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Literatur

»Eine Zeit tatsächlicher Verwandlung«

Interview mit der Schriftstellerin Ulrike Draesner

  »Eine Zeit tatsächlicher Verwandlung« | Interview mit der Schriftstellerin Ulrike Draesner

Ulrike Draesner ist Schriftstellerin und hat zuletzt ihren Essay »Eine Frau wird älter. Ein Aufbruch« veröffentlicht. Eine Antwort auf die Klischees, die über das Älterwerden und -sein bei Frauen die Denkweise Vieler bestimmen.

kreuzer: Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit dem Älterwerden. Welches Klischee ist dabei am gefährlichsten? Was macht es Frauen so schwer, Frieden mit dem Altern zu schließen?

ULRIKE DRAESNER: Es ist ein persönlicher Essay, ein Buch also, das Gedanken aus Lebenserzählungen entwickelt. Erfahrung wird rückbezogen auf die sozialen, kulturellen und historischen Praktiken, die uns umgeben, Frauen wie Männer gleichermaßen, und in denen wir versuchen, uns einen Reim darauf zu machen, was Altern ist bzw. was Altwerden bedeuten soll. In Bezug auf Frauen empfinde ich hier zweierlei als kritisch: Zum einen das von der männlichen Medizin des 19. Jahrhunderts geprägte Wort »Menopause«. Es suggeriert, dass da etwas im weiblichen Körper auf Pause gestellt würde, und man also nur die richtige Taste drücken müsste, damit »es« dann wieder richtig funktioniert. Dieses Bild ist demütigend. Es handelt sich bei den Wechseljahren nicht um einen Zustand, bei dem einem der Strom abgestellt wird – also Frauen z.B. asexuell werden –, sondern um eine wichtige Zeit tatsächlicher Verwandlung. Zum zweiten: Für jedes Geschlecht giftig ist das Bild von unseren Lebenswegen als Aufstieg und Verfall. Da gibt es angeblich einen Lebenshöhepunkt um die 40 oder 50 – ihm folgen 30 oder 40 Jahre »Talfahrt«. Es wäre sehr viel fruchtbarer, sich den eigenen Lebensgang ohne gnadenlose Gipfelbesteigungen und schrecklich tiefliegende Endpunkte vorzustellen. Und Alter als das Geschenk zu verstehen, sich über eine lange Zeit hinweg kontinuierlich entwickeln zu dürfen.

kreuzer: Ist dieser sehr persönliche Text ein Herantasten an, ein Ausgangspunkt für das Autobiografische? Wird es davon zukünftig mehr geben, Memoiren vielleicht?

DRAESNER: Ich habe meinem Leipziger Publikum im Januar versprochen, in 20 Jahren ein Buch über die Jahre zwischen 60 und 80 zu schreiben. Wir leben in zunehmend älter werdenden Gesellschaften. Eine geistige, achtsame Auseinandersetzung mit dem Thema Alter ist überfällig. Davon sind alle Geschlechter betroffen. Wir können es uns nicht mehr leisten, an der Frage, nur passend zu politischen Wahlrhythmen, alle paar Jahre ein wenig herumzubasteln. Sie erwähnen Memoiren – dafür fühle ich mich zu jung. Aber eines bestimmt: Texte, die mit heute zu tun haben. Texte, die Entwicklungen beobachten, Tabus, Soziotope. Texte, die sich mit unserer Wirklichkeit auseinandersetzen: Wie wir sie uns sprachlich aufbereiten. Das ist für mich ein Kernpunkt von Literatur. So habe ich immer geschrieben.

kreuzer: Zuletzt: Die Leipziger Buchmesse steht vor der Tür. Was empfehlen Sie den Lesebegeisterten aus Leipzig?

DRAESNER: Gehen Sie zu einer Veranstaltung, von der Sie denken würden: Da kenn ich mich nicht aus. Entdecken Sie etwas, das Sie überrascht – das Sie nicht auf dem Schirm hatten. Schmökern Sie, riechen Sie an Büchern, fühlen Sie sie in der Hand. Hören Sie sich Gedichte an.

Ulrike Draesner, geboren 1962, »enfant flexible der deutschen Gegenwartsliteratur« (WDR Zeichen und Wunder), schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Hörspiele, Libretti, und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie hat fünf Romane, zuletzt Sieben Sprünge vom Rand der Welt, fünf Gedichtbände, mehrere Erzählungs- und Essaybände veröffentlicht. Sie interessiert sich für Nature und Life Writing, arbeitet mit Künstlern und Komponisten zusammen. U. a. in Oxford, Bamberg und Frankfurt hielt sie Poetikvorlesungen und ist seit 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.


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