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Die verlorene Revolution

Herbst 89 – die vergessene Geschichte einer verlorenen Revolution

  Die verlorene Revolution | Herbst 89 – die vergessene Geschichte einer verlorenen Revolution

Die Herbstrevolution von 1989 wurde nie vollendet. Als die Mauer fiel, gab das ostdeutsche Volk sie auf. Es geriet in einen Einheitstaumel aus Nationalismus und Westgeld, seine Oppositionellen ließ es im Stich. Die Folgen dieser Entwicklung spüren wir bis heute.

Einige sagen, die Geschehnisse von 1989 seien gar keine Revolution gewesen. Doch das stimmt nicht ganz. Es gab eine Revolution auf den Straßen der DDR. Sie brauchte einige Jahre um zu reifen und als sie dann ausbrach währte sie nur kurz.

Man kann ihr Ende ziemlich genau festmachen am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls. Im Grunde war es danach vorbei. Spätestens als Helmut Kohl im Dezember 89 in Dresden seine erste Rede in der DDR hielt, war die Revolution beendet – oder besser gesagt: Sie wurde aufgegeben. Sie ging einfach verloren. »Das Volk will es«, soll Kohl nach seinem Auftritt gesagt haben. Ja, und so kam es dann auch: Statt einer Revolution gab es die sogenannte Einheit. Und der Witz an der Sache ist, dass es gar keine war.

»Vereinigung ja, aber nur im Bett«

Die Revolution wurde beendet vom Volk, das damals auf der Straße demonstrierte und ab November 1989 in einen Einheitswahn verfiel. Diejenigen, die heute in der üblichen Version der Geschichte immer noch als Revolutionshelden gefeiert werden, waren in Wirklichkeit diejenigen, die die Revolution aufgegeben hatten und ihr ein Ende setzten. Denn das Volk in der DDR wollte keine Revolution mehr, wahrscheinlich hatte es nie eine gewollt. Die Menschen wollten Sicherheit, sie wollten Westgeld und sie wollten Deutschland.

Es gab damals – und das gehört zu den selten erzählten Geschichten des Herbstes 89 – während der Demonstrationen in der DDR, auch in Leipzig, deutlichen Protest gegen diese Entwicklung, Widerstand gegen die Idee einer schnellen Wiedervereinigung. Plakate wie: »Keine BeeRDigung der DDR«, »Kein Anschluss unter Art. 23« (was sich auf den Artikel 23 des Grundgesetzes beruft, in dem die deutsche Einheit geregelt war) – oder auch »Vereinigung ja – aber nur im Bett« aus dem November 1989 legen davon Zeugnis ab.

2,91 Prozent für die Opposition

Bei den ersten freien DDR-Wahlen im März 1990 gewann die Ost-CDU haushoch, die DDR-Oppositionsgruppen erreichten gemeinsam gerade mal 2,91 Prozent der Stimmen. Anschließend kam die Währungsunion, dann wurde die BRD Fußballweltmeister und im November 1990 erfolgte schließlich der Beitritt der DDR zur BRD. Kurz verfielen die Massen im Osten nochmals in einen euphorischen Rausch, schon Wochen später realisierten die Ersten, was der Preis der schnellen Vereinigung war. Wenig später gab es die ersten Nachrichten von Gewaltexzessen, Ausschreitungen und Pogromen im Osten.

Die Resultate dieser völlig überstürzten »Wiedervereinigung« spüren wir bis heute. Wir leben sogar in einer Zeit, in der sie das gesamte politische System der Bundesrepublik aus dem Gleichgewicht bringen. Diese Entwicklung ist – neben einem verbreiteten Grundrassismus in der gesamtdeutschen Bevölkerung – der Hauptgrund für die 
Stärke einer neuen rechtsnationalen Kraft in Ostdeutschland, in der Öffentlichkeit repräsentiert von der AfD.

