Schwach gefüllt ist der Große Saal des Gewandhauses am Sonntag Abend. Warum ist das so und warum gibt es dennoch ein Publikum für Klavierrecitals? Hinlänglich bekanntes Standardrepertoire einfach mal wieder live hören zu wollen, mag ein Grund für den Konzertbesuch sein. Für viele Musikinteressierte kreisen die Erwartungen an einen Klavierabend aber eher um den Fokus, das Entstehen der Musik im Augenblick und um eine interpretatorische Auslotung dessen, was die Werke jetzt und heute noch aktuell sein lässt. Dass sich jemand auf die Bühne setzt und Schumann spielt, ist nicht mehr selbsterklärend, die tatsächlichen Anforderungen an Interpreten haben sich verschoben, auch wenn es innerhalb der Klassikbranche oft nicht danach aussieht .
Über Yefim Bronfman las ich einmal, er sei ein Pianist, der »die Attitüde des Unkonventionellen nicht nötig« habe. Meint: dieser Mann ist eine unzweifelhafte Referenzgröße für die Interpretation klassischer Klavierliteratur und hat es nicht nötig, sein Spiel mit artfremden Komponenten aufzuwerten. Bronfmans Konzertprogramm, mit dem er in diesem Frühjahr durch Europa und Nordamerika tourt, weist in allen Beiträgen hohes inneres Spannungspotential auf.
Sei es Schumanns Begriff des Humors in der Humoreske op.20, der nicht das vordergründig Spaßige, sondern vor allem das Nebeneinander, die Konfrontation scheinbar unvereinbarer Kontraste beinhaltet. Der Komponist selbst bezeichnete das Stück als »wenig lustig und vielleicht mein Melancholischstes«. Oder Schuberts späte Sonate in c-Moll, D958, die mit krassen Brüchen und schwindelerregenden Modulationen in scheinbar regelmäßiger Textur in unerwartete Abgründe schauen lässt und andere Zeitebenen zu öffnen vermag.
Bronfman spielt diese Werke fingertechnisch zweifellos auf Höchstniveau, doch von Gebrochenheit, Schumannscher Zerissenheit à la Kapellmeister Kreisler, vom dynamischen Ausloten der Extreme oder Schubertscher Verlorenheit ist er weit entfernt. Der angenehm parlierende Gestus des geschmeidig Vermittelnden, der romantisch- weiche, etwas zu pedalgesättigte Klavierklang bestimmen seinen Vortrag. Neben Schumann spielt Bronfman vor der Pause auch Bartóks Suite für Klavier op.14, die der Komponist selbst als »entschlackt und simpler« im Stil kennzeichnet. Hier fehlen der letzte, direkte Zugriff im Ton, die Transparenz und zu oft der mikroskopische Sinn für den Augenblick.
Im zweiten Teil des Abends spielt Bronfman neben Schubert- durchaus unkonventionell- eine Klaviersonate von Galina Ustwolskaja (1919-2006). Die Komponistin wird in Deutschland erst seit den Neunzigern und bisher fast ausschließlich im Neue Musik-Kontext aufgeführt. Ihr Name steht insbesondere für eine nahezu abstrakt zu nennende, monolithische, unerbittlich in dunklen Clusterwelten statisch umherschreitende Musik. Insofern präsentiert Bronfman mit der schlanken vierten Klaviersonate kein typisches Werk. Ustwolskajas Partituren sind bis auf extreme dynamische Anweisungen frei von Vortragszeichen wie Artikulationsangaben oder Informationen zum Pedalgebrauch. Gern schreibt sie vierfaches Piano oder Forte und espressivissimo, ansonsten aber gibt sie ihren Interpreten viele Fragen an die Hand.
Bronfman entscheidet sich auch hier für komfortables Pedalspiel und legato, wo es durchaus wesentlich ungemütlicher und kahler klingen könnte. Damit legt er dieses Stück dramaturgisch eher als Intermezzo innerhalb seines Programms an. Sein Pianississimo hier ist dennoch eindrucksvoll, er greift dieses Extrem noch einmal in seiner ersten Zugabe, einer Scarlatti-Sonate auf, die er diesmal deutlich außerhalb der Komfortzone spielt. Am Ende aber tritt abermals der abgeklärte sechzigjährige Routinier in den Vordergrund und schüttelt noch zwei virtuose Chopinetüden etwas belanglos aus dem Ärmel.