Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal widmet sich Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz einem antiken Text in neuer Übersetzung.
Der berühmteste aller antiken Hirtenromane, »Daphnis und Chloe«, schildert das Heranwachsen der beiden gleichnamigen Findelkinder auf der Insel Lesbos und das Erwachen ihrer Liebe zueinander. »Denn noch keiner ist dem Eros völlig entronnen oder wird ihm je entrinnen, solange es Schönheit gibt und Augen, die sehen.« Longos, so der überlieferte Name des Autors, von dem allerdings kaum etwas bekannt ist, ist selbst in einer Art Liebe entbrannt, als er beginnt, die Geschichte von Daphnis und Chloe niederzuschreiben. Er hat ein Gemälde erblickt, so erklärt er in einem kurzen Vorwort, dessen Inhalt so schön war, dass er ihn in Worte fassen will, die seiner Schönheit in nichts nachstehen.
Der ungebrochene Reiz des Textes beweist, dass dieses Vorhaben gelungen ist. Die Geschichte selbst strahlt Schönheit aus; weit entfernt ist die allumfassende Ästhetik von dem Gebrechen heutiger Liebesromane, dem Kitsch.
Unter der Aufsicht von Göttern, Tieren und der Natur selbst lernen die Kinder die Liebe kennen. Mitunter amüsant zu beobachten, wie sie sich nächtelang am Liebeskummer quälen und nicht dahinter kommen, welche Krankheit sie befallen hat. Die Beschreibung der Insellandschaft und die feine Charakterisierung der den Göttern huldigenden Landbewohner bietet trotz der uns so fern scheinenden Lebensrealität die Stärke des ewig gültigen Gleichnisses: Dieses Buch lehrt uns die Liebe – auch heute noch. Und zwar nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau. Auch die Liebe der Eltern zu ihren eigenen und adoptierten Kindern, die Liebe der Kinder zur Natur und den Tieren, die Liebe der Natur und der Götter zu den Menschen. Und nicht zuletzt die Liebe zum Leben selbst. Sinn stiftende Schicksalsschläge sind hier noch der Ausdruck einer Lebensaufgabe, die es zu bewältigen gilt.
Der vielfach ausgezeichnete Übersetzter Kurt Steinmann hat auch diesen antiken Text so übertragen, dass die der Geschichte innewohnende Leichtigkeit nicht verloren gegangen ist, ohne deren literarische Komplexität zu mindern. Und so hat Manesse genau die Ausgabe des antiken Stoffes geliefert, die getrost als Basis dienen kann für eine Empfehlung Goethes, die auf dem Umschlag prangt: »Man tut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen.«