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Stadtleben

»Es war eine aufregende Zeit«

Der Politiker Rüdiger Ulrich über Erziehung im Osten und sein Engagement für Familien

  »Es war eine aufregende Zeit« | Der Politiker Rüdiger Ulrich über Erziehung im Osten und sein Engagement für Familien

Rüdiger Ulrich nimmt sich Zeit. In der Geschäftsstelle der Linksfraktion hat er Getränke bereitgestellt. Draußen vor dem Fenster flattern die Fahnen von Leipzig, Sachsen und Deutschland. Fast 29 Jahre leitete Ulrich im Rathaus die Sitzungen des Jugendhilfeausschusses. Kurz vor seinem Rentenantritt macht der Politiker einen aufgeräumten Eindruck. 


kreuzer: Was macht eigentlich ein Jugendhilfeausschuss?Rüdiger Ulrich: Er ist zuständig für die Situation von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern. Er ist ihr Interessenvertreter in der Stadt. Im Vergleich zu anderen Ausschüssen hat er eine besondere Zusammensetzung. Da gibt es Vertreter der einzelnen Fraktionen, Stadträte, Verantwortliche von den freien Trägern, aber auch eine Vielzahl von beratenden Mitgliedern. Das führt dazu, dass verschiedene Interessen zusammengebracht werden müssen. Was nur gelingt, wenn man mit mit allen Parteien im Gespräch bleibt, und versucht, immer irgendwann zu einer Lösung zu kommen, die durchaus auch ein Kompromiss sein kann.

kreuzer: Sie haben den Ausschuss nach der Wende mitbegründet. Das war eine ziemlich chaotische Zeit.Ulrich: Kann man so sagen. Es war eine aufregende Zeit, würde ich sagen.

kreuzer: Inwiefern?Ulrich: Es war eine Ära in der vieles umgestaltet werden musste. Erstmalig nach der Wende wurde 1990 die 
Kommunalwahl durchgeführt. In diesem Zuge musste eine ganze Reihe von Gremien besetzt werden. Dazu kam dann das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz, das am 3. Oktober in Kraft trat. Es stellte gewisse Forderungen an die Politik. Unter anderem schrieb es fest, dass jede Kommune einen Jugendhilfeausschuss braucht. Ich war damals in der Stadtpolitik tätig und wurde gemeinsam mit Klaus Schwieger, einem Arzt und Grünenpolitiker, beauftragt, Mitglieder dafür zu finden. Innerhalb von drei Monaten haben wir viele junge Stadträte, damals hießen die noch Stadtverordnete, angesprochen. Aber auch Vertreter von freien Trägern.

kreuzer: Was war das für ein Gefühl als der Ausschuss dann zum ersten Mal tagte?Ulrich: Es war insofern ganz wichtig, weil große und wichtige Aufgaben anstanden. Da war zum Beispiel die Bildung eines Jugendamtes in der Stadt Leipzig. Bis dahin waren die Ämter dezentral in den Stadtbezirken untergebracht. Das neue Gesetz forderte aber die Bildung einer neuen Institution. Darüber hinaus mussten Einrichtungen gesichert werden. Das war damals eines unserer dringendsten Probleme. Zu DDR-Zeiten hatten wir hundert Freizeitstätten. Nach der Wende waren es noch ganze dreizehn. Von 10.000 Plätzen gingen bis auf 1.600 alle verloren. Die meisten durch Verkäufe von Einrichtungen oder Restitutionsansprüche.

kreuzer: Was veränderte sich damals noch?Ulrich: Es mussten auch neue Strukturen geschaffen werden. Sprich: Freie Träger mit Angeboten für junge Menschen mussten sich bilden. Auch die gesamte Heimstruktur musste umgestellt werden. Es gab damals noch große Kinderheime. Unter den veränderten Bedingungen ging man dazu über, die Jungen und Mädchen in kleinere Gruppen aufzuteilen. Riesengroße Einrichtungen waren nicht mehr gefragt.

kreuzer: Wie sind Sie all diese Herausforderungen angegangen?Ulrich: Zu Beginn hatten wir im Jugendamt ein Defizit von 13 Millionen Mark. Und außerdem Probleme, passende Räumlichkeiten zu finden. Unser Etat betrug 1,2 Millionen D-Mark. Wir haben dann im Rahmen unserer Möglichkeiten versucht, Lösungen zu finden. Das bedeutete, dass wir Einrichtungen dabei unterstützt haben, sich in der Stadt zu etablieren. Wir haben unsere Mittel dafür eingesetzt, die Arbeit der freien Träger anzuschieben.