Man feiert die falschen Leute

Die verlorene Revolution ist übrigens auch eine Erklärung für die eigentümliche Unbeholfenheit, mit der Leipzig des Herbstes 89 gedenken will. Jahrelang wusste man gar nicht so recht, was man machen sollte, dann opferte man die Erinnerung dem Stadtmarketing und veranstaltete ab 2009 mit dem Lichtfest ein kitschiges Wendewonderland, mit dem man auf der ganzen Welt für Leipzig, die Heldenstadt werben wollte (siehe kreuzer 10/2014). So konnte aus der Leerstelle wenigstens noch Profit gezogen werden. Heute, im Jahr 2019, steht nach heftigen 
Debatten wieder ein buntes Lichtspektakel im Vordergrund der Feier.

Woran liegt das? Warum ist das Leipziger Lichtfest so inhaltsleer? Warum schafft selbst die Stadt, die im Zentrum der Revolution stand, es nicht, dieser weltbewegenden Ereignisse angemessen zu gedenken? Der Grund ist einfach: Man feiert die falschen Leute, die falschen Ereignisse. Der 9. Oktober 1989 war ihr Höhepunkt, das Datum stimmt. Aber man hat sich zum Lichtfest nie getraut, der Angst vor Gewalt zu gedenken, der tatsächlichen Gewalt dieser »Friedlichen Revolution« und der Ereignisse ganz am Anfang, als der Protest am schwersten war.

Man feiert nicht die wahre Revolution von 89 und den Jahren davor. Man feiert in den Bildern und Events die Zeit, in der die Revolution verloren wurde. In der es nicht mehr um demokratischen Aufbruch ging, sondern um Westgeld, um Großdeutschland, um Nationalismus und ums Wieder-wer-Sein.

War die DDR-Bevölkerung kurz nach dem Mauerfall politisch überhaupt zurechnungsfähig?

Waren die Ereignisse von 1990, die zur Einheit führten, denn nun eigentlich demokratisch? Der Beitritt der DDR zur BRD wurde mit der letzten Volkskammerwahl im März 1990 demokratisch legitimiert. Jeder hat gewusst: Wer Lothar de Maizières Ost-CDU wählt, wählt die »Einheit«. Doch, mal ketzerisch gefragt: Kann man einer Bevölkerung – nach 40 Jahren Diktatur und Mangelwirtschaft, Eingesperrtsein – solch eine Entscheidung nur wenige Wochen nach einem derart großen historischen Umsturz wie dem Mauerfall überhaupt zumuten?

Oder andersherum: War die total emotionalisierte Bevölkerung der DDR im März 1990 politisch überhaupt zurechnungsfähig? Zurechnungsfähig genug für solch eine große Entscheidung? Wäre es nicht geboten gewesen, das Volk, den Souverän, erst mal zu sich kommen zu lassen? Ihm ein Mindestmaß an politischer Willensbildung im neuen System zu ermöglichen, bevor eine so weitreichende Entscheidung getroffen wird wie die der kompletten Auflösung des eigenen Landes in ein anderes?

Hätten die Wählerinnen und Wähler in der DDR sich genauso entschieden, wenn man ihnen zwei, fünf oder zehn Jahre Zeit gegeben hätte? Vielleicht hätte man sich dann für eine tatsächliche 
Vereinigung zweier Staaten entscheiden können, der DDR und der BRD, zu einem neuen Staat, mit einer neuen Verfassung. Das wäre zumindest vernünftig gewesen.

Das Emotionale sind die Ostdeutschen nicht losgeworden

Genau genommen wurden die Menschen ja gar nicht gefragt. Die Stimmung auf den Straßen und das demokratische Votum am 18. März 1990 waren jedoch eindeutig. Es ist nach den Regeln einer Demokratie korrekt. Nach den Regeln des politischen Anstands jedoch weniger. Denn das Wahlergebnis vom März 1990 war auch das Resultat eines rücksichtslosen Populismus vor allem der West-CDU und ihres Kanzlers Helmut 
Kohl in der DDR.

Das Emotionalisierte in der Politik sind die Ostdeutschen nicht losgeworden. Ihr Trauma der frühen neunziger Jahre wirkt bis heute nach – auch darin, dass dieselben Fehler immer wieder begangen werden. Es ist wieder so, dass ein Drittel der Bevölkerung sich von Populisten mit hoch emotionalisierten Themen begeistern lässt. Die Zuwanderungsfrage gehört dazu, der Wolf, das Abendland, Umvolkung, Lügen und Verschwörungen überall.

