anzeige
anzeige
kreuzer plus

Die Widersprüchliche

Die Geschichte der Spinnerei ist ein Symbol für Leipzigs Stadtentwicklung

  Die Widersprüchliche | Die Geschichte der Spinnerei ist ein Symbol für Leipzigs Stadtentwicklung

Schön, berühmt und voll vermietet: Die Verwandlung der Leipziger Baumwollspinnerei zum Zentrum von Kunst und Kreativwirtschaft ist eine tolle Erfolgsgeschichte, darauf können sich alle einigen. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten schon, hinter den Kulissen schwelen Konflikte.

Stefan Stößel war schon an dem Punkt, wo er dachte: »Nichts wie weg hier.« Aber dann blieb er doch. Da sind ja die Schönheit des Raumes und seine vielen Sachen hier: Ein rund 100 Quadratmeter großes Atelier mit zwei riesigen gusseisernen Kastenfenstern, mit Lager, Büro und kleiner Küche. Überall stehen und hängen Arbeiten, liegen Bücher und Materialien in Regalen und Schränken. Als er 1994 sein Atelier in der Spinnerei bezog, betrug die Miete pro Quadratmeter 2,75 Mark. Der Raum war improvisiert, Strom und Nebenkosten wurden mit Abschlägen beglichen, Zähler gab es keine. Seit der Sanierung ist das alles anders. Was er inzwischen bezahlt, mag er nicht veröffentlichen, nur: Seine persönliche Schmerzgrenze habe er schon vor Jahren überschritten.

Ein x-beliebiger Sonnabend im Mai 2019, kurz vor 11 Uhr mittags. Es regnet, auf dem unebenen Pflaster haben sich Pfützen gebildet. Vor der Halle 10 der Spinnerei warten Touristen auf die erste Führung des Tages. Als eine junge Studentin der Kunstgeschichte kurz da-rauf die Tür zum Archiv Massiv, einer Art Empfangshalle für das Spinnerei-Gelände, aufschließt, strömen fast 30 Gäste zur Kasse. Einige Eltern sind dabei, die ihre erwachsenen Kinder in deren Studentenstadt Leipzig besuchen. Aber es gibt auch Besucher aus dem Ruhrgebiet, deren spezielles Interesse alter Industriekultur gilt. Sie sind nur für die Spinnerei nach Leipzig gekommen. Ein älteres Paar aus Franken ist zum ersten Mal in der Stadt und folgte seinem Reiseführer. Dort ist die Spinnerei eine Top-Sehenswürdigkeit. Die Gruppe wird durch die Höfe und Hallen geführt, besucht eine Galerie und das Luru-Kino, später noch eine Kunsthandwerkerin in ihrer Porzellanwerkstatt. Als die Touristen kurz vor zwölf zum Ausgangspunkt zurückkehren, warten dort bereits die nächsten 40 Besucher auf eine Führung.

Vom Lost-Place zum Touristenmagnet, von der leeren Garn- zur vollen Kunstfabrik. Einige sind von dieser 
Verwandlung manchmal überfordert. »Ich möchte kurz rüber ins Café und einen Kaffee trinken und denke darüber nach, ob ich mich umziehen muss«, sagt Daniel Schörnig. »Weil da stehen drei Reisebusse, aus denen Leute mit Fotoapparaten und Rollatoren aussteigen. Und man weiß, man betritt eine Öffentlichkeit, wie es sie kaum irgendwo gibt in der restlichen Umgebung.« Als der Künstler 1998 sein Wohnatelier bezog war die Spinnerei genau wie der ganze Leipziger Westen noch verlassen. War es damals schon klar, dass es anders werden würde?

Die Leipziger Baumwollspinnerei war mal eine der größten Fabriken ihrer Art in Europa. Die Gebäude haben besonders dicke Wände und Dächer mit Korkdämmung, Erde und Schnittlauch darauf. Im Inneren konnten so sommers wie winters konstant 23 Grad Celsius gehalten werden. Bei dieser Temperatur läuft das Garn am besten. Die Spinnerei beschäftigte Tausende Arbeiterinnen, produzierte Millionen Meter Garn jedes Jahr und war der Stolz ihrer Aktionäre, allen voran die Allgemeine Deutschen Creditanstalt ADCA, die damals größte Leipziger Bank.

Nach dem Krieg wurden die Privateigentümer enteignet und die Spinnerei in einen Volkseigenen Betrieb (VEB) umgewandelt. So existierte sie bis zum Ende der DDR fort. Ihre Verwandlung in eine Kunstfabrik danach war zunächst eher ein Zufall. Dass sie dadurch aber eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt mit internationaler Bekanntheit geworden ist, daran haben ihre neuen Eigentümer kräftig mitgewirkt. Wie jede Erfolgsgeschichte hat auch diese Ängste und Neid ausgelöst und Kritiker hervorgebracht. Und dass sich die öffentliche Hand in den vergangenen Jahren durchaus großzügig mit Fördergeld an der Sanierung der Immobilie beteiligt hat, obwohl der Eigentümer ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist, die MIB AG, wirft manche Frage auf. Letztendlich aber produzierte der Erfolg der Spinnerei eine ganze Reihe von Gewinnern in Leipzig. Wie hat sie das geschafft?

