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Kultur

»Zeit, zu wachen. Zu wissen«

Wencke Mühleisen: Identitätssuche zwischen Kommune und Wehrmacht

  »Zeit, zu wachen. Zu wissen« | Wencke Mühleisen: Identitätssuche zwischen Kommune und Wehrmacht

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal schreibt Literaturredakteurin Micklitz über das autobiografische Buch der Schriftstellerin Wencke Mühleisen, die sich auf eine schmerzhafte Spurensuche begeben hat.

»Jetzt waren beide Täter tot – Muehl und mein Vater. Es gab nun nur noch mich.« So endet das autobiografische Buch der Schriftstellerin Wencke Mühleisen, die sich auf eine schmerzhafte Spurensuche begeben hat. Beim Aufräumen stößt sie auf einen verstörend rassistischen Brief ihres Vaters, der sie für seinen Faschismus um Verständnis bittet. Schließlich sei sie selbst ja auch für ihre Überzeugungen eingetreten. Er tue das auch, und werde darum nicht zur Hochzeit seiner Tochter erscheinen, die mit einem Nigerianer zusammen ist. Lange hatte Mühleisen es vermieden, sich mit der Vergangenheit des schweigsamen Vaters auseinanderzusetzen. Nun wagt sie es doch; und weil sie ihn verstehen will, beginnt sie ihre Recherche bei den Gemeinsamkeiten: »Ich wusste, dass wir ungefähr gleich alt waren (…) als wir uns in den Dienst einer umwälzenden Vision stellten.« Der Vater geht zur Wehrmacht und wird zum Kriegsverbrecher. Die Tochter zieht in die Kommune des österreichischen Aktionskünstlers Otto Muehl, um »die Menschen zu befreien und ein neues Gesellschaftsmodell zu begründen.«

Mühleisens Erinnerungen an die Anfänge in der Kommune in den siebziger Jahren und die Recherche zur Biografie ihres Vaters verweben sich zu einem Stimmungsbild zweier Gemeinschaften: Die der Muehl-Kommunarden in Europa, und die der «Deutschsprachigen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach dem ersten Weltkrieg«, die sich der Wehrmacht anschlossen. Was auf den ersten Blick einem Vergleich nicht standhält, entpuppt sich im Laufe von Mühleisens fortschreitender selbstkritischer Befragung zwar immer noch als verschieden begründete Bewegungen, die jedoch im Kern ganz ähnliche Dynamiken zu entwickeln im Stande waren. »Waren wir eine Clique politischer Utopisten (…), die den Drang verspürte, Grenzen zu überschreiten und von großen Ideologien mitgerissen zu werden?« Diese Frage hätten sich Angehörige beider Gruppen stellen können.

Mühleisens Vater lebt, wie so viele Nazis, nach dem Krieg unbehelligt weiter. Die Kommune löst sich schließlich nach der Verurteilung Muehls auf, der wegen Kindesmissbrauch im Gefängnis sitzt. »Es war verlockend, Muehl die ganze Schuld zuzuschieben. So verlockend, sich als Opfer gerieren zu können, die eigene Unschuld aufrechtzuerhalten, ein Schaf in der Herde« zu sein. Mühleisens Schlussfolgerung: »Gar nicht so unähnlich dem Umgang der Deutschen mit der Schuldfrage nach dem Krieg.«

Damit legt die Autorin nicht nur einen erhellenden Bericht aus dem innersten Kreis um Muehl vor, sondern liefert ebenso eine bedrückende Vater-Tochter-Geschichte rund um die Fragen nach Schuld, Identität und Vergebung im zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsgeneration.


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