600.000: Zum vierten Mal in seiner Geschichte springt Leipzig über diese Einwohnermarke. Im Oktober soll es so weit sein. Erwartungsvoll schielen die einen auf diese Zahl, verheißt sie ihnen doch gute Einnahmen bei Mieten und Immobilienverkäufen. Andere fürchten, sich ein Obdach in der Stadt nicht mehr leisten zu können. Dritte beschwichtigen, Leipzig sei immer noch günstig. Wer hat recht?
Die wachsende Stadt
Im vergangenen Jahr war Leipzig erneut die deutsche Großstadt mit dem höchsten Wachstum: 6.180 neue Einwohner. Aktuelle Boomviertel sind Möckern, Stötteritz, die Südvorstadt und Altlindenau. Versuchte die Stadt noch in den 1990ern, der Schrumpfung mit Eingemeindung und Abriss zu begegnen, zeigen sich nun die Folgen jener Jahre.
Nach der Wiedervereinigung 1990 erwarteten viele die schnelle Erfüllung von Helmut Kohls Versprechen. Wo, wenn nicht in Leipzig würde die Landschaft blühen? Der Immobilienmarkt erschien Investoren als Buffet mit günstigen Häppchen. Heruntergekommene, aber in der Substanz stabile Gründerzeithäuser weckten in Verbindung mit dem steuerlichen Fördermodell der Sonderabschreibung Ost Hoffnungen auf fette Renditen. Es wurde gebaut, was das Zeug hält – mit westlichen Mietpreisen als Zielvorstellung. Doch nach dem warmen Buffet kam die kalte Dusche. Ohne Jobs keine Menschen, ohne Menschen keine Mieten. Die Investitionen entpuppten sich als Planungsbrachen.
Wohnungsbesichtigungen liefen damals so ab: Parkett, Stuck, Zentralheizung? Kein Problem, die ersten Monate waren mietfrei, Maklercourtage zahlten die Vermieter. Studentenstatus war kein Miethindernis. So wurde der bürgerliche Stuck mit Fischgrätenparkett zur Optik in Wohngemeinschaften von Studierenden und Azubis. Aber die kommen nicht in unendlicher Zahl, sondern verstetigten sich als 30.000 zahlungsunkräftige Bewohner.
So setzte sich der Stadtrückbau durch. Im Osten wie Westen der Stadt wurden ganze Karrees von Bauruinen abgerissen. Von den Plattenbauten sollten ursprünglich 25.000 Wohnungen verschwinden, bei 13.000 rückte tatsächlich der Bagger an. Townhouses, innerstädtische Eigenheime, sprossen aufgrund geringer Bodenpreise wie Pilze. Diese Legosteinobjekte sind heute fast unbezahlbar.
Gleichzeitig feierte die städtische Wirtschaftsansiedlung Erfolge: BMW, Porsche, DHL. Es entstanden Jobs, ebenso bei Call-Centern. Leipzig wurde zur Wake-Market-City, zur Stadt der Niedrigeinkommen. Aber die Trendwende bei der Arbeitslosigkeit war geschafft. Seit 2005 sind 70.000 neue Jobs entstanden. Und seit 2014 werden wieder mehr Kinder geboren als Leute sterben. Die Stadt wächst aus sich heraus: 2017 lag der Saldo bei 485 neuen Leben. Ein zusätzlicher Faktor ist die Finanzkrise, die aus Osteuropa zur Umsiedlung bewog. Auch der Zuzug von 10.000 Geflüchteten zwischen 2015 und 2017 ist nennenswert. Beide nicht prognostizierte Bewegungen trugen zur Zahl 600.000 bei. Auch Menschen aus anderen Bundesländern treibt es vermehrt an die Pleiße, als Gründe nennen sie vor allem Studium und Ausbildung, Arbeitsplatzwechsel und die Liebe. Im Städtevergleich ist Leipzig immer noch günstig. Die Ausstattung ist verglichen mit so manchen westdeutschen Nachkriegsbauten erstklassig. Es gilt noch immer: Leipzig ist billig.