Die mit dem Michelin-Männchen

In den ersten Jahren nach der Wende werden die DDR-Betriebe Leipzigs reihenweise geschlossen. Ihre Maschinen sind veraltet, ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu D-Mark-Preisen nicht mehr konkurrenzfähig. Zehntausende Menschen werden arbeitslos. Regina Lenk, vormals technische Direktorin des VEB Baumwollspinnerei, verwaltet die riesige Immobilie für die Treuhand. Rund 100.000 Quadratmeter messen alle Flächen zusammen, auf einem Großteil davon ist die Produktion bereits abgewickelt. 1993 entscheidet sich Rolf-Michael Kühne zum Kauf der Fabrik. Der Kölner hat bereits einige Ostbetriebe für wenig Geld erworben und versucht mit ihren Resten Geld zu verdienen. In Teilen der Spinnerei lässt er Cord fertigen für den französischen Reifenhersteller Michelin, den mit dem Michelin-Männchen. Überall sonst verschwinden 
Arbeit und Arbeiter aus den Gebäuden.

Regina Lenk versteht früh, dass die Flächen schneller verfallen, wenn sie von niemandem genutzt werden. Überall in Lindenau und Plagwitz werden frühere Betriebe durch Einbruch und Vandalismus zerstört. Aber erst als Kühne die Fabrik übernimmt, darf sie Flächen einzeln vermieten. Über ihren späteren Ehemann lernt die Verwalterin Peter Bux kennen. Bux, ein junger Künstler von der Frankfurter Städelschule, kommt 1994 zu einem Austausch mit der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Die HGB hat sich aber nicht um Räume gekümmert. Die Spinnerei sei dann der Plan B gewesen, erzählt der Kunstrestaurator heute. Zusammen mit Manfred Mühlhaupt zieht er in die frühere Fabrik ein. Der Rest ist Mundpropaganda.

Auf Bux und Mühlhaupt folgen Peter Kraußkopf und Neo Rauch, dann Stefan Stößel, Christiane Baumgärtner, Michael Kriegel, Oliver Kossack, Sandro Porcu, Käseberg und weitere. Die Liste der Menschen, die die Spinnerei in einen Ort der Kunst verwandelt haben, ist lang.

[caption id="attachment_81915" align="aligncenter" width="600"] Arbeiterinnen im Jahr 1909: Die Leipziger Baumwollspinnerei war einst der größte Betrieb seiner Art in Kontinentaleuropa[/caption]

Stefan Stößel erinnert sich, dass bei seiner Ankunft in einigen Gebäuden noch Industrieproduktion stattfand. »Bis zur Wende waren hier Tausende Frauen als Arbeiterinnen beschäftigt. Im Treppenhaus sind wir uns noch begegnet, wenn wir morgens kamen. Manchmal war das ein merkwürdiges Gefühl. Krisengewinner ist nicht der richtige Ausdruck dafür, aber irgendwie haben wir ja profitiert von dem wirtschaftlichen Desaster.«

Neben den Künstlern kommen auch Handwerker mit ihren Werkstätten. Einer von ihnen hat große Pläne als Möbeldesigner und richtet sich in Halle 18 ein. Es ist Bertram Schultze.

Die Künstler genießen ihr neues Domizil. Während in den Medien Niedergang, Arbeitslosigkeit, Nazigewalt und Abwanderung das Bild des Ostens bestimmen, ziehen Stößel und seine Freunde durch die leer stehenden Fabriken und sammeln Fundstücke ein. »Du musstest nur herumgehen und alles mitnehmen, es stand mehr oder weniger besitz- und fürsorgelos zur Verfügung. Es war, als wären die Leute nur kurz mal für eine Pause weggegangen. Überall lag ewig viel herum.«

Unter anderem findet er wunderschönes altes Büromobiliar aus massivem Holz. Die Schränke, Schreibtische und Regale stehen noch heute in seinem Atelier. Vor allem aber sind die Hinterlassen-
schaften Inspiration und Material für die Kunst: Aus dreieckigen Rollbrettern, auf denen die Tonnen mit der Rohbaumwolle montiert waren, macht er einmal die Arbeit Puzzle. Bemalt und unterschiedlich eingefärbt lassen sich die Dreiecke zu verschiedenen neuen Installationen kombinieren.»Es war undefinierter Raum hier. Die Fabrik hatte ihre alte Bestimmung verloren und ihre neue noch nicht 
gefunden. Das war reizvoll, denn es korrespondierte genau damit, was man mit der künstlerischen Arbeit auch täglich macht: Man erschließt unbekanntes Gelände«, erzählt Daniel Schörnig, der 1998 mit anderen den Kunstraum B2 und damit die erste öffentliche Ausstellungsfläche auf der Spinnerei gründet.

Die Pioniere fühlen sich oft mutterseelenallein im früheren Industriegebiet. Beinahe alle Fabriken stehen leer. Leben gibt es in Leipzig damals in der Südvorstadt oder im Zentrum. Schörnig erinnert sich an eine Kollegin, deren Atelier in einem ehemaligen Meisterzimmer am Ende einer riesigen Halle liegt. »Die fuhr immer mit dem Fahrrad zur Toilette auf der anderen Seite. Das war wirklich ein richtig weiter Weg, für den sie extra das Toilettenfahrrad hatte. Sonst war dort niemand, sie war die einzige Bewohnerin.«

Die Wende im Jahr 2000

In den neunziger Jahren ist offen, welche Entwicklung die Spinnerei einschlagen wird. Auch Leipzig geht einer ungewissen Zukunft entgegen. Und dann – obwohl es erst nur wenige bemerken – ändert sich etwas. 1999 hat Leipzig einige Vororte eingemeindet. In der Folge wächst die Einwohnerzahl der Stadt zum ersten Mal seit Langem, seitdem hält das Wachstum an. Amerikanische Kunstsammler entdecken Neo Rauch, seine Bilder erzielen jetzt fünfstellige Summen. Und in der Spinnerei endet die Produktion von Reifencord. Rolf-Michael Kühne will das Gelände verkaufen.

