Mehr als 200 Angeklagte, Bewährungsstrafen gegen »Teilgeständnisse«, Körperverletzungen, die vor Gericht keine Rolle spielen – die Leipziger Prozesse zum Neonazi-Angriff auf Connewitz ergeben ein komplexes Bild. Fest steht: Der Angriff wird die sächsische Justiz noch lange beschäftigen
Sieben Minuten dauert es. Jedesmal. Sieben Minuten, in denen die Staatsanwaltschaft Hausnummern, Geldbeträge, Autokennzeichen und Beschädigungen aneinanderreiht – zerstörte Schaufenster und eingeschlagene Seitenscheiben, abgetretene Außenspiegel, Brandschäden, verursacht von Sprengkörpern und Signalmunition. Am Ende steht eine Zahl: 113.000 Euro Schaden. 19 demolierte Autos, 23 beschädigte Kneipen und Geschäfte, so lautet die offizielle Bilanz des Angriffs von mehr als 200 rechten Hooligans und Neonazis auf den Stadtteil Connewitz.
Während des ersten Jahrestags von Legida am 11. Januar 2016 war die größtenteils vermummte Gruppe, mit Schlagwerkzeugen und Waffen ausgerüstet, durch die Wolfgang-Heinze-Straße gezogen. Ihr einziges Ziel, so formuliert es die Staatsanwaltschaft: »eine Schneise der Verwüstung«. Die Polizei setzte damals 215 der meist ortsunkundigen Angreifer fest. Sie waren vor den anrückenden Beamten in eine Seitenstraße geflüchtet, an deren Ende eine Polizeistation liegt.
Mammutaufgabe für die sächsische Justiz
Bis die ersten von ihnen wegen des Angriffs vor einem Leipziger Gericht stehen, vergehen mehr als zweieinhalb Jahre. Es ist eine Mammutaufgabe für die sächsische Justiz: In 103 Verfahren an den Amtsgerichten Leipzig, Torgau, Eilenburg und Grimma müssen sich meist zwei Angeklagte gleichzeitig für den von Rechten so angekündigten »Sturm auf Connewitz« verantworten, die meisten davon in Leipzig. Gegen neun der mutmaßlichen Täter wird in Dresden verhandelt.
Seit die Leipziger Prozessreihe im August 2018 begann, wurden am Amtsgericht in der Bernhard-Göring-Straße 26 der Angreifer wegen »besonders schwerem Landfriedensbruch« verurteilt. Der kreuzer hat als einziges journalistisches Medium alle 14 Verhandlungstermine verfolgt und dokumentiert.
Als das erste Urteil in dieser Sache fiel, sah es Amtsrichter Pirk noch als notwendig an, das Publikum darauf hinzuweisen, Unmutsbekundungen oder laute Zustimmung zu unterlassen. Ein Jahr und acht Monate Haft ohne Bewährung lautete sein Urteil gegen Martin K. und Dennis W. am 23. August des letzten Jahres. Beide waren am Abend des Angriffs Teil der Gruppe, die von der Polizei in einer schmalen Seitenstraße eingekesselt wurde. Einer der eingesetzten Polizisten sagte als Zeuge aus, es liege im Bereich des Unmöglichen, dass es sich bei den Eingekesselten nicht um die Personen handle, die in der Wolfgang-Heinze-Straße randaliert hatten. Angesichts der massiven Zerstörungen sei dem Bürger auf der Straße eine Bewährungsstrafe nicht zu vermitteln, führte Richter Pirk damals aus. Die Verteidigung hatte für beide Angeklagten einen Freispruch gefordert. Ihre Mandanten selbst äußerten sich nicht zu den Tatvorwürfen. Für viele Prozessbeobachter kam nicht nur das hohe Strafmaß überraschend, schließlich wurde den beiden Angeklagten keine individuelle Tat zur Last gelegt. Das Gericht sah es als entscheidend an, dass sie als Teilnehmer einer geschlossenen Gruppe bei den Zerstörungen dabei waren. Auch die eindeutige politische Einordnung der Geschehnisse war eine Überraschung. Nachdem in der Vergangenheit oft ein »Fußballhintergrund« für den Angriff angeführt wurde, lautete der Tenor von Staatsanwaltschaft und Gericht nun, eine »rechts stehende Tätergruppierung« habe
einen »links geprägten Stadtteil« angegriffen.