Die billige Stadt
Die Durchschnittspreise bei Angebotsmieten lagen 2017 bei 6,26 Euro bei weitgehend sanierter Bausubstanz. Wohnraum kostet in fast allen anderen deutschen Großstädten mehr. In Dresden lag der Preis zum gleichen Zeitpunkt bei 7,34 Euro, Berlin schlug mit 11,14 zu Buche, Hamburg mit 10,15 (ähnlich wie Köln und Düsseldorf) und Spitzenreiter München mit satten 16,65 Euro. Preislich spielt Leipzig in einer Liga mit Magdeburg und Essen. Entsprechend Entwicklungspotenzial sehen Investoren in der attraktiven B-Lage, als die Leipzig von Immobilienfonds und Projektentwicklern beworben wird. »Hier darf ich sein, hier will jeder sein, hier darf ich bleiben«, lockt etwa ein Image-Video des Immo-Platzhirsches Stadtbau AG, während die Kameradrohne über den Johannapark fliegt, um dann aufs Völkerschlachtdenkmal überzublenden.
Angesichts der Preisvergleiche ist die Perspektive der Immobilienhändler verständlich, zumal es mittlerweile sogar zahlreiche ordentlich bezahlte Jobs gibt. Derzeit liegt die Quote der Haushalte mit verfügbarem Einkommen von über 2.300 Euro bei 33 Prozent – gegenüber 21 Prozent 2005. Da auch die Anzahl der Haushalte stieg, stehen die Leipziger insgesamt besser da als vorher und auch der Anteil der Geringverdiener mit unter 1.100 Euro Haushaltseinkommen fiel von 36 Prozent auf 22 Prozent. Also alles gut?
Die teure Stadt
So einfach ist es nicht. Zwar sind die Arbeitslosenzahlen mit sechs Prozent auf ein Rekordtief gegenüber dem Maximum von 21 Prozent im Jahr 2005 gesunken. Doch noch immer leben 62.630 Leipziger in Bedarfsgemeinschaften, sind also von Hartz IV abhängig. Davon ist jedes fünfte Kind betroffen. Für diese Zielgruppe wie für die rund 36.000 geringfügig entlohnten Beschäftigten ist günstiger Wohnraum knapper denn je. Auch diejenigen mit etwas höherem Kontostand müssen im Bundesvergleich mehr aufwenden als Mieter andernorts. Die Mietbelastungsquote, also der Teil vom Haushaltseinkommen für die Miete, liegt seit 2000 kontinuierlich bei 30 Prozent und höher. Für 2018 haben die Statistiker den Wert von 34 Prozent ermittelt. Der Bundesdurchschnitt betrug 2014 gut 27 Prozent, im umliegenden Sachsen nur 23,5 Prozent. In dieser Hinsicht ist Leipzig also teuer und die hohe Mietbelastung schwächt die Nachfrage. Wake-Market-City: Kein Wunder, dass das Umland von Wegzügen profitiert. Markranstädt, Delitzsch, Taucha und Markkleeberg verzeichneten 2018 deutliche Zuzüge aus Leipzig und außer Schkeuditz auch alle anderen kleineren Gemeinden im Umland. Erst in Torgau, Wurzen, Oschatz oder Bad Düben kehrt sich diese Tendenz um. Von dort ziehen Leute hierher.
Und die haben es schwer. Denn sie müssen nicht nur 20 Prozent Aufschlag bei Neuvermietungen bezahlen. Sie haben es insgesamt mit einem angespanntenWohnungsmarkt zu tun: Die Quote freier Wohnungen liegt bei lächerlichen zwei Prozent. Der Mietmarkt ist leer. Langes Suchen und Abstriche bei Lage und Ausstattung sind die Folge. Das erklärt auch die rückläufige Anzahl der innerstädtischen Umzüge. Selbst das Verkleinern der Wohnung etwa für ältere Menschen, denen die große Wohnung mit dem günstigen Mietvertrag zu unpraktisch wird, kann teuer werden. Und so bleiben sie, während junge Familien händeringend nach dem dritten oder vierten Zimmer suchen. Denn Bestandsmieten sind nur selten betroffen von besonderen Steigerungen, da die Ausstattung bereits gut ist. »Atypische Gentrifizierung« nennen das Soziologen (s. Interview S. 22). Die führt zu sozialer Segregation. Die Bewohner der Stadtteile sortieren sich nach Einkommen: Sag mir, wo du wohnst, und ich sage dir, was du verdienst.
Noch günstig zu haben sind Wohnungen in den Plattenbaugebieten Grünau und Paunsdorf. Deshalb weigern sich die dort tätigen Wohnungsbaugenossenschaften hartnäckig, vom angespannten Wohnungsmarkt zu sprechen. Doch der Puffer, den die Sanierungswelle der 1990er geschaffen hat und der im Jahr 2000 zu Leerstandsquoten von 14 Prozent führte, ist aufgebraucht. Zu sanieren gibt es bis auf vier Prozent der Gebäude nichts mehr. Es muss neu gebaut werden. Derzeit bräuchte man 3.000 bis 4.000 Wohnungen pro Jahr, doch nur 2.000 werden fertig.