Bertram Schultze hat inzwischen das Möbeldesign aufgegeben und eine Karriere in der Immobilienwirtschaft begonnen. Nur wenige Meter Luftlinie entfernt am Karl-Heine-Kanal hat er das erste Mal mit seinen neuen Geschäftspartnern das sogenannte Stelzenhaus saniert, die ehemalige Wellblechfabrik Grohmann & Frosch. »Ich hab als Makler gearbeitet und mir immer Kisten ausgesucht, die kein anderer angefasst hat«, erzählt der 50-Jährige. »Irgendwas Komplexes, Ansprüche der Jewish Claims Conference, eine zerstrittene Erbengemeinschaft oder, wie beim Stelzenhaus, die Faszination des Objekts.« Das Gebäude ist eine Herausforderung: Es gibt noch reichlich giftigen Metallstaub und durch die Stelzenkonstruktion ist die Gebäudehülle im Verhältnis zu seiner Nutzfläche sehr groß.

Die Partner sind Tillmann Sauer-Morhard und Florian Busse, wie Schultze kommen sie aus Franken, der Region zwischen Nürnberg und Würzburg. In die Immobilienbranche sind sie über die Sanierung von Wohnhäusern in Leipzig und Dresden gelangt. Mit weiteren Beteiligten gründen sie später das Immobilienunternehmen MIB AG, das Großprojekte wie das Messehaus am Markt oder das Neue Institutsgebäude der Universität in der Grimmaischen Straße managt. Schultze wird Gesellschafter und Geschäftsführer der Unternehmenstochter, die sich mit der Umwandlung alter Industrieareale 
beschäftigt. Coloured Fields nennen sie das Unternehmen, in Anspielung auf Brown Fields, den amerikanischen Ausdruck für Industriebrachen. Als die Spinnerei zum Verkauf steht, schlagen Schultze und seine Partner zu. 4,1 Millionen Euro bezahlen sie laut einem Bericht im Handelsblatt dafür.

Er habe sich eher aus einem Bauchgefühl entschieden, sagt der 50-jährige Geschäftsführer heute, während er an einem schweren, ovalen Konferenztisch sitzt. Durch das mit dunklem Holz ausgekleidete Vorstandszimmer weht noch ein Hauch der Industriellen, die sich hier früher über die Bilanzen gebeugt haben. Die bauliche Qualität der Gebäude habe ihn überzeugt, sagt Schultze, ihre solide Konstruktion mit den dicken Wänden und den Gründächern. Weil sie von Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben waren, befanden sich die Fabrikhallen auch in den neunziger Jahren noch in einem verhältnismäßig
guten Zustand.Die städtebauliche Struktur drum herum habe er gleich fantastisch gefunden, sagt er, die alten Industrieanlagen, die Gründerzeithäuser, den Kanal und den relativ leer stehenden Boulevard Karl-Heine-
Straße. Begegnet sind ihm damals jede Menge Zweifel. »Sie investieren in Plagwitz? In Plagwitz sind alle Kinder im Alkohol geboren worden. Vor fünf Jahren stand hier der Schaum noch drei Meter hoch auf dem Kanal und solche Sprüche – so hat ein Leipziger, der selbst nicht aus Plagwitz kam, diesen Standort bewertet.«

Auch die Künstler und Kleinbetriebe, die schon da waren, machten die Sache nicht leichter. »Ich hatte eigentlich einen Höllenrespekt vor dem Job. Ich kannte ja alle, die hier waren, zumindest die neuen
Sukzessionsmieter. Und ich wusste, dass hier jeder eine völlig eigene Meinung von dem Ding hat und was daraus werden könnte. Und ob überhaupt etwas draus werden soll oder ob alles nur konserviert werden soll. Als ich das dann angefangen habe, war es aber der schönste Job der Welt.«Am Anfang verfolgen Schultze und sein Immobilienunternehmen einen eher klassischen Plan. In einer Halle haben sie ein Loft hergerichtet, es dient als Muster und soll Investoren anlocken. Geplant ist ein Mix aus Wohnungen, Gastronomie, Kunst, Grünanlagen und Parkplätzen für Autos. 15 Millionen Mark sollen investiert werden. Doch die Vision kommt zur falschen Zeit. An der Börse ist gerade die erste Internetblase geplatzt. Viele Abschreibungsmodelle, die den Wohnungsbau in den neuen Bundesländern angeheizt haben, sind ausgelaufen. »Wir hatten uns einen Partner gesucht aus dem Münchner Raum, die alles abverkaufen wollten zu tollen Preisen. Und das ist ihnen schlichtweg nicht gelungen. Der Markt war nicht da.«Banken, die große Summen investiert hätten, waren auch keine in Sicht. »Die haben uns einfach Steinekäufer genannt. Wenn die die drei glorreichen Worte, Ostdeutschland, Fabrik und Künstler gehört haben, sind sie abgehauen.« Also blieb nur, die Entwicklung fortzusetzen, die schon da war. »Es war abzusehen, dass die Künstler und alles, was an der Kunst dran hängt, die geeignetste Nutzung hier ist. Auch mangels anderer Alternativen. Es gab keinen Masterplan, dass wir eine Kunstfabrik machen. Sondern wir haben gemerkt, wir haben hier zigtausend Quadratmeter Leerstand, die gegen uns arbeiten, weil sie jedes Jahr mindestens einen Euro pro Quadratmeter kosten. Und dann war es einfach opportun, in diese Richtung zu gehen.« Die Unternehmensform der Aktiengesellschaft macht es der MIB leichter, private Investoren zu gewinnen. In der Spinnerei werden die Dächer saniert und die Hallen möglichst kostengünstig in Ateliers umgebaut. Schon ein Jahr nach dem Kauf sind viele Flächen an Künstler vermietet.

