Eine ausführliche Reportage von Focus TV über den »Brennpunkt Leipzig« zeichnet ein düsteres Bild. Mit der Realität hat dies wenig zu tun, sagen mehrere Protagonisten des Films. Sie sehen sich von dem Filmteam getäuscht
»Man könnte ja denken, man ist hier nicht in Leipzig, nicht in Deutschland, sondern hier sind wir Deutschen zu Gast«, erklärt Taxifahrerin Katrin in die Kamera. Zu Gast bei ihr im Taxi ist ein Team von Focus TV. Und auch wenn die Aussage der Taxifahrerin anderes andeutet, sind sie gemeinsam unterwegs in Deutschland, in Leipzig – oder wie Focus TV später titeln wird: im »Brennpunkt Leipzig«. In einer rund 50 Minuten langen Reportage widmet sich das Fernsehmagazin verschiedenen Entwicklungen in Leipzig und zeichnet ein dramatisches Bild.
Mehr als 300.000 Mal wurde der Film aus der Reihe Focus TV Reportage in den letzten drei Wochen bei Youtube geklickt. Ende August strahlte Sat 1 die Reportage über den »Brennpunkt Leipzig« im Abendprogramm aus. Im Schnitt 500.000 bis 1.000.000 Menschen erreichen die Filme von Focus TV auf diesem Sendeplatz. Doch was die Zuschauer über die Situation in Leipzig sehen konnten, hat mit der Realität auf Leipzigs Straßen nicht viel zu tun – das sagen zumindest mehrere Personen, die in dem Film selbst zu sehen sind. Hinzu kommen falsche Zahlen, ein fragwürdiger Umgang mit den Protagonisten des Films und zahlreiche Stellen, an denen die dramatische Musik sich nicht so recht in Einklang mit den alltäglichen Szenen bringen lässt.
Engagierter Nachbarschaftler ist Lokalpolitiker und Direktkandidat für den Leipziger Osten
»Ich dachte, die Eisenbahnstraße wird dieses Mal ein bisschen anders beleuchtet. Aber es war dann doch nur negativ«, fasst Elisabeth Arras ihren Unmut über den Film zusammen. Sie habe bereits versucht, mit der Reporterin zu sprechen, die sie für den Film im Optiker-Geschäft ihres Vaters besuchte. Bisher erfolglos. Die Autorin des Films gehe nicht mehr ans Telefon, sagt Arras dem kreuzer. Vor den Dreharbeiten sei das Filmteam mit dem Wunsch an sie und ihren Vater Volkmar Maul herangetreten, den Leipziger Osten einmal von einer anderen Seite zu zeigen, erzählt sie. Beide sind in dem Film mehrmals zu sehen.
Optiker Volkmar Maul führt sein Geschäft mitten auf der Eisenbahnstraße in zweiter Generation. Und er engagiert sich in einem Nachbarschaftsverein, der die Eisenbahnstraße und ihr Einzugsgebiet stärken und attraktiver gestalten möchte. In welchem Verein genau Optiker Maul aktiv ist, verschweigt Focus TV jedoch. Dies wirkt besonders bizarr, weil der Verein »Lokmeile« an anderer Stelle im Film namentlich genannt wird.
Bereits zu Beginn des Films beklagt der Vorsitzende von Lokmeile, Robert Baier, den angeblichen Niedergang der Eisenbahnstraße, die einst als Ernst-Thälmann-Straße zu den größten und attraktivsten Einkaufsmeilen der Stadt gehörte. Focus TV begleitet ihn zu einem Treffen mit Seniorinnen aus der Nachbarschaft. Unerwähnt bleibt dabei jedoch ein anderes Engagement Baiers: Er ist Leipziger Vorsitzender der Freien Wähler. Nur wenige Tage nach der Fernsehausstrahlung der Dokumentation trat er als Direktkandidat bei der sächsischen Landtagswahl an – im Wahlkreis rund um die Eisenbahnstraße. Die Aufnahmen für die Reportage entstanden zur Hochphase des Landtagswahlkampfs, im Hintergrund vieler Szenen sind Wahlplakate zu sehen.
