Dämonische Wesen lugen mit dem Sonnenlicht durchs Fenster. Von seinem Schreibtisch aus hat Pfarrer Andreas Dohrn seine Peterskirche mit den grotesken Wasserspeiern gut im Blick. Das Pfarrhaus liegt in direkter Nachbarschaft der Trinkmeile um Flowerpower & Co. Die für eine Christengemeinde ungewöhnliche Gegend stört Dohrn nicht, scheint ihn im Gegenteil zu inspirieren – wie er gleich zur Begrüßung erzählt, während er in sein mit politischen Postern voll plakatiertes Arbeitszimmer führt.
ANDREAS DOHRN: Beim Vorstellungsgottesdienst kamen als erste Besucher zwei Leute direkt aus dem Flowerpower rüber. Das habe ich als Zeichen verstanden.
kreuzer: Da waren Sie gleich im Kiez angekommen …DOHRN: Wir zogen im August 2013 ein. Am ersten Samstag bog ich um die Ecke und sah acht Taxen und einen Bratwurststand mit Schlange. Seitdem werte ich jeden Samstagmorgen mit dem Bratwurstmann die Nacht aus: mit Polizei, ohne Polizei; mit Schlägerei, ohne; mit Blut, ohne Blut. So bin ich gut informiert, was in der Nacht los war. Wenn du die Nacht hier verstehst, verstehst du auch den Tag hier besser. Deshalb habe ich auch zusammen mit André Streng vom Flowerpower das Konzert »50 Jahre Woodstock« in der Kirche gemacht.
kreuzer: Sie haben keine Berührungsängste?DOHRN: Nein, ich bin der Auffassung, dass wir in der Post- oder Post-Postmoderne kooperative und netzwerkartige Strukturen brauchen. Wer als Teilautist alles alleine macht, wird dem Untergang geweiht sein.
kreuzer: Vom Arbeitszimmer aus schauen Sie auf die Kirche. Wie ist es, Herr der schönsten Wasserspeier Leipzigs zu sein?DOHRN: Das ist aus religiöser Sicht spannend. In einem Reiseblog schrieb jemand über die Peterskirche: Je größer die Wasserspeier, desto größer die Angst. Das erklärt den Harry-Potter-artigen Ansatz, mit dem man 1890 die Kirche baute. Man war sich nicht ganz sicher, wie stark Voldemort ist, und hat die Dinger eher groß gebaut. Spätestens, wenn man wie ich letztes Jahr in Ostritz ein paar Stunden einen gefährlichen Rechtsterroristen an der Backe hatte, ist es gesellschaftspolitisch an der Zeit zu überlegen, wie das Böse eigentlich funktioniert und was man tun kann. Von
daher sind die Wasserspeier ganz schick.
kreuzer: Sie hatten einen Neonazi am Rockzipfel?DOHRN: Wir waren mit einer zivilgesellschaftlichen Delegation in Ostritz zu diesem Neonazi-Festival. Alles easy, Polizei war da. Nach fünf Minuten kam einer auf mich zu und sagte: »Ey, das ist demokratietechnisch schwierig: Sie dürfen zu uns, aber wir dürfen sicher nicht auf Ihr Gelände.« Ich sagte: »Als sehr guter Schachspieler reizt mich das. Das strategische Macht-Spiel nehme ich an.« Ich wollte den Neonazi so unter Druck setzen, wie der Floorballspieler Stanislav Kanta vom MFBC Leipzig seine Gegenspieler unter Druck setzt. Er wollte noch jemanden mitbringen, nämlich Thorsten Heise.
kreuzer: Den vielfach vorbestraften militanten Neonazi?DOHRN: Genau. Ich war aber auf Heise vorbereitet. Abends, wenn ich Fußball gucke, betreibe ich exzessive Recherche. Rechtsextreme waschen ihr Geld wohl in Österreich, wie ich herausfand. Als ich Heise einen Handelsregister-Auszug von dieser Firma in die Hand drückte, war der überrascht. Die Polizei staunte auch, dass der Pfarrer den Heise schnappt und durch Ostritz läuft. Aber ich will jedes Spiel gewinnen. Meine Idee war, mit Heise ein Tauf-Trauungs-Beerdigungsgespräch entlang seiner Biografie zu führen, ich wollte erfahren, wie man den besser bekämpfen kann. Bisher wurde nämlich seine religiöse Seite unterschätzt: Heise ist konfirmiert, sein Pfarrer hat ihn als Erster angezeigt. Das wusste bis dato keiner. Seitdem kann ich das »Vaterunser« völlig anders beten, weil das Böse mir jetzt eine völlig klare Grundfigur ist.
kreuzer: Also mit Rechten reden?DOHRN: Menschenverachtende Akteure brauchen Druck und sind keine Dialogpartner. Nazis finden hohes Pressing genauso unangenehm wie Fußballmannschaften, die gegen RB Leipzig spielen. Wir haben seit dem Bischofsrücktritt im Herbst 2019 auch eine kirchliche Debatte. Wir mussten schmerzhaft lernen, dass es eine neue Sorte von Akteuren gibt: religiöse Rechte, wie der Bischofs-Freund Wolfgang Fenske, die dreifach vernetzt sind – christlich, bürgerlich, rechtsextrem.