Schultze gelingt es, einen weiteren wichtigen Verbündeten zu gewinnen. Karsten Schmitz, ein Münchner Kunstsammler und Mäzen, steigt 2002 in die Spinnerei ein. Er möchte die Halle 14 mit seiner Stiftung Federkiel zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst machen, das regelmäßig große Ausstellungen zeigt. Und so nimmt die ungeplante Kunstfabrik Gestalt an. Internationale Vorbilder gibt es viele, etwa in Westdeutschland, wo zahlreiche Kulturzentren in ehemaligen Fabrikanlagen entstanden sind, in New York oder im nordenglischen Newcastle, wo mit dem »Baltic« eine ehemalige Getreidemühle zum bedeutenden Zentrum für zeitgenössische Kunst aufgestiegen ist. »Wie Architektur sozial denken kann« ist der Titel des ersten großen Workshops, den die Halle 14 und die Spinnerei gemeinsam durchführen. In vielen Veranstaltungen diskutieren die Teilnehmer, wie eine Entwicklung möglich ist, die die Künstler auf dem Gelände am Ende nicht zum Opfer ihres Erfolgs macht. Sanierung und Ausbau ohne Gentrifizierung, das ist das erklärte Ziel.

Der Hype beginnt

Und dann haben die neuen Eigentümer einfach Glück. Neo Rauch wird weltweit berühmt, mit ihm sein realistischer Malereistil, der als Neue Leipziger Schule zum Hype wird. Rauch, der bis heute sein Atelier in der Spinnerei hat, zieht die internationalen Medien an und macht damit auch die alte Fabrik bekannt. Schultze und seine Partner nutzen die Gunst der Stunde und überreden die Leipziger Kunstgalerien 2004 zum Umzug auf die Spinnerei.

Gerd-Harry »Judy« Lybke, seit DDR-Zeiten Galionsfigur der Leipziger Galeristen, sagt heute: »Die Spinnerei stand damals bei uns Galerien nicht auf dem Plan. Als wir uns entschieden haben, hierher zu gehen, hätten wir auch noch umsonst etwas am Marktplatz bekommen.« Aber Bertram Schultze überzeugt ihn durch die Vision, die Spinnerei zum langfristigen Ort der Kunst zu machen. Lybkes Galerie Eigen+Art bekommt wunderschöne Räume, die der Galerist mit einem griechischen Tempel vergleicht. Die anderen Galerien, unter ihnen Jochen Hempel, Torsten Reiter (damals noch März-Galerie), Dogenhaus und Kleindienst ziehen nach. 2005 feiern sie Eröffnung mit dem ersten Frühjahrsrundgang auf der Spinnerei. Angeblich kommen so viele internationale Kunstsammler, dass am Flughafen die Stellplätze für Privatjets knapp werden.

[caption id="attachment_81916" align="aligncenter" width="600"] »Irgendwann will ich es wissen«: Installation des Künstlers Benjamin Bergmann in der Halle 14[/caption]

Für Daniel Schörnig und den Kunstraum B2 ist dieses Ereignis rückblickend die entscheidende Zäsur. »Mit dem Phänomen der Neuen Leipziger Schule brach der Markt herein und zerschmetterte sofort diese gesamte Community der Künstler«, erzählt er. Äußerlich sei das kaum sichtbar gewesen, überraschend war es nicht. »Wenn Geld ins Spiel kommt, dann ist es ein Trennmittel. Plötzlich wurde die Frage wichtig, bei welcher Galerie ist man und verkauft sich die Kunst? Gehört man in diese Strömung rein oder nicht. Und dann wurde heftig sortiert und definiert.« Aus dem Kunstraum wird die Produzentengalerie B2, die dann an ihren heutigen Standort in der Halle 20 umzieht.

Es ist diese Mischung aus altem Industriecharme, Künstlerateliers, Galerien und Ausstellungen, die einen Autoren des Guardian 2007 schließlich dazu bewegt, die Spinnerei zum »Hottest place on earth« zu erklären. Ungewollt legt die britische Tageszeitung damit den Grundstein einer Welle euphorischer Leipzig- Berichte, die der Leipziger Autor André Herrmann später unter dem Schlagwort »Hypezig« zusammenfasst. Und schon hier teilen sich die Reaktionen in Erstaunen, dass die Problemstadt Leipzig auf einmal sexy sein soll; in Genugtuung darüber, endlich auch einmal positiv wahrgenommen zu werden, und in Sorge darüber, dass der Hype seine Grundlage vernichten wird.

Raum für Größenwahn

Die Gesamtimmobilie ist 2005 noch lange nicht gerettet. Der Halle-14-Enthusiast Karsten Schmitz stellt in München Ute Volz als Assistentin in der Stiftung Federkiel ein. 2006 besucht sie zum ersten Mal die Spinnerei. Der erste Eindruck ist ein bleibender. »Wir mussten in den dritten Stock und sind lange Zeit durch dieses Treppenhaus gelaufen, weil die Decken so hoch sind. Ich hab mich gefragt: Wann sind wir endlich da?«, erzählt sie. Als sie ankommen, werden sie von einer Installation des Künstlers Benjamin Bergmann empfangen. »Irgendwann will ich es wissen« heißt die. »Das ist eine große Holzrampe mit einem Fahrrad darauf, das von Gummibändern festgehalten wird. Man stellt sich vor, es fährt irgendwann diese Rampe runter«, erzählt Ute Volz noch heute begeistert.