Ungefragt verpixeln statt einordnen – fragwürdiger Umgang mit Protagonisten
Auch an anderer Stelle wirft der Umgang mit gezeigten Personen Fragen auf. So wird ein Mitglied der Gruppe »Cop Watch Le«, der sich in dem Film kritisch über das Konstrukt der Waffenverbotszone äußert, nur verpixelt dargestellt – obwohl das laut ihm weder besprochen noch gewünscht war. Zudem handelt es sich entgegen der Darstellung im Film bei Cop Watch nicht um einen eingetragenen Verein. Eine Person, die in dem Film als Aktivistin der Gruppe dargestellt wird, sei dort überhaupt nicht aktiv. Man habe sie zufällig während des Drehs auf der Straße angesprochen, erklärt Lisa Löwe, Sprecherin von Cop Watch Le.
Löwe wirft Focus TV vor, dass in dem Film versucht werde, rassistische Klischees und Vorurteile zu bedienen. Besonders kritisch sieht sie es, dass zu Beginn des Films zahlreichen Aussagen einer Leipziger Taxifahrerin unkommentiert Raum gegeben werde.
Angesichts der Äußerungen von Taxifahrerin Katrin mutet der Leipziger Osten tatsächlich wie ein Krisengebiet an. »Eigentlich ist, glaube ich, hier in dem Gebiet der Zug abgefahren, irgendwas machen zu können«, sagt sie. Auch der Grund dafür sei ihr zufolge klar: »Es liegt einfach daran, dass die Eisenbahnstraße fest in ausländischer Hand ist. Das ist also jetzt quasi von Ausländern okkupiert.«
Fakten, Fakten, Fakten – Zahlen ohne Belege
An dieser Stelle scheint Focus TV einordnend einzugreifen und lässt den Zuschauer durch Off-Kommentar wissen, dass zwei Drittel der Menschen rund um die Eisenbahnstraße einen Migrationshintergrund hätten. Wie die Redaktion auf diese Zahl kommt, ist unklar. Für den Stadtteil Neustadt-Neuschönefeld gibt die Stadt Leipzig den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund mit 36 Prozent an. Knapp ein Viertel davon sind EU-Ausländer und rund zehn Prozent sind Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Auch an anderer Stelle nimmt es Focus TV mit Zahlen anscheinend nicht sehr genau. »Hunderte Demonstranten werfen Flaschen und Steine«, kommentiert die Off-Stimme eine Szene am Rande einer Abschiebung im Juli 2019. Dies deckt sich weder mit den gezeigten Bildern noch mit Presseberichten kurz nach den Ereignissen. Dort ist von Hunderten Demonstranten zu lesen und von vereinzelten Flaschenwürfen.
»Kriminalitätshochburg Leipzig«: Wenig Drama, viel Dramatik
»Noch immer ist Leipzig Sachsens Kriminalitätshochburg«, kündigt der Teaser zum Film unheilvoll an. Da Leipzig zugleich die einwohnerstärkste Stadt in Sachsen ist, mag es jedoch nicht wirklich überraschen, dass dort auch mehr Verbrechen begangen werden als in kleineren Ortschaften. Zudem sind die Verbrechenszahlen in Leipzig in den letzten Jahren gesunken.
Dem hält Focus TV entgegen, dass die Menge an Straftaten pro 100.000 Einwohner in Leipzig fast doppelt so hoch sei wie im Bundesschnitt. Dies ist zwar erst einmal nicht falsch, nimmt man jedoch Großstädte als Vergleichspunkt, relativiert sich das Bild. Man hätte genauso gut sagen können: Die Zahl der Straftaten pro Einwohner in Leipzig liegt mehr als 25 Prozent niedriger als in anderen Städten vergleichbarer Größe.
Dies zeigt sich auch in der Reportage. In weiten Teilen des Films begleiten die Reporter zwei Beamte der Bundespolizei und werden Zeuge von vier Einsätzen, in denen kaum etwas passiert: eine Ausweiskontrolle, ein Platzverweis für eine offenkundig verwirrte Person, die sich im Warteraum einer Bank aufhält, die Anzeigenaufnahme nach einem nächtlichen Kabeldiebstahl und eine weitere ergebnislose Ausweiskontrolle. Für Dramatik sorgt in diesen Szenen allein die musikalische Untermalung und der Kommentar des Sprechers. »Der Mann ist sich keiner Schuld bewusst und verhält sich überraschend ruhig«, heißt es etwa über einen Mann, den die Beamten mit einem gesuchten Verdächtigen verwechseln. Er darf wenige Minuten später seinen Weg fortsetzen – überraschend ruhig und sich keiner Schuld bewusst.