Können die Leipziger sich die neuen Wohnungen leisten? Dieter Rink vom Umweltforschungszentrum bezweifelt das. 51 Prozent aller angebotenen Wohnungen sind im oberen Durchschnitt oder höher einzuordnen und auch die Neubauten liegen im gehobenen Bereich. »Hier gibt es bereits erste Sättigungseffekte«, so Rink. Mehrere Faktoren treiben die Wohnungspreise in die Höhe: Der Boden wurde teurer, Kosten für Arbeitsstunden und -material stiegen. Das gilt verschärft auch für Eigentumswohnungen. Hier fallen bei Erstverkäufen mittlerweile 3.600 Euro pro Quadratmeter und mehr an gegenüber 2.000 Euro im Jahr 2007. Und das Prinzip Townhouse ist tot, weil der Platz für Mehrfamilienobjekte benötigt wird.
Und nun?
Prognosen sind schwierig. Die Stadt hat zunächst einmal reagiert. Das Wohnungspolitische Konzept von 2015 setzt auf eine integrierte Stadtentwicklung mit dem Ziel »Wohnen für alle«. Auch Einkommensschwache sollen bei den Planungen mitbedacht werden und mit erschwinglichem Wohnraum rechnen können. Der stadteigenen LWB wurde das Ziel ausgegeben, 5.000 neue Wohnungen zu bauen. Bei Quartierentwicklungen werden städtebauliche Verträge mit den Investoren geschlossen, auch um eine soziale Durchmischung zu gewährleisten. Die Grünen haben eine Kappungsgrenze durchgesetzt: Sie soll die Mietsteigerungen auch bei Neuvermietungen auf 15 Prozent innerhalb von drei Jahren begrenzen. Seit Neuestem sind elf Erhaltungsgebiete im Gespräch, die imSinne eines »Milieuschutzes« Mietsteigerungen bei Neuvermietung ebenfalls ausbremsen sollen. Wichtig für eine Stabilität des Marktes, die vor allem im Mieterinteresse liegt, wäre aber, dass die Anzahl der neuen Wohnungen der der Neuankömmlinge entspricht. Davon kann derzeit keine Rede sein. Die Preise steigen weiter. Bis dann auf den Boom wieder die Baisse folgt, wie bei jedem kapitalistischen Schweinezyklus. München wartet auf diesen Umschwung seit Jahrzehnten. Prognosen sind schwierig.
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Schlaf auf Wasser: Hausboote
Leipzig ist Wasserstadt. Unzählige Fließe ziehen sich hindurch – warum sie nicht auch fürs Wohnen nutzen? Was zunächst romantisch nach Grachtenidylle klingt, scheitert an der Realität. Die meisten Leipziger Fließgewässer sind schlichtweg zu schmal für schwimmende Schlafstätten. Auch auf den breiteren würden solche noch den Schiffsverkehr beeinträchtigen. Außerdem, so antwortete das Umweltdezernat auf eine entsprechende Anfrage der Freibeuterfraktion im letzten Stadtrat, schränke die Hochwassergefahr diese Wohnmöglichkeit ein. Anschwellendes Wasser könnte solche Boote beschädigen, noch dazu würden diese zu Barrieren, die das Abfließen der Wassermassen beeinträchtigten. Auch der Großteil der Seeufer fällt als möglicher Liegeplatz aus – aufgrund von Landschafts- und Naturschutz. Potenzial für einzelne Bootsanleger sieht die Stadt im Grunde nur im Lindenauer Hafen. Eine Handvoll Hausboote dort mögen zwar ins idyllische Bild der Wasserstadt passen. Allein das Wohnraumproblem lösen sie nicht. TOBIAS PRÜWER
Stadtflucht: Rauf aufs Land
»Das Beste an Leipzig«, so nennt sich Eilenburg. Die nordsächsische Stadt mit 16.000 Einwohnern fährt seit 2016 eine Kampagne, mit der aus Leipzigern Eilenburger werden sollen: »Mehr Platz, mehr Grün, mehr Charme.« Die Webseite der Kampagne unterbreitet Angebote zum Wohnen – zur Miete oder zum Kauf. Eine 70-Quadratmeter-Wohnung in zentraler Lage ist für 450 Euro warm zu haben, Kabelanschluss inklusive. Der Weg zwischen beiden Städten ist in einer guten halben Stunde erledigt, was Eilenburg als Argument dient, sich als Schlafstadt anzupreisen. Außerdem finden Interessierte auf der Kampagnenseite Stellengesuche und Ausbildungsplätze vor Ort. Ein Extra-Service ist eine Checkliste für den Umzug.