Reden ist Silber
Bereits drei Wochen nach dem ersten Urteil zeigt sich ein vollkommen anderes Bild am Amtsgericht. Als Staatsanwältin Daute die Anklageschrift vorträgt, wirkt es mehr wie eine Formalität. Auch diesmal geht es um den Angriff auf Connewitz, doch dass an diesem Tag keine Haftstrafen verhängt werden, steht bereits vor Verhandlungsbeginn fest. In einer Verfahrensabsprache haben sich Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht darauf geeinigt, dass die Angeklagten Bewährungsstrafen erhalten, sofern sie sich geständig zur Sache einlassen. Auf die zumeist langwierige Befragung von Zeugen kann damit verzichtet werden. Vorher
getätigte Aussagen von Polizisten oder geschädigten Anwohnern werden im sogenannten »Selbstleseverfahren« in den Prozess eingebracht: Alle Prozessbeteiligten erhalten die Möglichkeit, besagte Aussagen zur Kenntnis zu nehmen und dies in ihre Bewertung der Ereignisse einfließen zu lassen.
[caption id="attachment_75681" align="alignright" width="320"] Richterin Ludewig: »Bisher waren alle hinten, haben alle nichts gemacht, alle nichts gewusst«[/caption]
Wenn die Angeklagten einräumen, am besagten Abend in Connewitz dabei gewesen zu sein, entlasten sie damit vor allem die potenziellen Zeugen, begründet Richter Pirk die milderen Strafen. Die Geständnisse seien auch »eine Art Entgegenkommen« gegenüber den Menschen, die von ihren Fenstern aus beobachten mussten, wie ihre Autos oder benachbarte Geschäfte von einem bewaffneten und maskierten Mob demoliert wurden. »Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Angst in Connewitz«, berichtete eine Anwohnerin im ersten Prozess, während offenkundige Bekannte der Angeklagten sich auf den Zuschauerbänken das Lachen nicht verkneifen konnten. Ein Gerichtssprecher teilte dem kreuzer mit, dass es theoretisch denkbar ist, geschädigte Anwohner mehr als hundert Mal aussagen zu lassen, auch wenn das »für die Zeugen sicherlich nicht schön« sei. Zu dem Zeitpunkt hatte die Zeugin bereits acht weitere Ladungen erhalten.
»Dass der Richter sich auf einen Deal mit einem einschlägig bekannten Neonazianwalt einlässt, ist ein Skandal«, kommentierte Landtagsabgeordnete und Stadträtin Juliane Nagel das Urteil des zweiten Prozesses zum Connewitz-Angriff und verwies auf die mögliche Rolle von Verteidiger Olaf Klemke. Im NSU-Prozess trat er als Anwalt von Ralf Wohlleben auf, dem wichtigsten Unterstützer des Terroristen-Trios und sorgte dort für Empörung, als er einen Gutachter bestellen wollte, um auszuführen, dass Deutschland vor dem »drohenden Volkstod« stehe. Seit seinem Auftritt am Leipziger Amtsgericht scheinen die Weichen für den weiteren Verlauf der Prozessreihe gestellt.
»Teilgeständnisse«
Die folgenden Verhandlungen bleiben dem neuen Schema größtenteils treu. »Geständige Einlassung gegen Bewährung« scheint die Formel fortan zu lauten. In dieser Weise werden unter anderem zwei ehemalige NPD-Kandidaten, der mutmaßliche Schriftführer einer rechten Rockergruppierung und der Sänger einer Rechtsrockband vom Gericht als Mitläufer, die »nur eine untergeordnete Rolle« gespielt hätten, zu Bewährungsstrafen und Geldauflagen verurteilt. Für den vereinbarten Deal scheinen bereits minimale Einlassungen auszureichen. Kaum ein Angeklagter gibt wesentlich mehr preis, als dass er an dem Abend vor Ort war.
[caption id="attachment_75683" align="alignleft" width="320"] Angeklagter Maximilian K. (M.): »Man ist einmal mit dabei, da geht man nicht einfach«[/caption]
Keiner der bisher Verurteilten räumt ein, selbst etwas beschädigt zu haben. Einige wollen den Gewaltexzess von ihrem Standpunkt aus kaum richtig mitbekommen haben. »Es war laut«, erklärt einer von ihnen, ohne genau sagen zu können, wo der Lärm herkam. Auf die Frage, in welchem Teil der Gruppe sie sich befunden haben, lautet die Antwort der Angeklagten entweder »hinten«, »ganz hinten«, »im hinteren Teil« oder »in der letzten Reihe«.
