdeutschen Umweltbewegung, die gesundheitsgefährdende und umweltzerstörende Braunkohleverwertung im Leipziger Süden zu beenden, einen großen Schritt näher«, sagt Gesine Märtens, Grünen-Stadträtin und Aufsichtsratsmitglied der Stadtwerke. Ihr SPD-Kollege Heiko Bär nennt den Schritt »betriebswirtschaftlich nachvollziehbar«. Eine rot-rot-grüne Mehrheit scheint also sicher. Die CDU hingegen schweigt auch auf mehrfache Anfrage des kreuzer. Aus dem Aufsichtsrat heißt es, die Union wolle eigentlich an Lippendorf festhalten, könne den wirtschaftlichen Argumenten der Stadtwerke aber nichts entgegensetzen.
Komplett zufrieden können Klimaschützer nach einem Leipziger Ausstieg aus der Lippendorfer Fernwärme aber noch nicht sein. Denn bislang wollen die Verantwortlichen von der LEAG ihr Braunkohlekraftwerk weiter laufen lassen. Im schlechtesten Fall laufen der Braunkohlemeiler und das neue Gaskraftwerk dann parallel. Dadurch käme mehr Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre als heute. Wahrscheinlich ist aber, dass das höchstens während eine kurzer Übergangsphase passiert. Will die Politik die Erderwärmung ernsthaft bremsen, ist das baldige Aus der Wolkenmaschine unvermeidbar.