Die Skulptur eröffnet quasi eine riesige Halle, dahinter beginnt die Ausstellung »Kultur der Angst«, die damals gezeigt wird. Das Dach ist löchrig, an einer Stelle haben die Ausstellungsmacher einen Raum abgeteilt, wo besonders viel Wasser hereintropft und sich in einer Art Badewanne sammelt. Volz ist schwer 
beeindruckt. »Du musstest bei der Konzeption einer Ausstellung immer bis zur Decke hoch denken und die langen Strecken zwischen den Säulen nicht vergessen. Es war ein sichtbarer Kraftakt, der mich da begrüßt hat. Ich dachte: Wow.«

Klar ist auch, der bauliche Zustand der Halle 14 ist schlecht. Aus eigener Tasche können die Spinnerei und die Stiftung Federkiel die Sanierung allerdings nicht bezahlen. Bertram Schultze hat aber schon Erfahrung mit Fördermitteln. Für einige Dächer und Gebäudehüllen hat er erfolgreich Gelder beantragt und den Schornstein und die Werkschauhalle mit Denkmalschutzmitteln saniert. »Die Fördermittelgeber wussten, dass wir Mittel normalerweise ordnungsgemäß verwenden. Es ist immer ganz gut, wenn man da eine gewisse Tradition aufbaut«, erzählt er.

Für die Halle 14 wird viel Geld gebraucht: 2,68 Millionen Euro soll die Sanierung insgesamt kosten. Trotz ihrer Ernennung zum »Hottest Place« standen die Türen bei der Stadtverwaltung nicht gerade offen, erinnert sich Ute Volz. Die Mitarbeiter dort fanden die Pläne für ein zeitgenössisches Kunstzentrum überambitioniert. Tenor sei gewesen: »Müssen es gleich 20.000 Quadratmeter sein, reichen nicht auch 2.000 oder 4.000? Das mussten wir erst überwinden«, sagt Volz. Am Ende mit Erfolg. Die Stadtverwaltung ließ sich sogar davon überzeugen, dass das Nutzungskonzept dem Allgemeinwohl dient. Das machte den Weg frei für eine Förderung mit Mitteln aus dem Programm Stadtumbau Ost. Bund, Freistaat und Stadt übernahmen 85 Prozent der Kosten. Dafür darf die Halle 14 für 15 Jahre nur für Einrichtungen des kulturellen Gemeinwohls genutzt werden. Diese Bindung gilt bis 2027. Der neu gegründete Verein »Halle 14« übernimmt die 
Trägerschaft von der Stiftung Federkiel. Und wegen dieser Gemeinwohl-Bindung gibt es bald Ärger.

[caption id="attachment_81918" align="aligncenter" width="600"] Probleme wegen der Gemeinwohl-Bindung von Fördermitteln: Halle 14[/caption]

2009 werden zunächst das Dach und Teile der Fassade saniert, 2011 bis 2012 folgen nach und nach alle Etagen, wo unter anderem die Haustechnik wie Heizungen, Elektrik, Toiletten aber auch Brandschutz nachgerüstet werden. »Wir haben versucht, parallel unseren Ausstellungsbetrieb aufrecht zu halten. Es war in wahnsinniger Kraftakt«, sagt Volz. »Etwa die sechs Kilometer Rohre, die allein für die Sprinkleranlage verbaut wurden, zeigen ganz gut den Umfang der Arbeiten.«

Es ist aber sehr schwierig, genügend Partner zu finden, die die gewaltige Fläche auch sinnvoll nutzen können. Eine Menge Ideen scheitern, etwa private Sammler davon zu überzeugen, hier ihre Kunst-
werke auszustellen und dafür auch noch ein bisschen Geld an die Halle 14 zu spenden. Manchmal gelingt ein Glücksgriff, etwa, als die Columbus Art Foundation zwischen 2008 und 2011 das zweite Obergeschoss bezieht und dort mehrere Ausstellungen pro Jahr zeigt. Oder später, als die HGB mit dem Universal Cube einzieht. »Solche Leute und Institutionen zu finden, die da mitmachen wollten, war überhaupt nicht einfach. Sonst würde die Halle 14 heute ganz anders aussehen«, bilanziert Ute Volz, die die Geschäftsführung aus privaten Gründen 2012 abgibt.Anfang 2014 werden die finanziellen Schwierigkeiten des Halle-14-Vereins sichtbar. Der kann trotz Förderung von Stadt, Stiftung und Sponsoring durch die Spinnerei kaum die Kosten für Strom, Wasser und Wärme aufbringen und sein Personal bezahlen. Die Halle ist einfach zu groß für den Verein, genau wie der Organisationsaufwand. »Wir haben dann als Baumwollspinnerei die zweite und die dritte Etage zurückgenommen und sie innerhalb des Konzepts weiter ausgebaut, das mit den Fördermittelgebern vereinbart war«, sagt Schultze. Dafür mussten nicht alle Flächen frei zugängliche Ausstellungsräume sein, auch Ateliers, Lagerräume und ähnliches seien vereinbar mit kultureller Gemeinnützigkeit, sagt Schultze. Auch ein Theater bestehe ja nicht nur aus Bühne und Zuschauerraum, sondern habe für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Bereiche.

Bedingung war vor allem, dass keine Gewinne mit den Flächen generiert werden, sondern dass die Einnahmen innerhalb der 15 Jahre nur die Nebenkosten decken. Mindestens ein kommerzieller Mieter nutzt allerdings auch Flächen in der Halle 14. Das Büro Seecon verkauft Ingenieursdienstleistungen und hat im 3. Obergeschoss auf rund 1.400 Quadratmetern seine Leipziger Filiale eingerichtet. Die Sächsische Aufbaubank, die die Fördermittel abrechnet und ihre Verwendung kontrolliert, habe dieser Vermietung 
zugestimmt, sagt Schultze. »Wir als Spinnerei haben nochmal 500.000 Euro in den Büroausbau investiert. Die SAB sagte: Das ist weniger als zehn Prozent der Gesamtnutzfläche des Gebäudes. Es ist zwar eine kommerzielle Nutzung, aber ihr investiert soundsoviel, wir haben soundsoviel Fördergelder gegeben, also dürft ihr soundsoviel Miete verlangen.« Die Grundlage dafür trägt den komplizierten Namen »Kostenerstattungs-Beitragsberechnung«.

