An dieser Stelle veröffentlichen wir das Editorial der April-Ausgabe des kreuzer. Chefredakteur Andreas Raabe erklärt, warum die Prozesse zum Überfall auf Connewitz vor allem eins sind: eine vergebene Chance.
Die Prozesse zum Überfall auf Connewitz im Januar 2016 sind vor allem eins: eine vergebene Chance. Noch nie zuvor gab es die Situation, dass so viele aktive und organisierte Rechtsradikale gemeinsam auf frischer Tat bei einem erheblichen Gewaltakt erwischt und festgesetzt wurden. Nie zuvor gab es eine so große Möglichkeit, die Hintergründe, Kommunikation, Entscheidungswege eines kriminellen Netzwerkes an die Öffentlichkeit zu bringen, das unter anderem die schlimmste Terrorgruppe in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik hervorgebracht und geschützt hat: den Nationalsozialistischen Untergrund. Die Morde und Raubzüge von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, ihr jahrelanges unentdecktes Agieren im Untergrund, waren ein direktes Produkt genau jener Szene und jener Strukturen, aus denen heraus auch der Überfall auf Connewitz stattfand. Das ist die Fallhöhe, auf der sich die behördliche und juristische Behandlung der Vorfälle befindet.
Über die Gründe für dieses Vergeben kann man nur spekulieren: Vermutlich ist vieles einfach einer logistischen Überforderung der Institutionen geschuldet. Amtsgericht und Staatsanwaltschaft klagen seit Jahren über fehlende Ressourcen, zu wenige Richter, zu viele Verfahren. Da liegt es nahe, sich ganz bewusst für eine möglichst schnelle und glatte Abhandlung der mehr als einhundert Verfahren zu entscheiden. Eine Rolle spielt sicher auch die von vielen Verteidigern in Neonazi-Prozessen aufgeführte Verzögerungstaktik mit immer neuen Anträgen – bei einem Verfahren in Koblenz gegen eine rechte Zelle wurden schon mehr als tausend solcher Anträge eingebracht, es findet seit sechs Jahren zu keinem Ende. Ein weiterer Grund könnte die Angst von Ermittlungsbehörden sein, dass thematisiert wird, warum so eine Attacke, wie sie in Connewitz stattfand, nicht verhindert werden konnte. Angesichts der umfangreichen Planungen in Internet-Chats (s. kreuzer 01/2018) und der großen Anzahl an beteiligten Akteuren ist es kaum vorstellbar, dass nicht wenigstens ein V-Mann des sächsischen Verfassungsschutzes von der Aktion Wind bekommen hat. Warum schritt man nicht ein? Es hätte genügt, eine Polizeistreife zum Autobahnparkplatz bei Leipzig zu schicken, an dem sich die vermutlich fast 300 Angreifer kurz vor der Tat verabredet hatten. Ort und Termin waren spätestens am Tattag mehreren hundert Menschen bekannt.
Allein dieses Detail lässt im Grunde nur zwei Schlüsse zu: Entweder hat jemand die Entscheidung getroffen, dass ein Eingreifen nicht nötig ist – oder die Neonazi-Szene ist so gut organisiert und nach außen abgedichtet, dass Polizei und Verfassungsschutz es nicht mitkriegen, wenn sich hunderte Männer aus verschiedenen Bundesländern über Tage, vermutlich Wochen, zu einer gemeinsamen Gewalttat verabreden und beginnen, diese erfolgreich in die Realität umzusetzen. Was ist die Logistik hinter dieser Organisation und warum werden ihre Taten nicht verhindert?
All dies werden die Prozesse vermutlich nicht klären. Man konzentriert sich darauf, die Erwischten möglichst schnell aus dem System zu bekommen, mit Urteilen, die möglichst wenige Probleme machen – und hofft, dass die Denkzettel, die hier verteilt werden, Wirkung entfalten. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, muss die Zukunft zeigen. kreuzer-Reporter Aiko Kempen hat alle bisher geführten Verfahren am Amtsgericht Leipzig beobachtet, seine Zwischenbilanz zu den Connewitz-Prozessen können Sie ab Seite 14 nachlesen. Der Autor und Wissenschaftler Robert Claus gibt ab Seite 20 einen Einblick in die rechtsradikale Szene Ostdeutschlands, die sich nicht über Parteien oder ähnliche politische Strukturen organisiert, sondern »niedrigschwellige Kulturangebote« (Claus) braucht: Kampfsportevents, Rockkonzerte, Fußballspiele. Es sind Veranstaltungen, die vor allem von der Aura körperlicher Gewalt oder zumindest Gewaltigkeit geprägt sind. Claus schreibt: »Das dichte Netzwerk extrem rechter Subkultur aus Musik, Hooliganismus und Kampfsport haben in den letzten dreißig Jahren ganze Generationen junger Männer und Frauen durchlaufen, sie wurden in ihnen sozialisiert.«
Eine gute Lektüre wünschtAndreas Raabe