In einer Verhandlung zum Neonazi-Angriff auf Connewitz am Donnerstag wurde dem Angeklagten ein Video zum Verhängnis, das seine Verteidigerin eigentlich zur Entlastung nutzen wollte. Die vorsitzende Richterin bewies ein gutes Auge und demonstrierte akribische Vorbereitung. Das Ergebnis: Anderthalb Jahre Haft ohne Bewährung für den Angeklagten.
Nach insgesamt drei Verhandlungstagen endete am Donnerstag der bisher zeitintensivste Prozess am Leipziger Amtsgericht zum Angriff von Neonazis und Hooligans auf den Stadtteil Connewitz im Januar 2016. Ein wesentlicher Grund dafür, dass ein Urteil erst rund sechs Wochen nach Prozesseröffnung fiel: Der Angeklagte Jens E. stritt bis zuletzt ab, gemeinsam mit rund 250 weiteren dunkel gekleideten und vermummten Personen durch die Wolfgang-Heinze-Straße gezogen zu sein. Dort zerstörte die Gruppe zahlreiche Autos und Geschäfte, zündete Pyrotechnik und verletzte mehrere Anwohner, Passanten und Mitarbeiter der ansässigen Kneipen. Der Großteil der Angreifer wurde in der Auerbachstraße von der Polizei festgesetzt, nachdem sie vor der Polizei in die kleine Seitenstraße geflüchtet waren.
E. gab an, er habe an dem Abend lediglich zu einer Legida-Demo gehen wollen. Ein Freund habe ihm erzählt, dass diese in Connewitz stattfinden würde. E. sei ihm zufolge nie auf der Wolfgang-Heinze-Straße gewesen, habe den Gewaltexzess nur von Weitem gesehen und sich daraufhin alleine auf den Rückweg zu seinem Auto gemacht. Seiner Schilderung nach hätten Polizeibeamte ihn in der Nähe des Nettomarkts am Wiedebachplatz angehalten und »zur eigenen Sicherheit« später in die Auerbachstraße zu der eingekesselten Gruppe der Angreifer gebracht. Um diese Version zu stützen, stellte seine Verteidigerin Daniela Krumpe zahlreiche Beweisanträge. Einer davon ist ihrem Mandanten nun anscheinend zum Verhängnis geworden.
Ursprünglich sollte das Sichten von Filmaufnahmen, die ein Bereitschaftspolizist am Tatabend in Connewitz anfertigte und die auf Antrag der Verteidigung mehrfach vorgeführt wurden, Jens E.s Version stützen. Jedoch hatte die Richterin sich allem Anschein nach intensiv mit dem Material auseinandergesetzt – und inszenierte das Ergebnis ihrer Bemühungen auf erstaunliche Weise.
»Hier sehen Sie ihren Mandanten, der kommt auch gleich nochmal ins Bild«
Als Richterin Hahn, die Vertreterinnen der Staatsanwaltschaft und Verteidigerin Krumpe die Videoaufnahmen der eingekesselten Gruppe begutachten, tippt die Richterin kurz mit einem Stift auf einen der Köpfe in der Menge: »Hier sehen Sie ihren Mandanten, der kommt auch gleich nochmal ins Bild«. Mehrfach wechselt sie daraufhin zwischen ihrem Pult und dem Bildschirm, verweist beinahe beiläufig auf eine Szene im Video. »Da ist er wieder.« Anschließend unterbricht sie die Verhandlung kurz, um dem Angeklagten die Möglichkeit zu geben, sich mit seiner Verteidigerin zu besprechen. Nach kurzer Pause verkündet Verteidigerin Krumpe, ihr Mandant habe sich auf dem Video nicht erkannt. Sie will einen weiteren Antrag stellen, doch Richterin Hahn unterbricht sie – denn sie hat noch etwas vorbereitet.