Ein märchenhafter Begriff wie »Abendland« wird – im Falle der Pegida – von Zehntausenden erwachsenen Menschen als realer politischer Begriff akzeptiert, völlig ironiefrei. Das »Abendland«, das »Morgenland«, dazu der böse Wolf – neuerdings die garstige »Klima-Gretel« als AfD-Megathemen: Es sind die Märchen aus 1001 Nacht, mit denen im Osten mehrheitsfähige Politik gemacht werden kann. Das ist ja kein Witz, sondern Realität. Und Wahnsinn.

Die Geschichte von der gestohlenen Revolution existiert schon seit den neunziger Jahren in vielen Facetten. Sie wird nur zu selten erzählt und spielt im offiziellen Gedenken kaum eine Rolle. Denn da soll ja gefeiert werden. Doch die Menschen auf der Straße hatten schnell kapiert, dass die ganze Sache schiefgelaufen war.

Es war bereits 1991 – also nur ein Jahr nach der Einheit, dem Anschluss –, als Demonstrierende in Halle an der Saale Eier und Tomaten auf des Bundeskanzlers Kopf warfen – woraufhin Kohl, drei Zentner schwer, wütend auf die Menge zustürmte, um ein Handgemenge zu beginnen. Die Bilder davon sind beispiellos und gingen um die Welt. Beleidigte auf beiden Seiten, Handgreiflichkeiten. Es war nur ein frühes Zeichen der Wut, die heutzutage Pegida, AfD und Konsorten formt. Und es sind dieselben Leute, die sie äußern. 
Damals jung, Anfang 20 – heute Anfang 50, männlich, berufstätig, ostdeutsch: Kernwählerschaft der AfD.

Hippies, Penner und Ökos

Was bei der Diskussion um den Herbst 89 und die Wende oft vergessen wird: Es waren Hippies, Künstler, Penner und DDR-Ökos, die mit den Protesten begonnen haben. Rocker waren dabei, Popper, Aussteiger, Langhaarige, Pazifisten, Menschenrechtler, Lebenskünstler. Das waren die Leute, die jahrelang Oppositionsarbeit leisteten, die sich mit osteuropäischen Widerstandgruppen vernetzten, die genaue Pläne dafür hatten, was zu tun ist, wenn Freunde verhaftet wurden und die als erste auf die Straße gingen. Unterstützt wurden sie von Kirchenleuten, die ihnen einen sicheren Raum boten – die aber innerhalb der DDR-Kirche selbst Außenseiter waren.

Die Masse, die berühmten »Ostdeutschen«, kam später dazu und wollte dann vor allem Westgeld und Großdeutschland. Dann merkten sie, dass sie abgezockt wurden. Und dass es nicht so einfach läuft: dicker Benz, demokratische Mitbestimmung und trotzdem seine Ruhe haben. Nein, sie müssen sich auf der Arbeit knechten lassen, wenn sie ihre Neger- oder Weiber-Witze machen, gibt es Widerspruch und ihre Welt verändert sich andauernd. Überall herrscht Wettbewerb, Wettkampf um alles: Wenn du es nicht machst, dann macht es eben jemand anderes. Sie können nichts dagegen tun, es ist ein totaler Kontrollverlust.

Darum sind sie »Protestwähler« geworden, reden dummes Zeug und freuen sich, wenn sich jemand darüber ärgert. Sie heischen nach Aufmerksamkeit, sie wollen eigentlich nur Respekt, aber sie wollen sich auch nicht ändern, sie wollen nicht lernen. Sie sind keine Opfer, sie sind erwachsen. Sie wissen, was sie tun. Man kann ihnen nicht helfen. Es ist eine verlorene Generation. Das Beste wäre, diese Menschen einfach in Ruhe zu lassen und sich stattdessen um die Zukunft zu kümmern, um funktionierende Alternativen und um die jungen Leute in diesem Land.