»Ich frage mich, wie lang diese Reihe da hinten eigentlich gewesen sein kann«, kommentiert die Staatsanwaltschaft einmal und auch eine der verhandelnden Richterinnen fasst zusammen, »alle Leute, die wir hier verhandeln, sind alle ganz hinten gelaufen und haben alle nichts gemacht«. Als »Teilgeständnisse«, wie es Staatsanwältin Daute einmal nennt, die zur Erfüllung der Absprache ausreichen, werden die Ausführungen dennoch gewertet.
Eine weitere Kuriosität neben der überraschend gut gefüllten letzten Reihe: Fast die Hälfte der Angeklagten gibt an, ohne Begleitung nach Connewitz angereist zu sein und dort alleine an der Wiedebachpassage gewartet zu haben, weil sie von einer »Demo in Connewitz« gehört hatten. Dieser hätten sie sich dann angeschlossen, die Gruppe bei Beginn der Ausschreitungen aber nicht verlassen – aus Angst, sich alleine in der »Linken-Hochburg« Connewitz zu bewegen. Demnach hätten an dem Abend rund ein Dutzend schwarz gekleideter Personen direkt vor einem Polizeiposten auf den Rest der Gruppe gewartet.
Am besten nichts Neues
Wie konnte es dazu kommen, dass mehr als 200 offenkundig gewaltbereite und bewaffnete Personen aus mehreren Bundesländern gemeinsam in den Leipziger Stadtteil einfallen? »Von den Prozessen erwarte ich endlich Aufklärung darüber, wer die Rädelsführer der Aktion waren – und warum sie nicht durch Behörden verhindert werden konnte«, forderte Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz im Sommer 2018. Angesichts des bisherigen Verlaufs der Prozesse scheint dies eine Wunschvorstellung zu bleiben. Ermittlungen des Landeskriminalamts zeigen zwar deutlich, wie koordiniert die Anreise der Gruppe erfolgte, weitere Einblicke kommen vor Gericht allerdings kaum zu Tage. Mehrere Angeklagte erwähnen Rund-SMS, Gruppenchats oder Infonachrichten von unbekannten Nummern. Ihre Handys von damals hätten sie aber nicht mehr, so dass sie nicht rekonstruieren könnten, wer dahinterstecke.
[caption id="attachment_75682" align="alignright" width="320"] Anwältin Engmann: »Er war der typische Mitläufer, der einfach mal mit dabei sein wollte«[/caption]
Zuweilen scheint es, dass dem Gericht mehr an einer effizienten Abarbeitung der Fälle gelegen ist, als daran, neue Erkenntnisse zutage zu fördern. »Ich wüsste nicht, was heute grundsätzlich Neues kommen könnte«, kommentierte Richter Pirk bereits Ende Oktober. Durch die Einlassungen der Angeklagten dauern die Verhandlungen nicht mehrere Tage, sondern nur noch wenige Stunden. Der Rekord liegt derzeit bei zwei Stunden zwischen Eröffnung und Urteilsverkündung – inklusive einer 45-minütigen Unterbrechung: Beide Angeklagten ließen innerhalb von rund dreieinhalb Minuten von ihren Verteidigern erklären, dass sie am Abend des 11. Januar 2016 in Connewitz waren und mit der Gruppe mitgelaufen sind, aus der heraus Geschäfte, Wohnhäuser und Autos angegriffen wurden. Die Geständnisse nahmen somit weniger als die Hälfte der Zeit ein, die der Staatsanwalt benötigt, um die Liste der Schäden vorzutragen.
Ähnlich knapp lässt Kampfsporttrainer Mike J. in einer anderen Verhandlung durch seinen Anwalt in drei Sätzen mitteilen, er räume den Tatvorwurf ein, habe im Vorfeld über »Buschfunk« davon erfahren, ohne den genauen Plan zu kennen und sei nach der Arbeit nach Connewitz gefahren. Auf die Rückgabe der bei ihm sichergestellten Quarzhandschuhe verzichte er und stehe für weitere Fragen nicht zur Verfügung. Sein Verteidiger nennt dies später ein »umfassendes Geständnis«, bei dem er den Tatvorwurf im Gegensatz zu seinen Mitangeklagten »ohne Wenn und Aber« eingeräumt habe. In allen geschilderten Fällen verhängt das Gericht Bewährungsstrafen.