Ein weiteres Video wird abgespielt. Stark vergrößert und mit einem roten Kreis klar markiert sticht ein Kopf aus der Menge der Eingekesselten hervor. Der Mann nimmt seine Vermummung ab, blickt in alle Richtungen. Auch die Staatsanwaltschaft identifiziert zweifelsfrei Jens E., der laut seiner Schilderung nicht vermummt gewesen und erst nachträglich in die Auerbachstraße gekommen sein will. »Ich habe dieses Video über Stunden gesichtet«, merkt Richterin Hahn an. Zudem habe sie die Aufnahmen auch mit Fotos von allen weiteren mutmaßlichen Connewitz-Angreifern abgeglichen, um mögliche Verwechslungen auszuschließen. Erneut beantragt die Verteidigung eine Unterbrechung.
Trotz Video: Angeklagter beharrt auf seiner Version und beklagt »Sippenhaft«
Obwohl Richterin Hahn noch einmal darauf hinweist, dass die Möglichkeit einer Verfahrensabsprache weiterhin besteht, also gegen ein Geständnis die Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe in Aussicht steht, bleiben E. und seine Verteidigung im Wesentlichen bei ihrer Version der Ereignisse. Lediglich was die zweite Hälfte seiner Erzählung angehe, habe E. »geflunkert«, führt die Anwältin in ihrem Schlussplädoyer aus. Man könne auch nur nachweisen, dass er in der Auerbachstraße vermummt gewesen sei, nicht schon vorher. Krumpe sieht lediglich den Tatvorwurf des einfachen Landfriedensbruchs erfüllt und fordert eine Geldstrafe in Höhe von 2160 Euro.
Auch der Angeklagte E. ergreift die Möglichkeit, sich zu äußern. Er sei erschrocken über die Verfahrensweise und kritisiert, Behörden hätten Daten weitergegeben, wodurch er schon vor der Verhandlung als Täter stigmatisiert werde. »Ich war lediglich in der Auerbachstraße«, beharrt er, weshalb er sich nun »Sippenhaft« ausgesetzt sehe. Auch die Rechtsstaatlichkeit stelle er angesichts dessen in Frage.
Diese Vorwürfe greift Richterin Hahn in ihrer Urteilsbegründung auf. »Sie fühlten sich vorverurteilt, jetzt wissen Sie, dass Sie verurteilt sind«, richtet Sie sich an den Angeklagten, den sie des besonders schweren Landfriedensbruchs schuldig spricht. Mit einer Haftstrafe über ein Jahr und sechs Monate ohne Bewährung folgt sie in der Strafzumessung der Forderung der Staatsanwaltschaft. »Sie haben sich an einer extrem feigen Aktion beteiligt«, hält sie E. vor und weist ihn darauf hin, er habe genau gewusst, worauf er sich einlasse, als er nach Connewitz fuhr: »Da findet nie Legida statt!«
Weitere Anklage wegen Anschlag auf Ministerwohnung
Jens E. wird sich zudem bald einem weiteren Verfahren am Amtsgericht stellen müssen. Ihm wird vorgeworfen, auch am Angriff auf die Wohnung des sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow beteiligt gewesen zu sein. Für den Angriff wurde bereits ein einschlägig vorbestrafter rechter Hooligan erstinstanzlich verurteilt. Der Angriff soll demnach einer benachbarten Wohngemeinschaft von Menschen aus der linken Szene gegolten und die Täter sich schlicht im Fenster geirrt haben. In dieser Sache läuft derzeit das Berufungsverfahren am Landgericht Leipzig. Jens E. bestritt bis zuletzt jegliche Verbindungen in rechte Kreise oder die gewaltbereite Fußballszene.
Ursprünglich hätte am Donnerstag wegen des Connewitz-Angriffs noch gegen eine weitere Person verhandelt werden sollen. Der Mitangeklagte Philipp S. räumte bereits am ersten Prozesstag die Beteiligung am Angriff auf Connewitz ein und gab zu, einen Pflasterstein durch das Schaufenster eines Musikalienhändlers geworfen zu haben. Weil S. nicht zum Fortsetzungstermin erschien und auch telefonisch nicht erreicht werden konnte, wurden die Verfahren gegen ihn und Jens E. kurzfristig abgetrennt.