kreuzer: Fehlendes Geld ist nach wie vor ein Problem in der Sozialpolitik. Welche Eigenschaften braucht man, wenn man für jeden Haushalt um ausreichende Finanzierung kämpfen muss?Ulrich: Vor allem Durchsetzungsvermögen. Man muss in der Lage sein, sich Verbündete zu suchen, also eine Lobby zu schaffen für die Kinder und Jugendlichen. Das ist, glaube ich, ganz wichtig, weil man das allein nicht schaffen kann. Ich brauche Ansprechpartner von anderen Fraktionen, von den freien Trägern, die meine Arbeit unterstützen. Gerade wenn es um Geld ging, gab es in der Vergangenheit vor den entscheidenden Stadtratssitzungen immer wieder großangelegte Demonstrationen. Da existiert ein großer Verbund von Aktiven in Leipzig, welcher unsere Arbeit unterstützt. Und letztendlich mit dafür sorgt, dass Herausforderungen bewältigt werden.

kreuzer: Was ist das Schöne an der Arbeit im Jugendhilfeausschuss?Ulrich: Besonders schön war es immer dann, wenn man mit seinen Anliegen Erfolg hatte. Ich glaube, dass es uns sehr gut gelungen ist, in Leipzig bestimmte Strukturen für junge Menschen zu schaffen. Das Theatrium, die Kulturwerkstatt Kaos oder der Anker – das sind nur einige der Projekte, die bis heute gute Arbeit leisten.

kreuzer: Lassen Sie uns zu Ihrer persönlichen Geschichte kommen. Sie waren Lehrer in der DDR, später Schulleiter. Wie kamen Sie zur Politik?Ulrich: Das war zur Kommunalwahl 1990. Da wurde mir der Vorschlag unterbreitet, dass ich doch kandidieren könne. Mein Wahlkreis war Leipzig-Grünau, also dasselbe Gebiet, in dem ich auch Lehrer und Schulleiter war. Dass ich dort viele Kinder und Eltern kannte, hat mir sicher dabei geholfen, ins Stadtparlament zu kommen. Das geht jetzt vielleicht ein bisschen weg vom Thema. Aber damals wurde den Schulleitern, zumindest in Sachsen, der Vorwurf gemacht, dass sie zu staatsnah gewesen seien. Ich befand mich dadurch in einer seltsamen Situation: War ich zu staatsnah, wäre ich nicht mehr derjenige, der Kinder erziehen kann. Auf der anderen Seite sprach man mich an, ob ich nicht bereit wäre, in der Jugendarbeit tätig zu werden und den Jugendhilfeausschuss mit aufzubauen.

kreuzer: Wie haben Sie auf diese Situation reagiert?Ulrich: Ich war schon verärgert, wie das abgelaufen ist. Insofern, als dass ich am Ende der DDR zweimal die Vertrauensfrage gegenüber meinem damaligen Kollegium gestellt habe, auch vor den Klassen übrigens. Beide Male habe ich gewonnen. Beim zweiten Mal fast mit überwältigender Mehrheit. Das heißt, ich habe mich der Problematik gestellt, und wurde eigentlich auch von den Eltern, den Lehrern und der Mehrheit der Schüler anerkannt. Trotzdem ging man dann im Freistaat den Weg, die Schulleiter zu entlassen. Das war etwa die Zeit, in der ich dann in die Politik gewechselt bin.

kreuzer: Als Schulleiter in Grünau waren Sie auch SED-Mitglied. Zu den Kommunalwahlen traten Sie für die PDS an. Wie reagierten die anderen Parteien auf ihre politische Vergangenheit?Ulrich: Ich hatte bei der Wahl des Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden des Jugendhilfeausschusses natürlich ein schlechteres Ergebnis als Klaus Schwieger (erster Vorsitzender, d. Red.). Der hatte, glaube ich, nur eine Enthaltung, ansonsten zehn Stimmen dafür. Ich bekam fünf Stimmen und sechs Enthaltungen. Dann hatten wir jedoch gleich im ersten Jahr so viel zu tun, dass man bei der Arbeit einfach zusammenrücken musste. Dabei lernten wir uns kennen. Als Herr Schwieger und ich dann die Positionen wechselten gab es eine erneute Wahl, bei der ich wesentlich erfolgreicher abschnitt. Ich kann verstehen, dass man sich zunächst mal kennenlernen musste. Und auch, dass da einige Leute kritisch waren, die erst meine Arbeit abwarten wollten, ehe Sie mir ihr Vertrauen schenkten.