Dem Mietdruck in den Großstädten weichen die Leute ins Umland aus. Diese Suburbanisierung beobachtet die Wissenschaft seit einiger Zeit. Er gilt nicht nur für Städte wie Berlin oder München, sondern im kleineren Maßstab auch für Leipzig. Es scheint logisch, dass Wohnraum und Grundstückspreise in den Regionen mit jahrelanger Abwanderung niedriger sind. Leerer gewordene Kleinstädte und Dörfer locken mit hübsch sanierten, zentral gelegenen Immobilien mit Balkon und Garten oder mit WG-geeigneten Wohnungen direkt am Marktplatz. Wie im Eilenburger Vorschlag werden Stadtflüchter oft zu Pendlern. Die Kinder müssen sich sowieso daran gewöhnen, gefahren zu werden: in die Kita und die Schule, zum Sport und zu Freunden. Experten vom Leibniz-Institut für Länderkunde prognostizieren, dass Neu-Leipziger zunehmend gar keine Leipziger mehr werden, sondern sich gleich im Umland ansiedeln. Seit 2014 ziehen mehr Menschen von Leipzig in die Landkreise Leipzig und Nordsachsen als umgekehrt. Ähnliches gilt ab 2017 für den Saalekreis. Doch flacht der Trend teilweise schon wieder ab: Nachdem nicht wenige Leute erkannt haben, dass in Eilenburg und Grimma erschwinglicheres Wohnen mit Nähe zur Großstadt und teilweise ganz guter Anbindung nach Leipzig zu haben ist, zogen dort die Preise an. Die Abwanderung aus Leipzig verläuft zudem ungleichmäßig: 2018 waren Markkleeberg, Markranstädt, Delitzsch und Taucha beliebt. Das liegt daran, dass nicht jeder Ort mit schicken Altbauwohnungen am Markt und einem S-Bahn-Anschluss aufwarten kann. Mancherorts ist es kaum möglich, sich ohne Auto mit Brötchen vom Bäcker zu versorgen. Kino und Konzert sind mit großem Aufwand verbunden. Lästig ist es auch, wenn weder Schulen noch Gaststätten, weder Post noch Bankautomat vorhanden sind. Hier mag der Grund dafür zu finden sein, dass Gemeinden wie das nordsächsische Laußig nach wie vor große Abwanderungsraten in die Messestadt aufweisen. FRANZISKA REIF
Statisch-mobil: Wagenleben
Das Wagenleben hat sich in Leipzig als Nischenphänomen etabliert. Dabei sind die Wagenplätze in ihrer Infrastruktur sehr unterschiedlich. Die Modelle reichen von Plätzen mit festem Strom- und Wasseranschluss zu Plätzen wie dem in Plagwitz, auf dem Lu wohnt. Die Wagenbewohnerin, die nur ihren Vornamen nennen möchte, geht zum Wäschewaschen oder Duschen in ein nahe gelegenes Hausprojekt, mit dem ihr Wagenplatz Vereinbarungen getroffen hat. Strom liefern Solarmodule. »Man überlegt sich einmal mehr, wie viel man wirklich braucht«, sagt Lu, die Nachhaltigkeit als einen Grund fürs Wagenleben nennt. Das bedeutet auch selbst Hand anlegen. Der Wagen muss gewartet werden, hinzu kommen Reparaturen und Bauprojekte aller Art. Gemeinschaft ist wichtiger Bestandteil. So haben die meisten Wagenplätze Orte des Austauschs, auch die Toilette befindet sich oft an zentralem Ort. Zusammenleben bedeutet Absprachen und Organisation. »Unser Platz hat regelmäßige Treffen«, bestätigt Lu, »auf denen wir alles besprechen und Aufgaben verteilen. Entscheidungen werden demokratisch getroffen. Das dauert manchmal länger, aber so werden alle mitgenommen.«