Verletzte spielen keine Rolle
Eine Zahl findet sich jedes Mal in der Anklageschrift: 516,73 Euro. Es sind die Kosten für das zerstörte Fenster einer Wohnung im ersten Stock. Was dabei unter den Tisch fällt: Hinter dem Fenster, das mit einer Rauchpatrone durchschossen wurde, stand der Bewohner. Entgegen der von Staatsanwaltschaft und Gericht in fast jedem Termin geäußerten Wahrnehmung, dass nur durch Glück während des Angriffs keine Menschen verletzt worden seien, gab es an dem Abend keineswegs nur Sachschäden.Erst nach mehrmaliger schriftlicher Nachfrage räumt die Staatsanwaltschaft Leipzig ein, dass ihr »im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit den
gewalttätigen Ausschreitungen vom 11.01.2016« auch Körperverletzungshandlungen bekannt sind und merkt an, diese seien vor Gericht bereits thematisiert worden.
Doch erst als der kreuzer (»Ich bin gerade beschossen worden!«, kreuzer 12/2018) in Kooperation mit der taz bundesweit berichtet, dass ein Anwohner durch ein Rauchgeschoss verletzt wurde und dies den Behörden nachweislich bekannt ist, lädt das Amtsgericht ihn kurzfristig als Zeugen. Es bleibt bei einer einmaligen Aussage, die in nachfolgenden Verfahren nicht in das Selbstleseverfahren mit einbezogen wird. Zudem ist Tobias*, der durch das Rauchgeschoss eine Verbrennung erlitt, nicht die einzige Person, die an dem Abend angegriffen und verletzt wurde.
Mehrere Passanten schilderten dem kreuzer übereinstimmend, wie sie auf der Straße attackiert und geschlagen wurden, bis sie sich in einen Imbiss retten konnten. Auch die Mitarbeiterin einer Kneipe, die am Landgericht Dresden berichten konnte, wie sie mit Pfefferspray attackiert wurde und nur knapp schwereren Verletzungen entkam, wurde in Leipzig bisher nicht gehört. Vermummte zerstörten damals die Scheiben der Kneipe und versuchten erfolglos hineinzugelangen. Anschließend sprühten sie Reizgas durch die zersplitterte Glasfront. »Wir mussten zu dritt die Tür zuhalten. Wenn das kein Sicherheitsglas gewesen wäre, hätten die uns vermutlich totgeschlagen«, erzählt sie dem kreuzer. Zwar hat das Amtsgericht sie mehrfach als Zeugin geladen, in allen Fällen aber kurzfristig wieder abbestellt.
Diese Körperverletzungen hätten das Gesamtgeschehen laut Staatsanwaltschaft Leipzig nicht wesentlich geprägt, zudem sei es für den Tatvorwurf des Landfriedensbruchs unerheblich, ob sich die Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen gerichtet haben. Im November wies Strafrechtler Martin Schaar im kreuzer darauf hin, es könne »selbstverständlich ein strafzumessungsrelevantes Kriterium sein, ob lediglich auf Sachen eingewirkt wurde, oder ob Menschen zu Schaden kamen«. Im Klartext: Wenn es zu Körperverletzungen kam, könnten die Strafen höher ausfallen.
Am Landgericht Dresden spielen diese Angriffe auf Personen anders als in Leipzig eine entscheidende Rolle, wenn dort zum »Sturm auf Connewitz« verhandelt wird. So hat die Generalstaatsanwaltschaft Dresden in Bezug auf die Ereignisse am 11. Januar 2016 gegen acht Personen nicht nur Anklage wegen besonders schwerem Landfriedensbruch erhoben, sondern auch wegen gefährlicher Körperverletzung in vier tateinheitlichen Fällen. Zwei Personen wurden in Dresden bereits entsprechend verurteilt, legten aber Revision ein.