kreuzer: Wenn wir noch mal zur Wende kommen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?Ulrich: Erst mal doch recht zwiespältig. Ich war Lehrer, später Schulleiter und insofern natürlich auch Interessenvertreter der Schulpolitik, die durch die SED gemacht wurde. Gleichzeitig habe ich verstanden, dass viele Menschen raus wollten aus der DDR. Sie hatten dort negative Erlebnisse gemacht und wurden zum Teil verfolgt. Ich war ein kritischer Mensch und habe nicht alles befürwortet, was uns vorgegeben wurde. Dennoch war es nicht mein Ziel, die DDR oder den Sozialismus abzuschaffen, sondern Veränderungen 
herbeizuführen.

kreuzer: Wie sind Sie dann damit umgegangen, dass genau das passierte, was Sie nicht wollten?Ulrich: Ich sah die Möglichkeit für mich, weiter politisch aktiv zu sein. Aber auch die Verpflichtung, gewisse Dinge, die in der DDR gut gewesen waren, zu erhalten. Dafür zu kämpfen, dass sie nicht verschwinden.

kreuzer: Wenn Sie auf Ihre eigene Sozialisation schauen, können Sie da Unterschiede feststellen in der 
Erziehung und auch der Bildung im Osten und im Westen?Ulrich: Na ja. Zu Ostzeiten war Vieles vorgegeben. Und jeder hatte sich irgendwie da hineinzufinden. Das hat sich jetzt verändert. Inzwischen kann ich mich frei entscheiden, in welche Richtung ich mich entwickle. Wofür ich mich engagiere. Was ich lernen will und so weiter. In der DDR hatte man oft mehr Sicherheit durch feste Vorgaben. Eine Lehrstelle beziehungsweise ein Arbeitsplatz waren garantiert. Ansonsten muss ich sagen, dass ich das Schulsystem im Osten mit der Verbindung zur Praxis und dem längeren gemeinsamen Lernen in seiner Organisation nicht schlecht fand. Die inhaltlichen Richtlinien waren natürlich sehr starr.

kreuzer: Haben sich diese Vorgaben auch auf die Erziehung in den Familien ausgewirkt?Ulrich: Ich denke, das war schon zu DDR-Zeiten sehr unterschiedlich. Natürlich spielten die Weisungen des 
Staates eine Rolle in der privaten Erziehung. Doch inwiefern sie umgesetzt wurden, ist eine ganz andere Frage. Immerhin gab es eine Bewegung gegen die DDR. Also gab es bei manchen auch in der Erziehung sicherlich andere Vorstellungen als die von der Regierung vorgegebenen.

kreuzer: Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR war eines der drängenden Themen der Rechts-
radikalismus. Hat Sie das auch in Ihrer Arbeit beschäftigt?Ulrich: Das war ein Riesenproblem. In Leipzig gab es zum Beispiel das Kirschberghaus. Ein Freizeitzentrum, dass durch eine rechtsextreme Gruppe besetzt war. Wir hatten große Schwierigkeiten, die da wieder rauszukriegen. Der Träger hatte damals das Verständnis, dass man auch diesen jungen Menschen Räume 
für ihre Entwicklung geben müsste. Das funktionierte bloß nicht. Stattdessen gab es Demonstrationen und eine immer unzufriedenere Bevölkerung. In der Folge mussten wir den Club erst mal schließen. Später wurde er unter einem anderen Träger wiedereröffnet. Als Reaktion auf diesen Fall haben wir dann eine Menge 
Instrumentarien zur Eindämmung politisch motivierter Jugendgewalt entwickelt. Es wurden ein Referat gegen Extremismus gegründet und verschiedene Programme aufgelegt, wie die Aktion »Courage zeigen« oder der lokale Aktionsplan »Leipzig Ort der Vielfalt«.

kreuzer: Würden Sie sagen, dass das Problem in Leipzig in der Zwischenzeit abgenommen hat?Ulrich: Also die Situation im Kirschberghaus haben wir gelöst. Allerdings gibt es Rechtsextremismus natürlich auch in Leipzig. Aber es gibt keine Einrichtung, wo rechtsextreme Jugendliche das Sagen haben. Wir haben immer mal wieder die eine oder andere Situation, mit der wir umgehen müssen. Aber dafür dann eben auch die entsprechenden Mittel, mit denen wir dagegen vorgehen können.

kreuzer: Kommen wir zu einem anderen Thema. Nämlich die Außendarstellung der Stadt als besonders familienfreundlich. Wie weit ist Leipzig da?Ulrich: Es gibt verschiedene Ansätze, um den Status als eine Stadt für Eltern und ihren Nachwuchs weiter zu entwickeln. Aber wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen.