Einige Plätze sind gepachtet, andere gekauft. Die Wagenbewohner zahlen eine gemeinschaftliche Miete. Bei Lus Platz beträgt diese 50 Euro. Die Wagen selbst gibt es in unterschiedlichsten Preiskategorien. Je nachdem, ob man sie selbst baut, wie Lu gebraucht kauft oder sich für ein neues Modell entscheidet, variieren die Summen. »Manchmal kann man recht billig einen Wagen kaufen. Manche Wagen kosten aber auch fünfstellig. Einen neuen Wagen selbst aufzubauen, kostet viel Zeit, gerade wenn man nicht viel Geld hat und sich das Material zusammensammelt.« Zwischen drei und acht Metern lang und bis 2,50 Meter in der Breite, bietet ein Wagen nicht viel Platz. Bei Wagenfamilien leben Kleinkinder meistens im Wagen der Eltern, Größere bekommen einen eigenen. Für ältere Menschen ist diese Wohnform problematischer. »Solange man sich fit fühlt, kann man auf jeden Fall im Wagen leben. Wenn du mal länger krank bist und vielleicht immobil, wird es schwieriger.« Erschwerend könnten die Temperaturen sein. Im Winter bollern die Öfen die Wagen oft auf 25 bis 30 Grad auf. Auch im Sommer können sich die engen Wohnräume stark aufheizen. Die Stadt zeigt sich dieser Wohnform gegenüber bisher skeptisch. Baurechtlich anerkannt ist sie trotz steigenden Interesses nicht. Zudem gibt es für die Bedarfe nicht genügend Flächen. Neugierige erhalten erste Informationen vom Verein Haus- und Wagenrat. JOSEF BRAUN
Gemeinsam: Hausgenossen
Anfang August ist der Rohbau nahezu fertig. Stockwerk für Stockwerk haben Arbeiter Stahladern verflochten und dann Stützen, Wände und Decken mit Beton gegossen. Läuft alles nach Plan, können wir in acht Monaten in das OurHaus einziehen. Wir, das ist eine neu gegründete Genossenschaft, die ein viergeschossiges Mietshaus am Lindenauer Hafen baut, mit zwölf Wohnungen für 21 Erwachsene und 17 Kinder.
Wenn das Haus fertig ist, werden insgesamt vier Jahre vergangen sein seit Planungsbeginn. Konzeption und Bau werden mehr als 3,5 Millionen Euro gekostet haben. Finanziert haben wir das mit unseren Ersparnissen und denen unserer Freunde und Verwandten sowie über einen großen Kredit. Und um es gleich vorwegzunehmen: Günstigere Mieten erreichen wir erst einmal nicht. Mit etwa 10 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter werden wir alle mehr bezahlen als für die Altbauwohnungen, in denen wir jetzt leben. Den Vorteil haben wir erst auf lange Sicht.
Der wichtigste Antrieb für unserer Gruppe ist der Wunsch, in einer engen Gemeinschaft zu leben, die mehr als nur das Treppenhaus teilt. Das OurHaus bekommt einen Gemeinschaftsraum, in dem wir uns zum Plenum treffen können, in dem aber auch Kino, Partys und öffentliche Veranstaltungen stattfinden. Im Keller entsteht eine Werkstatt für alle. Im Bandproberaum nebenan darf laut Musik gemacht werden. Gruppen, die nur eine Eigentümergemeinschaft sind, bauen solche Dinge selten. Denn dann steht den Gemeinschaftsflächen die Frage im Weg: Wer besitzt jetzt welchen Anteil am Hobbykeller? Und was passiert damit, wenn eine Partei mal ihre Wohnung verkauft?
Wir werden im Haus Mieter und Vermieter zugleich sein. Über die Miete zahlen wir den Kredit ab, mit dem wir das Haus finanziert haben. Bis der getilgt ist, werden zwischen 30 und 40 Jahre vergehen. Über unser Plenum bestimmen wir aber selbst über unser Haus und die Höhe seines Unterhalts. Ob Mieterhöhungen nötig sind, entscheiden wir selbst. Zieht jemand aus, berät die Gemeinschaft über den Nachmieter. So bestimmen die Bedürfnisse der Bewohner über das Haus, nicht das Profitinteresse Einzelner.
Alle künftigen Bewohner haben über 500 Euro Genossenschaftseinlage pro Quadratmeter ihrer Wohnung bezahlt. Die Höhe von Einlage und Miete ergibt sich aus den Planungs- und Baukosten. Hätte es unsere Gruppe vor zehn Jahren bereits gegeben, hätten wir vielleicht noch einen Altbau für wenig Geld kaufen und sanieren können. Inzwischen sind die Preise für Bestandsgebäude derart in die Höhe geschossen, dass es aus Kostensicht kaum noch einen Unterschied gibt, ob man ein altes Haus saniert oder neu baut.