»Wir sind wegen den Zecken hier!«
Dass zumindest Teile der Gruppe, die in Connewitz randalierte, keineswegs nur auf Sachbeschädigungen aus war, sondern bereit, Menschen auch schwer zu verletzen, war schon vor Beginn der juristischen Aufarbeitung offenkundig. Noch am Tatabend stellte die Polizei zahlreiche Messer, mit Nägeln gespickte Zaunlatten, Totschläger und mindestens eine Axt sicher. Anscheinend hatten sich die Angreifer der Waffen entledigt, nachdem die Gruppe von der Polizei eingekesselt wurde. Mit Zahnschutz und Quarzhandschuhen ausgestattet, schienen zudem mehrere Angreifer auf eine körperliche Auseinandersetzung bestens vorbereitet. Polizeivideos zeigen, wie eine vermummte Person mit Holzlatte in der Hand den Beamten entgegenbrüllt, warum man da sei: »Verpisst euch, wir sind wegen den Zecken hier! Die wollen wir haben!«
Im Januar 2018 veröffentlichte der kreuzer Chats der Angreifer, in denen das Bedrohungspotenzial ebenso offensichtlich wird. »Es ist Krieg«, schrieb ein Leipziger Hooligan nur wenige Stunden vor dem Angriff an einen Bekannten, um zu beratschlagen, welche Waffen sie mitnehmen. Auch »tödliche Waffen« werden als angebrachtes Mittel diskutiert. Vor Gericht spielen diese Nachrichten anfangs kaum eine Rolle, obwohl sie Planungen, Verabredungen zu Gewalttaten und Klarnamen enthalten. Als die Staatsanwaltschaft im ersten Verfahren die Lesung des Ordners zur Telekommunikation beantragt, wird dies vom Gericht abgelehnt. »Das ist ein gesamter Band?!«, kommentiert ein Verteidiger sichtlich entrüstet den Antrag. Als ein halbes Jahr später die Staatsanwaltschaft darauf hinweist, dass einer der Angeklagten offenbar vor der Abfahrt nach Connewitz im Chat fragt, ob er Pfefferspray mitnehmen soll – also genau die Waffe, mit der am Abend eine potenzielle Zeugin verletzt wird –, bleibt dies folgenlos. »Ich glaube, da können wir diesmal auch drauf verzichten«, sagt Richter Pirk noch Minuten vorher über die Lesung der Chatprotokolle. In seiner Urteilsbegründung verweist er abermals darauf, man könne von Glück reden, dass niemand verletzt wurde. Weder auf die Bewertung des Angriffs noch auf das Strafmaß hat die Nachricht Einfluss.
Eine Woche später sieht dies ein wenig anders aus. Aufgrund der erfassten Kommunikation hält Richterin Hahn dem Angeklagten Marcus S. vor, dass sich seine Äußerungen im Vorfeld nur bedingt mit dem Bild decken, das er vor Gericht zeichnet. Zu Beginn seiner Einlassung bittet er um Entschuldigung und sagt über Gewalt und Sachbeschädigung: »Das ist nicht meine Art«. 2016 schrieb er kurz vor dem Angriff in einer Nachricht offenbar voller Vorfreude an einen Bekannten 56 mal das Wort »wamsen« (schlagen). »Der hat sich ein bisschen eingegroovt, sich eingesungen«, kommentiert die Staatsanwaltschaft die Nachricht später. Zwischenzeitlich hatte der kreuzer über den Umgang mit den Chats berichtet. Aufgrund der »wamsen«-Nachricht erhält S. eine höhere Bewährungsstrafe als seine Mitangeklagten.
Was ist mit der Öffentlichkeit?
In der Öffentlichkeit findet die Prozessreihe zu einem der größten rechten Angriffe aller Zeiten kaum noch Platz. Seit dem zweiten Prozess hat die Leipziger Volkszeitung ihre Berichterstattung dazu fast völlig eingestellt und nicht nur die Plätze auf den Pressebänken bleiben zumeist leer. Bei den Verhandlungen gelten hohe Sicherheitsvorschriften. Die wenigen Besucher erhalten nur mit gültigem Ausweis und nach aufwendiger Kontrolle Einlass in den Saal. Handys und Computer müssen draußen bleiben – sitzungspolizeiliche Anordnung des Gerichts. Als diese Regelung bei einer Verhandlung im Januar ausnahmsweise nicht gilt, zitiert der kreuzer per Twitter aus dem Saal einen einzigen Satz der Staatsanwaltschaft, in dem die Aussage des Angeklagten kritisch hinterfragt wird: »Sie sind ja ganz hinten gelaufen, wie so viele andere auch«. Minuten später unterbricht der Staatsanwalt die Ausführungen eines Verteidigers und fordert mit dem Smartphone in der Hand, umgehend Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um weitere Berichterstattung zu verhindern, nötigenfalls mit Ordnungshaft. Das Twittern aus einem Gerichtssaal ist in Deutschland zwar umstritten, aber nicht verboten. Die Richterin lässt den Saal räumen und ordnet Einlasskontrollen an.