Doch diese Menschen politisch auszubeuten, ist das Allerletzte. Das ist, neben dem Rassismus, den Lügen und den Unverschämtheiten, das Widerliche an dieser AfD und ihren Strategen, vor allem denen aus dem Westen: dass sie die verlorene Generation Ost weiter verarschen. Und das Traurige ist, dass diese sich wieder verarschen lässt.

Die verlorene Generation

In Sachsen wählt fast ein Drittel der Wahlberechtigten diese Partei. Auffällig ist hier die Altersgruppe der 45- bis 60-Jährigen als Hauptwählergruppe der AfD. Es sind genau diejenigen, die vor 30 Jahren Jugendliche und junge Erwachsene waren – diejenigen, die man auf den Fotos vom Mauerfall und danach in ihren Stonewashed-Jacken so frenetisch jubeln sieht.

Es sind Menschen, die ihren kompletten Bildungsweg noch in der DDR absolviert hatten, manche ihre ersten Jahre im Beruf. Junge Erwachsene, die 1989/90 am stärksten euphorisiert waren von den neuen Möglichkeiten, die am höchsten flogen, als die Mauer fiel und die D-Mark kam. Und die am härtesten landeten, weil sie die Ersten waren, die entlassen wurden, weil sie noch kein eigenes Vermögen aufgebaut hatten oder weil sie diejenigen waren, die jahrelang Hunderte Kilometer zur Arbeit und zurück pendelten. So was macht schlechte Laune.

Es ist ein sehr emotionaler Zugang zur Politik, den diese Leute haben. Daher kommt die Wut – und darum funktionieren auch keine Fakten mehr. Denn es geht es um was anderes. Es geht um Gefühle. Es geht um Kränkung, ums Beschissenwerden, um fehlende Wertschätzung. Sie denken, die Welt, in der sie leben, ist eine, in der sie sowieso nur betrogen werden. Und sie haben Gründe dafür, so zu denken. Es ist eine politisch traumatisierte Generation.

Die Jüngeren dieser Kohorte, heute Anfang bis Ende 40 Jahre alt, sind dazu noch traumatisiert von der extremen Jugendgewalt, die sofort nach der Wende einsetzte. Diese Menschen waren entweder selbst Skinheads, Nazi-Hools und deren Freunde – oder sie waren diejenigen, die auf der Abschussliste schwer gewalttätiger Altersgenossen standen. In jeder Stadt kannte man mindestens einen Fall, bei dem jemand von Nazi-Skins oder Nazi-Hools zu Tode geprügelt, gefoltert, angezündet oder in den Tod gehetzt wurde. Und in der Provinz war es für Jugendliche gar keine Frage, ob man »rechts« war oder nicht. Entweder war mans, oder man haute so schnell wie möglich ab.

Kinder der DDR

Die Menschen, die heute ihre Wut auf Marktplätze, ins Internet und jetzt in Parlamente tragen, sind aufgewachsen im real existierenden Sozialismus. In der DDR waren sie Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Ihnen wurde erzählt, dass alles gut wird im Sozialismus, dass sie in der besseren Welt leben. Dass sie sich nur anstrengen müssen, in der Schule, beim Sport und beim Altpapiersammeln. Sie haben das geglaubt. Alle Kinder in der DDR haben das geglaubt.

Dann wurden sie älter und haben gemerkt, dass es nur Betrug war, das mit dem Sozialismus, der Solidarität, der DDR. Und glaubten an was Neues: an den Westen, die Freiheit und schließlich an den Protest. Dann kam 89 und dieses unfassbare Gefühl, die alten Lügner gestürzt zu haben. Irgendwie ging alles so leicht.

Und wieder wurde ihnen erzählt, dass alles gut wird. Diesmal im Kapitalismus. Dass sie sich nur anstrengen müssen.

Anschließend wurden erst mal alle entlassen. Keine Arbeit, keine Knete. Der plötzliche Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft war eine direkte Folge der heiß ersehnten Währungsunion. Damit sollte ein Massenexodus in den Westen verhindert werden, der dann aber doch einsetzte. Fast ein Viertel der DDR-Bevölkerung, mehr als 3,6 Millionen Menschen, verließ den Osten ab 1989 gen Westen.

