Seit Jahren steigt die Zahl der Demonstrationen und Kundgebungen in Leipzig deutlich. Was sagt das über den Zustand der Demokratie? Protestforscher Dieter Rucht hat dazu ein eindeutiges Urteil.
»Jeder große Fortschritt der Menschheit beginnt mit dem Zweifel und zeigt sich in einem Protest gegen überlieferten Dogmatismus«, schrieb bereits im Jahr 1875 der deutsche Volkswirtschaftler Gustav von Schmoller. Folgt man dieser Ansicht, zeigt sich Leipzig derzeit besonders fortschrittlich: Die Zahl der Demonstrationen und Proteste in der Stadt hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Das belegen Zahlen, die das Ordnungsamt auf kreuzer-Anfrage zur Verfügung gestellt hat.
Die Zunahme der Proteste zeigt sich deutlich über einen längeren Zeitraum. Registrierte das Leipziger Ordnungsamt im Jahr 2008 noch lediglich 264 Versammlungen, so waren es 2018 insgesamt 585. Das entspricht einer Steigerung von über 120 Prozent in zehn Jahren.
Rekordjahr 2015: 1200 Demonstrationen und Kundgebungen in 12 Monaten
Seit 2002 vollzog sich die Zunahme recht geradlinig. Von damals 129 registrierten Versammlungen kletterte die Zahl mit kleineren Schwankungen bis 2014 kontinuierlich auf 448. Dann folgen mit den Jahren 2015 und 2016 zwei Ausreißer. 2015 versammelten sich die Leipziger demnach bei 1.200 verschiedenen Demonstrationen, Kundgebungen oder anderen Protesten. Und auch 2016 lag die registrierte die Stadt noch weit über 900 Versammlungen. In den zwei Jahren danach sank die Zahl zwar wieder deutlich, liegt aber weiter auf hohem Niveau.
Die Schwäche der Statistik ist, dass sie keine weiteren Informationen zur Interpretation bietet. Das Ordnungsamt wertet zum Beispiel nicht aus, wie viele Menschen an den registrierten Versammlungen teilgenommen haben. So könnte es theoretisch sein, dass zwar deutlich mehr Versammlungen stattfanden, aber viel weniger Menschen teilnahmen als früher. Auch wo oder zu welchen Themen die Versammlungen abgehalten wurden, kann oder will das Amt nicht sagen.
Auf Nachfrage erklärt das Ordnungsamt lediglich, dass »im Hinblick auf eine hinreichende Öffentlichkeitswirksamkeit natürlich eine Vielzahl von angezeigten Versammlungen schwerpunktmäßig die Innenstadt Leipzigs oder direkt die dortigen Plätze« betrifft. Die thematische Bandbreite sei sehr groß. Das Amt nennt beispielhaft den Türkei-Syrien-Konflikt, Abschiebungen oder verkehrspolitische Themen.
Themenvielfalt: Demokratie, Umwelt, Soziales und Verkehr
Anhaltspunkte zu weiteren akuten Themen bietet ein Blick in die Medieninformationen der Stadt. Diese beziehen sich allerdings ausschließlich auf Demonstrationen, bei denen es zu Verkehrseinschränkungen kommt. Schaut man nur auf diese Mitteilungen, ergibt sich für 2019 – ohne Anspruch auf Vollständigkeit - folgendes Bild: 22 Demos fanden gegen Rechtsextremismus beziehungsweise für Demokratie und Menschenrechte statt; jeweils rund zehn Versammlungen bezogen sich auf die Themenbereiche Klima/Umwelt/Tierrechte, Wohnen/Arbeit/Soziales sowie (Rad-)Verkehr. Hinzukommen einige Ankündigungen unter ferner liefen, etwa die Poggenburg-Auftritte in Connewitz oder die vom Amt genannten Proteste gegen den Angriff der Türkei in Nordsyrien.
Mit Blick auf das Rekordjahr 2015 liegen die Hintergründe der Versammlungsfülle indes auf der Hand. So starteten im Januar 2015 die Proteste der rechtsextremen Legida-Bewegung sowie der dazugehörigen Gegendemonstrationen. Da diese Kundgebungen mehrere Monate lang wöchentlich stattfanden, dürften diese Versammlungen die Zahlen in Leipzig vor drei Jahren in die Höhe getrieben haben.
So interpretiert auch Dieter Rucht, emeritierter Professor am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, die wachsende Zahl von Protesten in der Stadt. »Die Konfrontation von Links und Rechts dürfte eine wichtige Rolle spielen«, sagt der Soziologe im Gespräch mit dem kreuzer. Um genauere Aussagen zu treffen, müsste man die Protestthemen in Leipzig aber genauer analysieren.
Rucht gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Protestforschung. Seit den 1980er-Jahren erforscht er, warum Menschen soziale Bewegungen bilden und demonstrieren. Rucht kann daher empirisch belegen, dass Leipzig bundesweit keine Ausnahme bildet. Nach seinen Erhebungen, die ebenfalls auf behördlichen Angaben beruhen, finden auch in anderen deutschen Metropolen deutlich mehr Proteste statt als früher. In München und Frankfurt habe sich die Zahl von angemeldeten Demonstrationen und Kundgebungen von 2008 bis 2018 ungefähr verdoppelt, in Köln sogar verdreifacht. Berlin verzeichnet ebenfalls beinahe eine Verdopplung von rund 2.300 Protesten 2008 auf etwa 4.400 im Jahr 2018.
Wertschätzung für Demokratie
Doch sind diese Proteste Zeichen für eine größere Krise oder sprechen sie im Gegenteil gerade für das Funktionieren der Demokratie? Protestforscher Rucht vertritt letztere Ansicht: »Eine vitale Demokratie verlangt, dass sich Bürger kräftig einmischen.« Für diese Position hat der Wissenschaftler weitere Argumente. So zeigten Untersuchten, dass sich diejenigen, die auf der Straße demonstrieren auch überdurchschnittlich stark an Wahlen beteiligen. »Es werden verschiedene Formen der demokratischen Teilhabe genutzt. Das ist Ausweis bürgerschaftlichen Bewusstseins und der Artikulierung von Interessen«, erklärt Rucht.
Ein wichtiger Aspekt dürfte außerdem die Motivation hinter den Protesten sein. Und hier zeigen Befragungen von verschiedenen Protestierenden, beispielsweise auch bei Pegida in Dresden, dass eine große Mehrzahl der Teilnehmer die Hoffnung hat, etwas mit ihrem Protest ändern zu können. »Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Demoteilnehmer meinen, dass ihr Protest keine Wirkung haben wird«, erklärt Rucht. Dies könne als Wertschätzung für die Demokratie verstanden werden.