An dieser Stelle geben wir euch wie gewohnt den Überblick, was so Filmisches in der Stadt geschieht – auch wenn es sich diesmal auf das Kino in den heimischen vier Wänden beschränken muss
Leipzigs Lichtspielhäuser sind dicht. Mindestens bis Mitte April. Ein Monat ohne Kinobesuch. Auch für uns unvorstellbar. Aber da müssen wir durch. Erfreulicherweise sind die Monate März und April traditionell die Zeit, in dem die Herbst/Winterhighlights fürs Heimkino erscheinen. »Star Wars 9«, »Le Mans«, »Die Eiskönigin 2«, »Der Leuchtturm« – da dürfte für jede Couchkartoffel was dabei sein. Solange die Kinos also geschlossen bleiben, versorgen wir euch mit unseren Empfehlungen fürs Heimkino. In dieser Woche mit nicht weniger als dem besten deutschen Film 2019...
Film der Woche: Die Gesellschaft erwartet von uns, dass wir uns anpassen. Das wird Kindern bereits früh vermittelt. Doch was ist, wenn eine aus der Reihe tanzt und sich partout nicht in dieses System fügen will, sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, kratzt, beißt und schreit? Mit neun Jahren hat Benni (Helena Zengel) schon viele Stationen hinter sich: Pflegefamilien, Wohngruppen, Sonderschulen - mittlerweile wird sie nur noch weitergereicht. Denn Benni gilt als besonders schwerer Fall. Immer wieder eckt sie an, gilt als »schwer vermittelbar«. Dabei sehnt sie sich doch eigentlich nur nach der Fürsorge ihrer Mutter. Doch die ist überfordert und hat Bennie zurückgelassen. Ein schmerzhafter Abnabelungsprozess beginnt. Mit »Systemsprenger« gelang Nora Fingscheidt ein bemerkenswertes Kinodebüt mit einer überragenden jungen Hauptdarstellerin. Die neunjährige Helena Zengel meistert die schwierige Rolle mit Bravour. »Systemsprenger« ist ein lautstarker Angriff auf die Sinne, der mitten ins Herz trifft. Dafür gab es bereits zahlreiche Preise auf vielen Festivals und bei der Premiere auf der Berlinale in diesem Jahr den silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung.
»Systemsprenger«: ab 27.3., EuroVideo
Frankreich, 1770: Auf beschwerlichen Pfaden reist die Pariser Malerin Marianne auf eine abgelegene Insel in der Bretagne. Ihr Auftrag: Sie soll die Tochter des Hauses, die ehemalige Klosterschülerin Héloïse, malen – ohne dass sie es mitbekommt. Die junge Frau soll gegen ihren Willen mit einem Italiener verheiratet werden und weigert sich, für das Hochzeitsporträt Modell zu sitzen. Für sie ist Marianne eine Gesellschaftlerin, die sie bei den Spaziergängen an der schroffen Steilküste begleiten soll. Kurz zuvor hatte sich hier ihre Schwester hinab gestürzt. Héloïse ist schweigsam und entzieht sich zunächst den Blicken Mariannes. Doch allmählich entwickelt sich zwischen den Frauen eine zarte Beziehung, der aber Mariannes unausgesprochenes Geheimnis im Wege steht. Behutsam erzählt Céline Sciamma (»Tomboy«) ihre Liebesgeschichte in stillen Blicken und flüchtigen Gesten. Sorgfältig arrangiert sie ihre Tableaus, die niemals inszeniert wirken. Immer wieder zögert sie den Schnitt heraus, um die Wahrheit in einer Szene zu erfassen, fängt die Seele in der Entstehung eines Kunstwerks ein. Die hypnotische Kraft der Bilder von Kamerafrau Claire Mathon (»Der Fremde am See«) wird gestützt von zwei starken Hauptdarstellerinnen: Noémie Merlant (»Der Himmel wird warten«) als selbstbewusste Künstlerin Marianne und Adèle Haenel (»Die Blumen von gestern«), die Héloïses komplexen Charakter einfängt.
PETER HOCH
»Porträt einer jungen Frau in Flammen«: seit 6.3., Alamode
Die britische Agentin Rachel (Diane Kruger) spioniert für den israelischen Geheimdienst Mossad in Teheran. Zur Beerdigung ihres Vaters kehrt sie nach Europa zurück und verschwindet spurlos. Ihr ehemaliger Mittelsmann Thomas Hirsch (Martin Freeman) erhält unvermittelt einen Anruf von Rachel und erfährt, dass der Mossad hinter ihr her ist. Im Verhör rekonstruiert er die Ereignisse, die der Flucht vorangingen. Wie Rachel zum Geheimdienst kam, die Monate undercover im Iran und die regelmäßigen Treffen in Leipzig. So wollen die Vorgesetzten herausfinden, wo sich Rachel aufhält. Der israelische Regisseur Yuval Adler konzentriert sich in seiner Adaption des Romans »The English Teacher« von Yiftach Reicher Atir auf den psychologischen Aspekt des Buches. Das Leben einer Spionin, das Verhältnis zwischen Spion und Mittelsmann durch die Augen des Spions ist ihm wichtiger als James Bond-Action und Waffengewalt. So gelang ihm ein konzentrierter Thriller mit einer starken Hauptdarstellerin.