kreuzer: Wo sind derzeit noch Baustellen?Ulrich: Natürlich bei den Kitas. Aber auch in der Beteiligung von Kindern und Heranwachsenden kann mehr getan werden. So gelingt es uns nach wie vor nicht richtig, die jungen Menschen an dem Prozess der Jugendhilfeplanung zu beteiligen. Dasselbe gilt für die Schulen, in denen die Beteiligungsmöglichkeiten ebenfalls vielfältiger sein könnten. Eine wichtige Frage ist meiner Meinung nach der soziale Status von Familien. Wir haben einen hohen Anteil von alleinerziehenden Müttern, die unter komplizierten Bedingungen leben. Für viele von ihnen ist Armut ein großes Problem. Es muss natürlich das Ziel der Stadt sein, diese 
Menschen soweit in die Lage zu versetzen, dass sie nicht mehr von Hartz 4 leben müssen. Und aus der Armutsspirale herauskommen. Dazu müssen die entsprechenden Lebensbedingungen geschaffen werden. Wenn jedes vierte bis fünfte Kind in Armut lebt, haben wir ein Problem. Das sind Dinge, wo unbedingt etwas getan werden muss. Das kann allerdings nicht die Stadt allein. Da sind auch Landes- und Bundespolitik in der Verantwortung, entsprechende Gesetzesmöglichkeiten zu schaffen.

kreuzer: Seit Jahrzehnten ist die Kitafrage ein Dauerbrenner in der Politik. Wieso?Ulrich: Da muss ich ein bisschen ausholen. Anfang der neunziger Jahre ging die Zahl der Kinder extrem zurück. Also wurden Einrichtungen geschlossen. Nach 1995 stiegen die Zahlen jedoch wieder. Plötzlich ging es darum, die vorhandenen Kitas zu erhalten und neue Plätze zu schaffen. Wobei ich schon sagen muss, dass man die erste Zeit verschlafen hat. Da wurden Einrichtungen geschlossen, als man schon wusste, dass der Bedarf wieder zunehmen würde. Dem Defizit an Plätzen, das damals entstanden ist, laufen wir heute noch hinterher. Aber die drastische Entwicklung der Einwohner Leipzigs hat niemand so vorausgesehen. Das ist hinzugekommen. Mit der Folge, dass wir jetzt doch in ziemlichen Größenordnungen neue Einrichtungen bauen, beziehungsweise die vorhandenen Tagesstätten sanieren müssen. Insgesamt sind es achtzig Gebäude und Maßnahmen, die im Entstehen sind, beziehungsweise schon entstanden sind.

kreuzer: Können Sie sich vorstellen, dass es in Leipzig irgendwann genug Kitaplätze gibt?Ulrich: (lacht) Ich glaube daran. Ich gehe davon aus, dass im nächsten Jahr zumindest zum Schuljahreswechsel genügend Plätze zu Verfügung stehen werden. Eine Reservekapazität haben wir damit aber noch nicht. Das heißt, der Bau und die Schaffung neuer Plätze muss weitergehen. Auch deshalb, weil wir nach wie vor eine wachsende Bevölkerung sind.

kreuzer: Wenn Sie das Leipzig der Neunzigerjahre mit dem Leipzig von heute vergleichen. Was hat sich da 
für Familien verändert?Ulrich: Zuerst einmal ist die Arbeitslosigkeit stark gesunken. Außerdem ist Leipzig schöner geworden, viel schöner. Wenn man die Baustruktur von damals mit der von heute vergleicht, dann hat sich da viel entwickelt. Das sind natürlich Veränderungen, die sich auch für Familien positiv ausgewirkt haben. Gleichzeitig müssen wir bei der Sanierung von Kindertagesstätten und Freizeittreffs noch weiter vorankommen. Bei der einen 
oder anderen Einrichtung ist es gelungen, die notwendigen Arbeiten durchzuführen. Aber es gibt immer noch Orte, an denen weiterhin Renovierungsbedarf besteht.

kreuzer: Den Vorsitz im Jugendhilfeausschuss haben Sie bereits abgegeben. 2020 gehen Sie auch als Geschäftsführer der Linksfraktion in Rente. Wars das dann mit der Politik?Ulrich: Nein. Natürlich bleibe ich weiterhin Parteimitglied. Und an der einen oder anderen Stelle, also in meinem Ortsverband zum Beispiel, werde ich sicherlich noch aktiv sein. Auch die Arbeit bei freien Trägern oder für Stiftungen kann ich mir vorstellen. Rente heißt für mich nicht, dass man zu Hause auf der Couch liegt und die Beine nach oben streckt. Dann rostet man ja ein. Also man muss was tun. Aktiv bleiben. Ich werde stärker meinen Hobbys nachgehen. Mit den Enkeln sicherlich mehr Zeit verbringen. Auch die eine oder andere Reise ist geplant. Aber daneben möchte ich mich weiter gesellschaftlich engagieren.


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