Wichtigster Vorteil des Neubauens: Wir können unser Haus so gestalten, wie wir es brauchen. Der Gemeinschaftsraum wird kein umgebautes Ladenlokal, sondern ein für Gruppentreffen konzipierter und eingerichteter Raum. Eine Ladenfläche gibt es trotzdem – direkt neben dem Gruppenraum. Spätere Gewerbemieter können diesen mitnutzen. Abstellplätze für Fahrräder müssen wir nicht irgendwie mit den Gegebenheiten vereinbaren, wir haben sie von vornherein eingeplant.
Wie großzügig solche neuen Flächen ausfallen können, demonstriert die Berliner Genossenschaft Spreefeld. Sie hat vis-à-vis des Holzmarktgeländes am Ostbahnhof drei Hochhäuser errichtet, die üppige Dachterrassen und Dachgärten haben, Gemeinschaftsküchen, eine riesige Werkstatt, einen Tagungsraum mit Profiküche sowie einen Partyraum mit Zugang zur Spree und Genossenschaftsboot. Radikaler als wir verfolgt die Gruppe Klinge-10 diesen Ansatz, die ein Eckgrundstück in der Plagwitzer Klingenstraße neu bebaut. Hier sollen fast alle Küchen und Bäder Gemeinschaftsflächen sein. Auch ist ein Erdgeschoss geplant, das sich die Hausgemeinschaft mit Gewerbemietern teilen will. Bis zum Baubeginn wird es bei der Klinge-10 aber noch etwas dauern. Aktuell hat die Gruppe ein Drittel ihrer Eigenfinanzierung von 320.000 Euro zusammen und sucht noch Mitstreiter.
Ein drittes kooperatives Neubauprojekt startet demnächst an der Berliner Straße in Eutritzsch. Damit holt Leipzig nach, was es in anderen Städten bereits seit Jahren gibt: neu gebaute Mietshäuser, die nicht für die Geldvermehrung, sondern für ihre Bewohner errichtet wurden. CLEMENS HAUG
Instandnahme: Hausbesetzung
Instandbesetzung nannte man früher das Besetzen von leer stehendem Wohnraum. Zehren die Gießerstraße, das Zoro und andere Objekte von solchen erfolgreichen Aktionen – und deren Verteidigung –, so ist das heute schwierig zu haben. Illegal ist Häuserbesetzung sowieso. Ob es auch illegitim ist, darüber streiten die Gemüter angesichts der angespannten Wohnungslage. Meistens wird symbolisch besetzt, um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen und politische Entscheidungen herbeizuführen.
Wer ein Haus auf Dauer besetzen will, sollte langfristig agieren. Einfach rein und gut, ist ein schlechter Rat. Denn Hausbesetzungen sind Hausfriedensbruch. Den muss der Eigentümer aber selbst anzeigen – weiß er erst einmal nichts von der Besetzung, kann er auch keinen Strafantrag stellen. Am Anfang unauffällig zu agieren, empfiehlt sich auch gegenüber der Polizei. Denn in der Regel folgt sie der Handlungsanweisung, die Häuser binnen 24 Stunden zu räumen. Damit will sie den Zeitrahmen für Handlungsmöglichkeiten und eventuelle Mobilisierung für solidarische Aktionen verknappen.
Zudem lässt sich auf diese Weise eventuell ein Nutzungsrecht erwirken. Rechtsanspruch darauf gibt es nicht, das liegt im Richterermessen. Man muss die Räume so einrichten, dass dort der Lebensmittelpunkt von Personen über einen Zeitraum erkennbar wird. Oder man verhindert die Feststellung von Personalien der Bewohner, ohne diese kann kein personalisierter Räumungstitel ausgestellt werden. In jedem Fall bedeutet Hausbesetzung Stress und fortwährende Unsicherheit. Um eine langfristige Kampagne zur Legalisierung der Wohnverhältnisse oder den möglichen Erwerb des Objekts kommt man nicht herum. Letzterer Fall bedeutet auch wieder: Kapital haben oder es organisieren. TOBIAS PRÜWER
Sozial und selbst: Das Genossenschaftsdach
Erfahren Bewohner, dass ihr Haus verkauft wird, können sie sich an die Sowo wenden. Gemeinsam mit ihnen versucht diese Soziale Wohnungsgenossenschaft, das Gebäude selbst zu erwerben. Dazu müssen Mieter Sowo-Genossen werden. Für den Beitritt genügt ein Genossenschaftsanteil in Höhe von 100 Euro. Gelingt der Kauf, leben die Bewohner weiter im Haus, das sie gemeinschaftlich gestalten. DasGebäude wird dem Spekulationsmarkt entzogen – das erklärte Ziel der Sowo.