In direkter Nachbarschaft zu Seecon ist das Spinlab zuhause, das Gründerzentrum der Handelshochschule HHL. Das aber zählt nicht als kommerzielle Nutzung. Gehört eine Fördereinrichtung für Start-ups zum kulturellen Gemeinbedarf? Zählt Unternehmenskultur auch dazu? Die Fördermittelgeber beantworten diese 
Fragen mit Ja.

Es gibt Kritik an der Patchworklösung, zu der die Halle 14 am Ende geworden ist. Nur ein Stockwerk Ausstellungsfläche für zeitgenössische Kunst statt drei, das ist weniger, als am Anfang geplant war. Ute Volz gibt offen zu, dass sie sich das anders gewünscht hat. Aber dies sei eben der Preis, den der Verein zahlen müsse. »Wenn man sich vehement gegen diese Art von anderen Nutzern gewehrt hätte, dann wäre es wahrscheinlich irgendwann ganz aus gewesen. Wir besitzen die Halle halt nicht und müssen uns deswegen gut stellen mit der Spinnerei.«

Ist eine Bereicherung für die Allgemeinheit dem Profitinteresse eines Privateigentümers zum Opfer gefallen? Bertram Schultze würde das energisch abstreiten. Als Vermieter erzielt er praktisch keine Überschüsse, sagt er. Alles, was die Spinnerei einnehme, gehe als Investition zurück in das Gelände, sagt er. Für die MIB AG lohne sich die Spinnerei trotzdem. Man habe eine international erfolgreiche Marke mit enormer Ausstrahlung, eine riesige Immobilie, die sich zur Not auch beleihen lasse – und, wer weiß, vielleicht lässt sich das Gelände irgendwann doch hochprofitabel vermarkten.

Der letzte Baustein: Die Halle 7

Nachdem die Halle 14 geschafft ist, bleibt aus Sicht des Vermieters nur noch ein Sorgenkind übrig: die Halle 7, am hinteren Ende des Geländes. Seit 2004 nutzt dort Jim Whiting eine ganze Etage. Der Künstler veranstaltet in seinem Maschinenpark die legendären Bimbotown-Partys, mit Sofas, die Gäste verschlingen, umherfahrenden Wohnzimmermöbeln und freakiger Bühnenshow.

Das Gebäude selbst ist das jüngste unter den Produktionshallen, 1907 fertiggestellt, ein früher Stahlbeton-Skelett-Bau. Durch Dach und Wände eindringende Feuchtigkeit hat über die Jahre hinweg aber Schäden angerichtet. Auch Bandschutz und Gebäudetechnik entsprechen nicht mehr den aktuellen Vorschriften. Whiting kann seine Partys am Ende nur noch mit Sondergenehmigungen veranstalten.

Die nötige Sanierung und Modernisierung habe sich nicht mit den gängigen Nutzungsmodellen finanzieren lassen, sagt Schultze. »Unsere normale Gebäudeverwertung, einen Mittelgang rein und dann links und rechts Ateliers, das hätte von den Kosten nicht funktioniert. Da hätten wir kein Atelier für 3,50 Euro pro Quadratmeter oder weniger anbieten können.«

Stattdessen hat sich der Immobilienmanager überlegt, die Halle 7 könnte nach dem Vorbild der Halle 14 kulturelle Gemeinbedarfseinrichtung werden. Die passende Nutzung dafür hat er auch schon vor Augen: Das Leipziger Tanztheater und das Lofft, die beide schon seit Jahren nach einem neuen Domizil suchen, könnten einziehen. »Auf das Theaterhaus waren wir scharf. Ich wollte unserem Profil der bildenden Kunst noch einen starken Partner an die Seite stellen, im Bereich darstellende und performative Kunst.«

Dafür aber muss das Bimbotown ausziehen. 2016 findet die letzte Party statt, Whiting empfindet die Kündigung wie einen Rauswurf, auch wenn Stadt und Spinnerei anbieten, ihm bei der Suche nach einem neuen Domizil zu helfen. Auf ein weiteres Interim aber hat der Mittsechziger keine Lust mehr.

Schultze spricht mit dem damaligen Kulturbürgermeister: »Ich habe dann zum Michael Faber gesagt: Lass uns das Theater in der Halle 7 machen. Und weil wir auch daraus eine kulturelle Gemeinbedarfseinrichtung machen wollten, um das zu finanzieren, habe ich gesagt: Nimm doch das ganze Gebäude.«

Die Stadt lässt sich von der Idee begeistern und glaubt, damit auch gleich noch ein zweites langjähriges Problem lösen zu können: Das Naturkundemuseum soll einziehen, denn dessen bisheriges Domizil in der Nähe der Haltestelle Goerdelerring ist marode.Im Stadtrat wird eilig ein Beschluss zum Umzug gefasst. »Die Zeit drängte«, erinnert sich die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Krefft heute. Die Antragsfristen für Fördermittel aus dem Programm Stadtumbau laufen aus. Die Chancen stehen aber gut, denn bislang beantragen die Kommunen in Sachsen zu wenig Geld, so dass Mittel übrig geblieben sind. Stadtrat und Verwaltung gehen auf Risiko. Sie unterschreiben die Vereinbarung mit der Spinnerei, noch bevor Bund und Land ihre Förderzusagen gegeben haben. 11,75 Millionen Euro sind für alle Arbeiten veranschlagt; 1,7 Millionen davon soll die Spinnerei selbst tragen, den Rest teilen sich Bund, Sachsen und Leipzig zu je einem Drittel.