Im Osten richtete man eine Billiglohnzone ein, gleiche Arbeit bei 75 Prozent Gehalt.
 Alle Machtpositionen wurden mit Westdeutschen 
besetzt, alle Gewinne floßen ab in westdeutsche Konzernzentralen. Die Ostler, die noch da waren und Arbeit hatten, lebten in panischer Angst vor der Arbeitslosigkeit. Daran waren sie natürlich auch selbst schuld. Aber es war ein großes Wort, das sich schnell fest verankerte in den Hirnen: Arbeitslos. Der totale Absturz. Nicht zu arbeiten war in der DDR immerhin eine Straftat, für die man ins Gefängnis kam.

Arbeit, Angst, Konsum

Die Ostdeutschen fanden sich also wieder in der Hölle aus Arbeit, Angst, Konsum und Kredit. Sie hatten ihre Revolution für ein paar Snickers verkauft. Reisen in ferne Länder waren möglich – aber nun fehlte entweder das Geld oder die Zeit, meistens beides. Der 89er Demo-Spruch von »Visafrei bis Hawaii« geht jetzt klar, du musst aber erst mal 5.000 Deutschmark auf den Tisch legen.

Als Kohl 1990 in Leipzig sprach, standen 320.000 Menschen auf dem heutigen Augustusplatz um ihm zuzujubeln. Als er 1994 wiederkam, warteten da 6.000 Menschen, bewaffnet mit Trillerpfeifen. »Danke Merkel« ist nichts Neues für diese Leute, sowas denken sie schon seit fast 30 Jahren.

Das Problem

Das Problem, mit dem man sich im Westen auseinandersetzen muss, ist, dass die Ostler ein eigenes Land hatten, das ihnen verloren gegangen ist. Das ist ziemlich viel.

Und wie verloren es ist, das wird vielen erst heute, 30 Jahre später, klar. Darum erzählen 57 Prozent, dass sie sich wie Bürger zweiter Klasse fühlen. Es geht hier nicht um Ostalgie, auch nicht darum, dass früher angeblich alles besser gewesen sei. Worum es vielen geht, auch Halb-, Fast- oder Voll-AfDlern, diesen ganzen Leuten, die hier wie verrückt mit ihren Autos durch die Gegend fahren, ist die Zukunft des Landes und Wertschätzung, eine echte Einheit – an der auch die Ostler beteiligt sein müssen. Das ist eine einfache Idee, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch bisher ist es so nicht gelaufen.

Dass daran nicht nur die Westler schuld sind, sondern sie selbst die Trottel waren, die sich von westdeutschen Gebrauchtwarenhändlertypen haben über den Tisch ziehen lassen, wird gern vergessen im Osten. Aber wenn man sich unterhält mit den Leuten, persönlich, dann wird jeder, der dabei war, sagen: »Ja, wir waren nicht besonders schlau damals. Ja, es ging alles viel zu schnell. Aber was sollten wir auch machen, wir hatten ja keine Alternativen und auch keine Lust mehr auf Experimente.«

Es geht um Wertschätzung

Kohl, Westdeutschland, die D-Mark, das alles waren Systeme, die ja funktionierten, die sicher waren und Sicherheit versprachen. Dorthin hat man sich geflüchtet. Die Oppositionellen waren, na ja, wie schon gesagt: Hippies, Künstler, Penner und Ökos. Dass die vielleicht ein besseres Angebot haben, darauf ist keiner gekommen. Und das große Problem der DDR-Opposition war, dass sie kein charismatisches Personal hatten, keinen Václav Havel aus Ost-Berlin, Rostock oder Leipzig. Das Resultat: 2,91 Prozent.

Wenn man wirklich über Wertschätzung der Menschen im Osten reden will, dann muss man darüber reden, wie wir zusammen ein neues Deutschland bauen können. Also nicht die schöne alte BRD des hamburgerischen Zeit-Redakteurs mit 300.000-Euro-Erbschaft, sondern ein echtes Gesamtdeutschland. (Übrigens: Darüber muss man auch mal mit den Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund reden.)