Die so organisierte Form realisiert in Kürze, was sich bei anderen Hausprojekten über Jahre zieht. Das für den Erwerb benötigte Geld stammt normalerweise zu 80 Prozent aus Bankkrediten und 20 Prozent Eigenkapital. Die Kredite werden über die Mieten getilgt. Auf diese Weise hat die Sowo bisher drei Häuser erworben.
»Genossenschaftliches Wohnen verbindet die Vorteile von Eigentum und Miete«, erklärt Sowo-Vorstandsmitglied Tobias Bernet. Der Mietspiegel ist für die Miethöhe irrelevant, die sich an den Kosten der Häuser, der abzuzahlenden Kredite und der Grundstückssteuer orientiert. Grundsätzlich seien die Mieten günstig, sagt Bernet, weil der Profitgedanke fehle.
Die Bewohner der Sowo-Häuser können Kosten verringern, indem sie selbst am Haus arbeiten. Die Mitgliedschaft impliziert Verantwortung. Daher sieht Bernet eine »Konsumenten-Mentalität« bei Hausprojekten kritisch. Aber er glaubt, dass viele das selbstverwaltende Gemeinschaftsleben mögen würden, die es in ihren jetzigen Mietverhältnissen nicht ausleben können. Basisdemokratische Elemente, wie die Generalversammlung, seien immer gut besucht, erzählt er.
Bisher bietet die Sowo wenig Wohnraum an, ist es schwierig, hier rasch unterzukommen. Außerdem sind alle existierenden Häuser Gründerzeithäuser, bei denen es schwerfällt, sie barrierefrei herzurichten oder klimaneutral zu dämmen. So bleibt die Sowo derzeit eine Nische – aber immerhin ein Anfang. DAVID MUSCHENICH
Auf Rollen wohnen: Tiny Houses
Der Trend zum Tiny House ist an Leipzig bislang vorbeigegangen – auch wenn hier ein Mini-Haus-Hersteller residiert. Laut der Website tinyhouse-stellplatz.de gibt es keine anerkannten Stellplätze in Leipzig, auf denen man vorübergehend oder dauerhaft wohnen könnte. Und genau da wird es beim klassischen Tiny House auch knifflig: Die zuständigen Behörden unterscheiden Häuser und Wohnmobile.
Das mobile Haus ist somit nicht erfassbar, was problematisch sein kann. Ein Behördenbesuch vorab und eine mit Architektinnen gestellte Bauanfrage empfehlen sich dringend. Damit das Tiny House mit dem PKW-Anhänger gezogen werden kann, darf es nicht mehr als 3,5 Tonnen wiegen. Für ein geringes Gewicht werden darum oft billige Kunststoffe verbaut, die kaum Individualität ermöglichen und die Schadstoffbilanz erhöhen.
Deshalb baut das Team der Brüder Siegfried und Sebastian Pfeil von Rolling Homes aus Borsdorf auch Bau- und Zirkuswagen mit Holzaufbauten aus. Die Schadstoff-freien Wagen haben wegen ihrer Größe von bis zu 45 Quadratmetern Wohnfläche allerdings keine Straßenerlaubnis, was die Mobilität massiv einschränkt. Mit einer Länge von bis zu zwölf Metern und bis zu vier Metern Höhe erfordert das Rolling Home eine Baugenehmigung. Fürs Leben auf kleinerem Raum und einen Umzug alle paar Jahre sind Rolling Homes eine gute Wahl. Zwischen 60.000 und 100.000 Euro kostet so ein Zuhause mit modernen Standards, das mit ausfahrbaren Erkern vergrößert werden kann. LINN PENELOPE MICKLITZ
Kapitalfrage: Mieten oder kaufen?
Mieterstadt Leipzig. Seit zehn Jahren liegt der Mieteranteil konstant bei 85 Prozent. Jeder zehnte Haushalt besitzt ein eigenes Haus, drei Prozent eine Eigentumswohnung. Ist man unter 50, hat Familie und kann absehen, länger hier bleiben zu wollen oder können, stellt sich die Frage nach dem Erwerb von Wohnraum.
