Seit 2016 initiiert der Landesfrauenrat Sachsen Gedenktafeln für »Frauenorte Sachsen«. Die Tafeln sollen nicht nur an verlorene Geschichten erinnern, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung »mit Geschlechterrollen und klischeehaften Zuschreibungen« hervorrufen.
Kurt Biedenkopf, der gerade seinen 90. Geburtstag feierte, interpretierte als sächsisches Regierungsoberhaupt in den neunziger Jahren die hohe Arbeitslosigkeit als Folge des »übertriebenen Erwerbssinns der Ostfrauen«. Er vergaß damals offensichtlich, dass er über ein Land herrschte, indem nicht nur zu DDR-Zeiten weibliche Erwerbstätigkeit als normal galt, sondern weit davor sächsische Frauen – sowohl bürgerliche als auch proletarische – das Recht auf Erwerb und gleiche Bildungschancen konsequent einforderten und vielfältige Möglichkeiten dafür schufen. Diese Geschichten werden leider sehr oft vergessen oder – schlimmer noch – überhaupt nicht gekannt.
Ein neuer Erinnerungsort
Seit 2016 initiiert der Landesfrauenrat Sachsen Gedenktafeln für »Frauenorte Sachsen«. Die Tafeln sollen nicht nur an verlorene Geschichten erinnern, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung »mit Geschlechterrollen und klischeehaften Zuschreibungen« im Jetzt hervorrufen.
In Leipzig erinnern bisher Tafeln an Angelika Hartmann und Käthe Windscheid. Hartmann begründete den Leipziger Fröbelverein und ein Seminar für Lehrerinnen und Erzieherinnen in der Chopinstraße 13. Die promovierte Philologin Windscheid engagierte sich für Abiturkurse junger Frauen. Die Tafel befindet sich am Dorotheenplatz 2. Seit der letzten Woche erinnert eine dritte Tafel in der Goldschmidtstraße 20 am Eingang der Henriette-Goldschmidt-Schule – Berufliches Schulzentrum der Stadt Leipzig – an Henriette Goldschmidt.
1911 begann hier – damals noch Königstraße – die Geschichte der Hochschule für Frauen, die Henriette Goldschmidt mit Unterstützung des Musikverlegers Henri Hinrichsen und seiner Frau Martha sowie einem großen Förderverein initiierte.
Henriette Goldschmidt, geboren als Henriette Benas 1825 in Krotoszyn, Posen, kam 1858 nach Leipzig, weil ihr Mann Abraham Meyer Goldschmidt die Stelle des Rabiners der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig antrat. Hier traf sie auf Louise Otto-Peters, die unter anderem 1848 in ihrer Schrift »Adresse an den hochverehrten Minister Oberländer« eindringlich mahnte: »Meine Herren! Im Namen der Moralität, im Namen des Vaterlandes, im Namen der Humanität fordere ich Sie auf: Vergessen Sie bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht.«
1865 gründeten sie gemeinsam mit Auguste Schmidt den Leipziger Frauenbildungsverein. In dem Jahr organisierten sie ebenfalls die erste deutsche Frauenkonferenz und den Allgemeinen Deutschen Frauenverein – das Organ der bürgerlichen Frauenbewegung.
Goldschmidt gründete 1871 den Verein für Familien- und Volkserziehung. Ein Jahr später eröffneten in der Querstraße 20 ein Volkskindergarten und ein Seminar für Kindergärtnerinnen. 1878 folgte das Lyzeum als Fortbildungs- und Berufsschule für Frauen, in dem wissenschaftliche Kurse ebenso zur Auswahl standen wie Lehrkurse in Modellieren und Zeichnen sowie ein Vortragsprogramm. Sie waren ganz der bürgerlichen Vorstellung verbunden, dass Frauen aktiv im Erziehungswesen agieren.
Keine Konkurrenz zur Universität
Zur Eröffnungsfeier der Hochschule für Frauen am 29. Oktober 1911 betonte der damalige Rektor der Universität Karl Lamprecht, dass die Hochschule eine notwendige Ergänzung zur Universität darstelle. Lehrveranstaltungen fanden in den Instituten für Erziehungskunde und Sozialwissenschaften, ab 1914 auch Naturwissenschaften und ab 1916 in der Abteilung für Krankenpflege statt. Für die Vorlesungen schrieben sich fast 900 Zuhörerinnen ein. Ausgebildet wurden Lehrerinnen für pädagogische Fächer, Frauen für soziale Berufsarbeit an Wohlfahrtseinrichtungen, Assistentinnen für medizinische und naturwissenschaftliche Institute, Krankenschwestern sowie Fürsorgerinnen.