»Die Agentin«: seit 6.3., Weltkino
Frau Stern hat keine Lust mehr. Alles ist nur noch mühselig für die 90-Jährige. Dabei ist sie für ihr Alter noch recht fit. Viel zu fit, wenn es nach ihr ginge. Der Arzt rät ihr mit dem Rauchen aufzuhören. Dafür sei es doch jetzt nun auch zu spät. Und überhaupt, wenn sie das KZ überlebt hat, werden sie auch die Zigaretten nicht umbringen. Also muss sie einen anderen Weg finden. Eine Waffe wäre gut, doch woher soll sie die bekommen? Vielleicht kann ihre Enkelin Elli helfen. Oder der freundliche Türke aus dem Kiez, der ihr immer die Haare schneidet und sie mit Gras versorgt. Mit viel tiefschwarzem Humor erzählt Anatol Schuster seine tragikomische Berlin-Ballade. Aber auch ebenso feinsinnig und ohne Brachialkomik. Die Einstellungen sind lang, die Last des Lebens auf Sterns Schultern spürbar. Die 80-jährige Ahuva Sommerfeld spielt sie mit Berliner Schnauze und grimmigem Humor, aber auch viel Wärme. Es ist ihr erster und auch letzter großer Auftritt. Kurz nach den Dreharbeiten verstarb Ahuva Sommerfeld. »Frau Stern« bleibt. Die Premiere beim Max Ophüls Preis Filmfestival erlebte sie noch, die Ehrung als beste Schauspielerin beim »achtung berlin – new berlin film award« konnte Ahuva Sommerfeld jedoch nicht mehr entgegen nehmen. Mit seinem Film schuf Anatol Schuster eine Würdigung, maßgeschneidert für seine Heldin – und eine angenehme Ausnahme unter den deutschen Filmproduktionen.
»Frau Stern«: seit 12.3., good!movies
Tagsüber ist das »L‘Envol« Zuflucht für die Frauen auf der Straße im von Arbeitslosigkeit geprägten Norden Frankreichs. Zur Nacht müssen sie die Unterkunft aber wieder verlassen. Eine Tatsache, die schwer an Audrey und den anderen Mitarbeiterinnen der Einrichtung nagt – und über die sie sich mehr als ein Mal hinweg setzen. Als das »L'Envol« schließlich ganz geschlossen werden soll, werden die Frauen selbst aktiv. Inspiriert durch das Buch »Auf der Straße der Unsichtbaren« von Claire Lajeunie entwickelte Regisseur Louis-Julien Petit die Geschichten seiner Protagonistinnen und lies sie von ausgebildeten Schauspielerinnen und echten Obdachlosen verkörpern. Ein Workshop mit 150 Frauen von der Straße förderte schließlich Erstaunliches zutage. Die berührende Darstellung der Laien, die teilweise ihre eigene Biographie mit ins Spiel legen, bringt den Film zum Strahlen. In Frankreich avancierte »Der Glanz der Unsichtbaren« mit seiner warmherzigen Mischung aus Komödie und Sozialdrama zum Publikumshit.
»Der Glanz der Unsichtbaren«: ab 27.3., EuroVideo
Priester, die Kinder missbrauchen, und geistliche Würdenträger, die davon wissen und es vertuschen: Der größte Skandal der katholischen Kirche erschüttert seit Jahren die Weltöffentlichkeit. Einen realen, noch immer schwelenden Fall aus seiner französischen Heimat hat Regiestar François Ozon nun in sehenswerte Spielfilmform gebracht. Der gutsituierte Familienvater Alexandre aus Lyon wird darin zufällig mit verdrängten Wahrheiten konfrontiert und darauf aufmerksam, dass Pater Preynat, der ihn als Jungen sexuell missbrauchte, immer noch als Priester arbeitet und Kinder unterrichtet. Aufgewühlt wendet er sich an die Diözese, ein ernüchterndes Gespräch mit seinem Peiniger und das Folgeprozedere bewirken, dass er Anzeige erstattet. Ab diesem Punkt widmet sich der Film den Mitgliedern einer Selbsthilfegruppe, an denen sich Preynat früher ebenfalls vergangen hat. Gezeigt wird, wie sie ihre Kräfte bündeln, Frieden finden und mögliche neue Taten verhindern wollen, indem sie juristische Schritte gegen alle Verantwortlichen forcieren. Nüchtern und beinahe dokumentarisch beleuchtet Ozon zahlreiche Facetten des Themas, insbesondere, was die Psyche und das familiäre Umfeld der Opfer betrifft. Dabei wird nachvollziehbar, welche Mechanismen greifen, Erlittenes lange zu verdrängen – und ebenso, welche Mechanismen hinter geweihten Mauern einsetzen, alles unter den Altar zu kehren.
PETER HOCH
»Gelobt sei Gott«: ab 27.3., Pandora