Auf den ersten Blick bietet der Immobilienkauf viele Vorteile. Das populärste Argument heißt billige Kredite: »Die Zinsen sind gerade genial niedrig und deswegen ist im Moment genau der richtige Zeitpunkt, sich mit Eigentum zu beschäftigen«, sagt Johannes Ringel, Leiter des Instituts für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft der Uni Leipzig. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht davon aus, dass die Preise für Eigentumswohnungen bis 2030 um mehr als 50 Prozent steigen werden. Dabei haben sich die durchschnittlichen Quadratmeterpreise in Leipzig in den letzten zehn Jahren bereits auf 2.200 Euro verdoppelt. Im Verhältnis zu anderen Städten sei das noch enorm billig, sagt Ringel. Um die 4.000 Euro pro Quadratmeter seien für eine prosperierende Großstadt nicht teuer.Ist man Eigentümer, kann man entspannt die Mietpreisentwicklung beobachten. Sie geht einen nichts mehr an. Man kann selbst entscheiden, eine Wand einzureißen oder den alten Teppichboden durch Laminat zu ersetzen. Aber Eigentum verpflichtet. Ein Wohnungseigentümer muss sich an der Hausinstandhaltung beteiligen und jede Reparatur in der Wohnung selbst bezahlen. Das übernimmt sonst der Vermieter. Hier knüpft der grundlegende Vorteil des Mietens an: Es macht unabhängig. Wer aus seiner Wohnung in relativ zentraler Lage ausziehen will, findet innerhalb einer Woche mindestens fünf potenzielle Nachmieter. Ein Verkauf dauert allein schon aufgrund der Formalien in der Regel länger. Läuft der Bankkredit noch, wird es problematisch und teuer, ihn zu beenden. Natürlich kann diese Gebundenheit der Immobilienbesitzer auch Vorteil sein: Mit der Schuldentilgung baut sich Vermögen auf. Ist die Wohnung irgendwann abbezahlt, werden gerade im Rentenalter die Sorgen weniger.
Eine Faustregel für die vorliegende Frage ist der Blick auf das Kaufpreis-Miete-Verhältnis: Man vergleicht die Jahreskaltmiete mit dem Kaufpreis einer vergleichbaren Wohnung. Ausgenommen sind aus dieser Rechnung die Miet- und Kaufnebenkosten für Grundbucheintrag, Grunderwerbssteuer, Notar- und Maklergebühren sowie künftige Mieterhöhungen oder Wertsteigerungen. Bei einer durchschnittlichen Kaltmiete von 6 Euro pro Quadratmeter bezahlt man für eine 80 Quadratmeter große Wohnung eine Jahreskaltmiete von 5.760 Euro. Der durchschnittliche Kaufpreis dafür liegt bei 176.000 Euro. Teilt man den Kaufpreis durch die Jahreskaltmiete, ergibt sich ein Faktor von 30. Man müsste 30 Jahresmieten bezahlen zum Erreichen des Kaufpreises. Immobilienexperten halten einen Preis für Selbstnutzer zwischen dem 20- und dem 22-Fachen der Jahreskaltmiete für sinnvoll. Wichtig ist der zeitliche Horizont, Immobilienökonom Steffen Metzner: »Kurzfristig ist es hier billiger, zur Miete zu leben, als eine Wohnung zu kaufen. Langfristig wird sich das mit Blick auf die steigenden Mieten wahrscheinlich umkehren.« Eine Warnung vorm Kauf sprechen beide aber aus. Wegen der momentan niedrigen Zinsen sollte ein hoher Anteil vom Hauskredit früh getilgt werden. Läuft ein zinsgebundener Kredit nach 15 oder 20 Jahren aus, werden die Marktzinsen sicher höher ausfallen als heute. Behält man das im Hinterkopf, empfehlen beide derzeit den Wohnungskauf – wenn man sicher ist, die nächsten 15 Jahre zu verbleiben.
Mit rechnen anzufangen braucht man gar nicht erst, wenn Erspartes fehlt. Eine Eigenkapitalbeteiligung von 20 bis 25 Prozent ist ratsam, bei der Beispielwohnung wären das 35.000 bis 44.000 Euro. Auch wegen steigender Wohnkosten ist solches Ansparen für Leipziger schwierig bis unmöglich. Es bleibt die alte Regel: It’s capitalism, stupid! Wer kein Geld hat, hofft auf die Gnade derjenigen, von denen er finanziell abhängig ist, in diesem Fall die Vermieter. REWERT HOFFER