[caption id="attachment_81917" align="aligncenter" width="600"] Kein Naturkundemuseum, aber ein Theater ist da: Halle 7[/caption]

Rund zwei Jahre später zieht die Stadt dann überraschend die Reißleine für den Umzug des Naturkundemuseums. Statt 12 Millionen hätte das Vorhaben 37,5 Millionen Euro gekostet. Grund dafür ist das Raumnutzungskonzept. Um die Ausstellungsstücke zur Geltung zu bringen und die nötige Haustechnik einbauen zu können, wären an einigen Stellen Durchbrüche durch die Geschossdecken nötig geworden. Die aber hätten die Statik der Halle 7 verändert, was letztlich zu horrenden Folgekosten geführt hätte.

In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen gibt die Stadtverwaltung mehr oder weniger unumwunden zu, diese kritischen Punkte zur Zeit der Beschlussfassung noch gar nicht geprüft zu haben. Bertram Schultze wundert sich heute über das Raumkonzept, das seiner Meinung nach nicht zur Halle 7 passt. Es hätte die Schönheit der Gebäudearchitektur verpasst, findet Schultze. »Ich kann natürlich Wände und Decken herausnehmen, aber dann wird alles immer teurer«, fasst er zusammen.Inzwischen sind die beiden Theater eingezogen und glücklich mit ihren neuen Räumen unter dem Dach. Die zwei für das Naturkundemuseum vorgesehenen Etagen sind saniert und warten nun auf eine neue Nutzung. Aktuell ist ein Digitalzentrum im Gespräch, die Stadt nennt den Raum in der Antwort auf eine Anfrage des kreuzer »Kreativflächen für Digitalisierung und Innovation, das Innovationszentrum des Smart Infrastructure Hubs Leipzig«. Probleme mit dem Status der kulturellen Gemeinbedarfseinrichtung sieht die Verwaltung nicht. Auch hier seien die nötigen Zustimmungen der Fördermittelgeber eingeholt worden, zudem bezögen sich »die Kriterien für eine Gemeinbedarfseinrichtung nur auf die durch die Theater genutzten Flächen.«

Bertram Schultze ist mit dem neuen Konzept mehr als einverstanden, er hält es für eine Nutzung »die in unserem Areal gewachsen ist«, ein Inhalt ähnlich wie der des Spinlabs, der hier auf ein höheres Niveau gehoben werde.

Fazit

Schultze, der Immobilienentwickler, hat aus seinen Erfahrungen mit der Spinnerei über die Jahre eine große Karriere gemacht. Inzwischen betreibt er deutschlandweit vier ehemalige Industrieareale und überall spielen Kunst und Kultur als Knotenpunkte eine Rolle, die Gemeinschaft stiften zwischen den jeweiligen Stadtöffentlichkeiten und den mietenden Nutzern der Immobilien.Seit 2007 betreibt die MIB das ehemalige Firmenareal des AEG-Konzerns in Nürnberg. Auch dort hat die Aktiengesellschaft zunächst Künstler angesiedelt, allerdings in viel kleinerem Umfang. Einen Großteil der Hallen dort haben Forschungsinstitute der Universität gemietet. »Wenn ich eine solche Liegenschaft so umkrempeln will, dass die Forschungseinrichtungen einziehen wollen, dann brauche ich auch die Miete, die mir nur diese Einrichtungen zahlen und nicht die Künstler«, sagt Schultze.

Der private Kunstliebhaber Schultze, der für die Spinnerei-Reports regelmäßig Porträtfotos von den Künstlern in der Spinnerei macht, hat in Nürnberg einen anderen, aus seiner Sicht pragmatischen Ansatz gewählt. Das ehemalige Logistikareal der AEG wird in eine neue Wohngegend umgestaltet, die Künstler müssen ausziehen, was ihm weh tue, wie Schultze beteuert. Obwohl er ihnen die Ateliers von Anfang an nur als Zwischennutzung angeboten habe, helfe er nun, einen neuen Ort zu finden.

Für den Wirkbau in Chemnitz, inzwischen ebenfalls MIB-Coloured-Fields-Objekt, hat er von Anfang an auf kleine Start-ups gesetzt. Auch dort soll aber eine Kunsthalle für die Öffentlichkeit entstehen. Das größte Abenteuer hat er aktuell mit dem Kraftwerk Bille in Hamburg vor sich, dessen Bausubstanz in noch schlechterem Zustand sei als die der Spinnerei vor ihrer Sanierung. Und in dem ein Kulturverein namens »Hallo« residiert, der regelmäßige Festivals organisiert, aber auch schon deutlich gemacht hat, wohin die Reise des Areals dort nicht gehen soll: in Richtung Aufwertung und Verdrängung. Schultze setzt hier auf seine Erfahrung, auf offene Kommunikation. Die sei wichtig, »im Umgang mit den Interessen in so einer Liegenschaft. So cool hier viele Leute sind, am Ende ist jeder ein kleiner Egoist und denkt an sein Ding. Fast niemand denkt ans Große und Ganze.«

In der Spinnerei führt das muntere Durcheinander der gewachsenen Nutzungen zu Missverständnissen, über die sich der Konzeptkünstler Daniel Schörnig amüsieren kann. »Wenn man beim Rundgang die Besucher fragt, wem gehört das hier, dann glauben viele, das sei ein Projekt der Stadt Leipzig, ein öffentliches Kunstareal. Und niemand, weder Stadt noch Geschäftsführung, wollen dieses Definitionsdurcheinander wirklich aufklären, denn es hilft allen Seiten. Fiktion und Wirklichkeit überlagern sich da auf vielfältige Weise«, sagt er und lacht leise.