Anfang des Jahres meldet ein linkes Bündnis eine Kundgebung vor dem Amtsgericht an, weil Polizei und Justiz »keinerlei Interesse« daran hätten, »einen der größten, organisierten Neonazi-Angriffe in Sachsen seit Jahren und die schwerste Attacke im Stadtteil Connewitz seit den frühen Neunzigern aufzuklären« – und ruft dazu auf, die Prozesse zu besuchen. Eine sichtbare Steigerung der Besucherzahlen zeigt sich in den darauf folgenden Prozessen nicht. Ein für den Tag der geplanten Kundgebung angesetzter Verhandlungstermin findet nicht statt. Einer der Verteidiger sei krankheitsbedingt verhindert, begründet das Amtsgericht die kurzfristige Absage. Ein neuer Termin ist für Ende Juli angesetzt.
In den Verhandlungen seit August 2018 wurde von Gericht und Staatsanwaltschaft mehrfach geäußert, man müsse den Angeklagten strafmildernd zugutehalten, dass die Tat mittlerweile lange zurückliegt.
Kein Ende in Sicht
Fest steht: Der Aufwand für das Amtsgericht ist enorm. 23 Richterinnen und Richter sind für alle Strafsachen und Ordnungswidrigkeiten zuständig, acht weitere kümmern sich um Jugendstrafsachen. Regelmäßig kam es in der Vergangenheit zu teils kurzfristigen Terminverschiebungen. Für die Koordination der Termine kommt mittlerweile erschwerend hinzu, dass das Amtsgericht dazu übergegangen ist, in einigen Fällen nicht nur zwei, sondern gleich vier Angeklagte auf einmal zu verhandeln.
Auch dies muss keineswegs bedeuten, schneller voranzukommen. Bisher wurde am Amtsgericht erst gegen wenige Personen verhandelt, die tief in der rechten Szene verwurzelt sind. Zahlreiche Personen, die seit Jahren wichtige Rollen in der ostdeutschen Neonazi-Szene einnehmen, warten noch auf ihren Prozess. Ob diese sich auf einen Deal mit der Justiz einlassen und den in der Szene üblichen Schweigekodex brechen, scheint fraglich. Wie aufwendig sich diese Prozesse
gestalten können, zeigt sich, als mit Dirk Waldschmidt ein weiterer Anwalt aus dem NSU-Prozess in Leipzig auftritt. Sein Mandant, ein Kampfsportler aus Thüringen, schweigt im Februar zur Causa Connewitz – seine drei Mitangeklagten ebenfalls. In der Verhandlung stellt Waldschmidt den »unaufschiebbaren Antrag«, die Richterin wegen Befangenheit abzulehnen. Sie habe den Verhandlungstermin vorsätzlich auf neun Uhr morgens gelegt, obwohl sie weiß, dass er und sein Mandant eine mehrstündige Anreise haben. Es folgen zahlreiche weitere Anträge, Beschwerden und Rügen der Verteidigung. Unterstützung erhält Waldschmidt dabei von einem weiteren Verteidiger, der in der Vergangenheit in der NPD aktiv war. Die Staatsanwaltschaft spricht von »Nebelkerzen«. Diese Verfahrensverzögerung zelebrierten Waldschmidt und Kollegen bereits bei dem Prozess gegen die Neonazi-Organisation »Aktionsbüro Mittelrhein« in Koblenz, der mit insgesamt 26 Angeklagten einer der größten Prozesse dieser Art ist. Das Verfahren, in dem bisher über tausend Befangenheitsanträge, Beweisanträge und Anträge zum Verfahrensverlauf gestellt wurden, zieht sich seit 2012 hin. Auch diese Erfahrung mag einer der Gründe dafür sein, dass am Leipziger Amtsgericht statt eines Riesenprozesses mit mehr als 200 Angeklagten lieber auf viele kleine Verfahren zum Connewitzangriff gesetzt wird.
Angesichts der Vielzahl der Verfahren scheint jedoch noch lange kein Ende in Sicht. Das Amtsgericht selbst äußert sich nicht zu der Frage, ob man einen
ungefähren Zeitrahmen für die Verhandlungsreihe absehen kann. Geht es in dem aktuellen Tempo weiter, könnte das letzte erstinstanzliche Urteil möglicherweise erst 2023 fallen, mehr als sieben Jahre nach dem Angriff. Zudem sind bislang nur 15 Urteile rechtskräftig. Sechs Personen schwiegen bislang und wurden zu Haftstrafen verurteilt, sie alle haben Berufung eingelegt. In diesen Fällen muss am Landgericht erneut verhandelt werden. Einen Termin dafür gibt es bisher nicht.
* Name von der Redaktion geändert