Neben dem theoretischen und praktischen Unterricht gab es ein Erziehungsmuseum. Seit 1916 wurden die Prüfungen staatlich anerkannt. Seit den 1920er Jahren durften auch Männer an der Schule lernen.
Halböffentliche Erinnerungen
Im Treppenhaus des Schulgebäudes erinnern heute Tafeln an ehemalige Schülerinnen und eine Bronzetafel an Hedwig Burgheim. Sie besuchte von 1911 bis 1915 die Schule und leitete bis zu ihrer Entlassung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme das Fröbelseminar in Gießen. Im Auftrag der Israelitischen Religionsgemeinde organisierte sie ab 1936 eine jüdische Haushalts- und Kindergärtnerinnenschule in Leipzig. Nach der Ablehnung eines Einreisevisums für die USA unterrichtete sie bis zur Schulschließung 1942 an der Carlebach-Schule, übernahm danach die Leitung des jüdischen Altersheims in der Nordstraße. Im Februar 1943 wurde Burgheim verhaftet, in das KZ Auschwitz deportiert und dort am 27. Februar 1943 ermordet.
Wenige Stufen weiter ist die Bronzeplakette von Hinrichsen im Treppenhaus zu sehen. Sie wurde 2005 als eine Nachbildung des Originals von der Gründung 1911 wieder an gebracht und ist mit dem Spruch versehen »Dem edlen Streben deutscher Frauen«. Laut Schulchronik wurde sie 1937 durch ein Bild mit dem Spruch »Du bist nichts, dein Volk ist alles« ausgetauscht.
Zuvor verschwand schon die Büste von Henriette Goldschmidt mit dem Fröbelspruch »Es ist das Charakteristische der Zeit das weibliche Geschlecht seiner instinktiven passiven Tätigkeit zu entheben und es von seinem Wesen aus und um seiner Menschheit pflegenden Bestimmung willen zu ganz gleicher Höhe wie das männliche Geschlecht zu erheben« aus dem Treppenhaus. Die damalige Direktorin wollte alle Spuren jüdischer Geschichte eliminieren wie auch Hinrichsen die Schule nicht mehr betreten durfte.
Henriette-Goldschmidt-Haus
Ebenfalls ganz neu sind die gelben Buchstaben »Henriette-Goldschmidt-Haus über der Eingangstür eines Neubaus in der Friedrich-Ebert-Straße 16. kreuzer-Architekturkritiker Marcus Korzer beschrieb in der Februar-Ausgabe von »Aufbau Ost« den Neubau mit den Worten: »Die Fassade wirkt wie eine Karikatur des Vorgängerbaus.«
Der Vorgängerbau wurde durch Spenden 1889 von Henriette Goldschmidt erworben, um den Verein der Volkskindergärten, dem Seminar für Kindergärtnerinnen, dem Lyzeum für Damen sowie einem Schülerinnenpensionat und Seniorinnenheim eine Bleibe zu geben. Darüberhinaus gab es auch noch eine Kinderlesehalle.
Nach dem Tod ihres Mannes zog auch Goldschmidt 1889 in das Haus. Als sie starb wurde das Haus in Henriette-Goldschmidt-Haus umbenannt. 1939 wurden die Buchstaben abgeschlagen. Der Kindergarten blieb im Haus. 1990 unter Denkmalschutz gestellt, wurde es nach dubiosen Verkäufen 2000 abgerissen, um den Plänen zum Straßenausbau nicht im Wege zu stehen.
An die Geschichte des Vorgängerhauses erinnert bisher nichts – abgesehen von einem vermeintlichen historischen Eingangsbereich. Mehr Auskunft gibt dafür die Homepage, die sich die Stadt zu ihrem 1000. Jubiläum schenkte. Auf der Seite von Jugend, Familie und Soziales sollen 100 Porträts von Frauen die vielen bisher vergessenen Geschichten ans Licht holen.