It’s the economy, stupid

Diese Diskussion würde vermutlich hart werden für das westdeutsche Selbstverständnis und die Menschen der alten BRD. Und dabei würde es in allererster Linie um die Neuordnung des Wirtschaftssystems und des Sozialsystems gehen. Darum, wer eigentlich das Sagen hat und darum, wer das Geld hat.

Denn bei allem Rassismus, bei aller Fremdenfeindlichkeit und ganz persönlicher politischer Plattheit eines großen Teils der ostdeutschen Wählerschaft, ist das Klientel, das jetzt so massenhaft AfD wählt – ein klassisches SPD und CDU-Wählerklientel. Die Grundlage für den Ärger sind soziale Fragen, die »Herrschaft des Geldes« wird in Umfragen als eines der größten Probleme angesehen. Das sagen auch die, denen es jetzt gut geht, denn sie sind der Meinung, dass sie es nur aufgrund ihrer Härte in einem eigentlich bösen Wirtschaftssystem geschafft haben.

Viele Ostler der verlorenen Generation sind kapitalismuskritisch eingestellt. Daher kommt auch ein großer Teil der Vorbehalte gegenüber dem Westen vor allem der USA und die Sympathie für Russland. Weil dort, so geht die Erzählung, habe Putin den Oligarchenturbokapitalismus mit harter Hand eingehegt.

Sie beschweren sich über Ausbeutung am Arbeitsplatz und das Finanzamt, das ihnen alles wegnimmt – und selbst ihren Fremdenhass (den sie auch so hätten) begründen sie mit sozialen Ängsten: Früher war es die Geschichte von den »Ausländern, die uns die Jobs wegnehmen«, heute ist es die Story von der »Einwanderung in unsere Sozialsysteme« und von den angeblichen Faulenzern, die nicht vor Krieg, Not und Hunger fliehen würden, sondern weil sie in Deutschland »durchgefüttert« würden. Irgendwie geht es immer ums Geld und um Arbeit. It’s the economy, stupid.

Wie ist das so als Opfer?

Doch auch die wahren Aufbrüchler von 89 sind verloren, gehören zur Verlorenen Generation Ost. Auch sie waren damals junge Erwachsene, bereit, ins Leben zu starten. Was ist aus den Dissidenten, den Oppositionellen in der DDR geworden? 
Politischen oder anderen gesellschaftlichen Einfluss konnten sie nie entwickeln. Einige, besonders die damals schon sehr konservativen, sind mit Posten versorgt.

Die meisten wirken jedoch wie geschlagen vom Leben. Den Schock der Wahl vom März 1990 haben sie nie überwunden. Der einzige Raum, der ihnen gnädig überlassen wurde, war die Aufarbeitung der Stasi-Akten in einer eigenen Behörde. Wenn man mit ihnen sprach in Funk und Presse, ging es um Stasi-Geschichten: Wer hat wen überwacht? Wer war ein IM? Wer hat mit wem geschlafen – und war das auch ein IM? Wie war das so in der Zelle? Wie ist das so als Opfer? Es ging nicht um das, was sie eigentlich wollten für die Menschen in diesem Land und was davon heute noch Gültigkeit hat – für die neue BRD.

Zu Jubiläen werden sie aus der Versenkung geholt, auf Bühnen gestellt und geehrt. Aber ihre Ideen werden vergessen. Und zwar nicht nur von der breiten Bevölkerung in Ostdeutschland. Auch westdeutsche Eliten, sei es in Politik oder Medien, haben nie einen Zugang zu den Arbeiten der DDR-Oppositionellen gefunden. Dabei könnte genau dort die große politische Vision verborgen sein, deren Fehlen heute so oft beklagt wird.

Ein offenes Land

Wo wird zum großen 30jährigen Wendejubiläum über die Forderungen und Visionen des Neuen Forums diskutiert? Wo wird darüber debattiert, was diese Gruppen wirklich wollten und ob es nicht Sinn machen würde, deren Ideen wieder aufzunehmen? Die Vorstellungen von 89 sind durchaus zeitgemäß. Oltmanns’ und Hattenhauers Forderung – für ein »Offenes Land mit freien Menschen« – ist auch in der real existierenden Bundesrepublik gültig.