Stefan Stößel glaubt, was aus der Spinnerei geworden sei, entspreche nun mal dem Lauf der Dinge. »Irgendwann stand in einem Tal mal ein schöner Bauernhof. Heute führt die sechsspurige Autobahn dort vorbei. Das ist nicht schön, aber passiert.« Abgewinnen kann er dem Erfolg, dass die Immobilie »nicht den Bach runter gegangen ist, wie viele andere.« Er hofft, dass sein Vermieter sensibel bleibt für die Nutzungsmischung, damit »es in der Form weiter geht und die Leute, die das hier mal mitbegründet haben, auch in Zukunft hier bleiben können«.

Und anderswo in Leipzig? Mit der Ausnahme vom Werk 2 und der Feinkost sind die meisten kreativ umgenutzten früheren Fabriken in den Händen privatwirtschaftlicher Eigentümer. Auch im Tapetenwerk sind die Nutzer auf den guten Willen ihrer Vermieter angewiesen. Hätten diese eines Tages kein Interesse mehr an Kunst und Handwerk – danach sieht es dort zum Glück nicht aus – hätten die Mieter dagegen wenig auszurichten. Im Westwerk fand der Eigentümer allerdings, eine Konsumfiliale sei eine super Idee für seine leere Halle im Erdgeschoss. Ein klassischer Supermarkt ist der Spinnerei bislang erspart geblieben, der Computerladen Zur 48 gab nach ein paar Jahren am Gelände auf.

Abspann

Der berühmte Galerist Judy Lybke steht an einem sonnigen Sonntag im September in seiner Leipziger Dependance. Draußen strömen Menschen von Ausstellungsfläche zu Ausstellungsfläche und bleiben auch an den Eis-, Kaffee-, Bier- und Bratwurstständen stehen. Lybke freut sich über die vielen Besucher, die in Leipzig immer zahlreicher seien, als in seiner Berliner Galerie. Auch wenn letztere wichtiger für sein Geschäft sei. Dorthin kommen mehr »Spezialisten«, wie Lybke die Kunstsammler nennt. »Das fehlt uns hier manchmal so ein bisschen.« Von daher war er von den Plänen für Theater und Naturkundemuseum in der 
Halle 7 erst nicht so richtig begeistert. »Wir hatten ein bisschen Angst, dass dann ein riesen Verkehr ist, dass hier noch mehr Leute durchlaufen.« Aber da das Publikum dort jetzt meist über den Parkplatz an der Rückseite komme, sei das wieder in Ordnung. Auch die Interessen des Galeristen decken sich nicht immer mit denen des Vermieters.

Hinter ihrer hübschen Backsteinfassade und der vielen Kunst lauern jede Menge Gegensätze in der Spinnerei. Ein sehr erfolgreicher Künstler und sein Galerist stehen einer Menge prekär lebender Mieter gegenüber. Nicht jeder Gewerbemieter ist ein junges, aufstrebendes Start-up voller gut verdienender Kreativer. Wer beim Callcenter in Halle 18 arbeitet, steht eher in Tradition der Fabrikarbeiter, die hier mal ein- und ausgegangen sind. Diese Ungleichheit ist ein steter Nährboden für Neid und Lästerei im Hintergrund. Ein 
Beispiel gefällig?

Ein Gerücht macht die Runde, die Galeristen hätten 10.000 Euro ausgegeben, um Lars Eidinger als DJ für ihr Sommerfest zu buchen. Der aktuell gefeierte Schauspieler lasse sich zudem nur im besten Hotel der Stadt unterbringen. Konfrontiert man damit diejenige, die den Auftritt organisiert hat, reagiert sie entsetzt. Eidinger sei gegen Unterkunft, Verpflegung, Getränke und eine kleine Gebühr für seine Agentur gekommen. Nachprüfen lässt sich das nicht, seine Übernachtung im Integrationshotel Philippus aber schon. Die hat er auf seinem Instagram-Kanal gepostet. Ein Zimmer kostet dort zwischen 80 und 100 Euro pro Nacht, ein durchschnittlicher Preis.

Für ein wenig Unmut hat wohl auch gesorgt, als kürzlich bekannt wurde, dass Judy Lybke Gesellschafter der Baumwollspinnerei-Verwaltungsgesellschaft ist. Der Galerist besitzt seit 2012 rund 10 Prozent der Anteile. Nach der MIB ist er der größte und einzige Einzeleigentümer neben Bertram Schultze. Finanzielle Gründe habe das nicht, es gehe nur um das Stimmrecht, was die Zukunft des Geländes angeht, sagt er.

Die erfolgreiche Transformation der Spinnerei ist eben auch eine kapitalistische Geschichte, an deren Ende einige viel und viele wenig haben. Aber es hätte auch schlimmer kommen können, keiner der Gesprächspartner dieser kreuzer-Recherche ist wirklich unzufrieden damit, wie es in der früheren Fabrik heute läuft. Alle wollen bleiben, trotz des Gemeckers im Hintergrund. Und das öffentliche Fördergeld? Kaum jemand hat so von der Entwicklung profitiert wie die Stadt. Sie hat ohne viel zu tun eine internationale Attraktion bekommen, Lindenau und Plagwitz wären ohne die Impulse der Spinnerei sicher um eine Menge Kultur und Lebensqualität ärmer.

Judy Lybke fragt sich, wie man den Kosmos Spinnerei erhalten kann, auch wenn er selbst und die anderen Akteure einmal in Rente gehen. Den Besitz einfach an alle verteilen, wäre keine Lösung, meint er. »Meine Vision wäre, dass das hier mal in eine unabhängige Stiftung übergeht. Das wäre richtig.«


Kommentieren


1 Kommentar(e)

Arquus & das Regenbogenpräludium 27.06.2023 | um 11:53 Uhr

Schöner Überblick 🌈😉