In seinem Gründungsdokument von 1989 wünschte sich das Neue Forum unter anderem eine bessere Warenversorgung und schrieb dazu: »Andererseits sehen wir die sozialen und ökologischen Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmten Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative aber keine Erwartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Neuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.«

Die Ideen von 89 sind erstaunlich aktuell

Aber die Geschichte ist ja nicht zu Ende. Und vielleicht erkennen auch die Eliten im Westen irgendwann den Wert der Ideen, aus denen der 89er Umsturz erwuchs, die von der Opposition am Runden Tisch eingebracht wurden, die den vielen Gruppen wichtig waren. Sie sind erstaunlich aktuell: basisdemokratisch, emanzipiert, transparent, menschenrechtlich, ökologisch nachhaltig, auf Diversität und Teilhabe bedacht, sozial gerecht, antifaschistisch, wissenschaftlich.

Es ist so ziemlich genau das, wofür Jugendliche und ihre Eltern nun wieder auf die Straße gehen. Fridays for Future ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie populär solche Ideale heutzutage sind. Wenn es die 68er waren, die die alte Bundesrepublik verändert haben, dann können es die 89er sein, zumindest die Ideale ihrer verlorenen Revolution, die der neuen Bundesrepublik eine Zukunft zeigen. Man muss sich nur an sie erinnern, darüber reden und was verändern. Dann hätte der Herbst 89 doch noch ein gutes Ende gefunden.

 

 

»Ich ging auf die Demos, um sie mit dem Fotoapparat zu dokumentieren. Hier geriet ich in einen Block von Menschen, die sich mit äußerlichen Merkmalen wie Springerstiefeln, Bomberjacken, geschorenen Köpfen, mit vermummten Gesichtern, übergestülpten Kapuzen und einer Reichskriegsflagge präsentierten. Ihre Aggressivität bekam ich verbal zu spüren: ›Bist wohl von der Stasi, verschwinde, oder ich hau dir den Fotoapparat aus der Hand.‹ Das war mir fremd, bisher hatte ich nur positive Erfahrungen gemacht. Leider nahmen die Provokationen nach dem 9. November 1989, dem Mauerfall, zu. Das hatte nichts mehr mit denMontagsdemos zu tun.«

Die Amateur-Fotografin Maria Notbohm über die Entstehung dieses Bildes am 20. November 1989. Notbohm hat alle hier gezeigten Bilder im Herbst 89 und Frühjahr 90 in Leipzig aufgenommen.

Dieser Text stammt aus der Titelgeschichte im kreuzer, Heft 10/2019


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2 Kommentar(e)

Wulf Mirko Weinreich 12.11.2019 | um 03:34 Uhr

Danke für diesen superguten Artikel. Hätte ich gewußt, daß wir vom Knast ins Irrenhaus geraten würden, hätte ich mir die Oppositionsjahre seit 1975 (Protest gegen Biermanns Ausbürgerung, Wehrdienstverweigerung) vermutlich gespart. Wir wollten mehr als Bananen, nämlich eine wirklich menschliche Gesellschaft, an der Charta 77 orientiert. Statt dessen sind wir Nutznießer eines "aggressiven Kapitalismus im Endstadium" geworden, der vermutlich die ganze Menschheit in eine ökologische Katastrophe reißen wird. :-(

Wulf Mirko Weinreich 12.11.2019 | um 12:04 Uhr

Ein toller Artikel, der gut meine Ambivalenz zur Wende vor 30 Jahren (die ich ja ziemlich aktiv miterlebt habe) zum Ausdruck bringt. Integral gesagt wollte die intellektuelle Elite damals vom blauen Sozialfeudalismus in eine grüne Bürgergesellschaft springen - und ist auf der Hälfte in einen orangen Spätkapitalismus abgestürzt. Da man keine Entwicklungsebene auslassen kann, muß ich's wohl akzeptieren ………