kreuzer: Pressing heißt, offensiv auf diese Leute reagieren?DOHRN: Ja. Wir, die wir im Herbst 2019 die Petition wegen des damaligen Landesbischofs gestartet haben, wussten, dass es sich um eine institutionelle Krise handelt und man darauf öffentlich antworten muss. Das findet nicht jeder lustig.
kreuzer: Es gab den Vorwurf, Sie wollten die Kirche spalten?DOHRN: Ja, und nicht nur hier. Mich hat im OBM-Nachwahl-Nebel gewundert, dass alle auf diese schwarz-rote Grafik von Leipzig abfuhren und von »Spaltung« und »Riss« sprachen. Das ist nicht die Grafik, die mich am meisten schockiert. Wie viele Wohnungslose gibt es? Welche Gruppen werden systematisch ausgegrenzt – migrantische Arbeiterfamilien, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose? Darauf müssen wir gesellschaftlich den Schwerpunkt richten.
Die Rede von der Spaltung ist in der Bischofsdebatte falsch. Das Unwohlsein bestimmter Leute aus der Mittelschicht, denen es überdurchschnittlich gut geht, ist für mich nicht der Ausgangspunkt.
kreuzer: Wie beschreiben Sie die Ereignisse in der sächsischen Landeskirche?DOHRN: Es gibt zwei Deutungsmuster. Wir Erstunterzeichner der Petition argumentierten, dass es eine institutionelle Krise gibt. Jemand streute aus rechter Motivation heraus im Wikipedia-Artikel von Bischof a. D. Doktor Carsten Rentzing eine Information, mitten im sächsischen Vorwahlkampf, am 5. Juni 2019. Das andere Deutungsmuster besagt, dass es das größte Problem war, mit Rentzing nicht entlang des sächsischen Pfarrer-Gesetzes umgegangen zu sein. Die Deutung der Erstunterzeichner ist analytisch belegt. Wir hatten die Frage zu klären: Lasse ich es
zu, dass ein Bischof zu seiner Bischofseinführung einen rechtsextremen Akteur auf der offiziellen Liste hat? Wenn es das nächste Mal vorkommt, werden wir wieder eine Petition starten und wir werden klüger sein.
kreuzer: Gibt es in der Landeskirche ein Stadt-Land-Gefälle? Sie waren ja in Stollberg?DOHRN: Wir waren 16 Jahre lang als Familie und als Pfarrer im Erzgebirge. Natürlich gibt es in Stollberg auch Menschen mit einem postmodernen Lebensentwurf, nur nicht in der Breite wie in Leipzig. Wir konnten dort vieles umsetzen, eröffneten als erste Kirchengemeinde Deutschlands eine professionelle Arbeitsvermittlung. Das wäre in Westdeutschland nicht gegangen. Die Annahme, dass die sächsische Landeskirche als solche keine Aktionsspielräume sieht, ist falsch. Das Gegenteil stimmt. Es gibt – das liegt an der postsozialistischen Gesellschaft – nirgends in Deutschland so viel kirchlichen Raum wie hier, weil die SED bis 1990 alles abgeräumt hat.
kreuzer: Was heißt mehr Raum?DOHRN: Im zivilgesellschaftlichen Rahmen gibt es immer noch wenige Akteure, die Institutionen sind deutlich schwächer als anderswo, weil sie dünner besetzt und dezentral organisiert sind. Kirchlich wie konfessionell sind wir am Ende von bestimmten Entwicklungen angelangt und können nicht alles so weitermachen wie bisher. Auch bei Energie, Kohle, Patriarchat und anderen Grundmustern bis hin zu Rassismus, die bisher die Gesellschaft stabilisiert haben, sind wir am Ende. Thomas Feist (CDU) hat im OBM-Wahlkampf versucht, eines dieser großen Systeme noch ein paar Jahre zu retten, also Identitätspolitik über Geburtsorte zu regeln …
kreuzer: … als er meinte, nur hier Geborene seien echte Leipziger …DOHRN: Ja, aber das funktioniert nicht. Wir befinden uns in einer Verwerfungsphase. Die spannende Frage ist: Was machen wir jetzt, als Individuen, Institution, Zivilgesellschaft?
kreuzer: Ihre Antwort?DOHRN: Wir brauchen 2.0-Lösungen. Die Kirche muss mit Zivilgesellschaft, Stadtverwaltung und Bürgern zusammen professionell Lösungsansätze erarbeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist Wir im Quartier, eine Bürgerplattform im Leipziger Westen. Alle, inklusive Kirche, müssen komplett anders agieren. Nach den Erfahrungen um diese Bischofsgeschichte denke ich, dass wir prophetische Avantgardeleute brauchen, die vorneweg gehen, Dinge auf den Punkt bringen, eruptiv verändern. Individuen wie Organisationen müssen verändern wollen und Druckpunkte aushalten können.
kreuzer: Was ist Kirche 2.0?DOHRN: In der seit Januar 2020 neuen evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde Leipziger Süden, mit mehr als 10.000 Leuten eine der mitgliederstärksten Gemeinden der Landeskirche, probieren wir Kirche 2.0 als Mischung aus klassischen Grundformen wie Gottesdienst, Kantorei, Jugendgruppe, Seniorenkreis, Seelsorge und der zweiten Säule Projekt und Netzwerk. Die Kirchgemeinde zu vernetzen, zum Beispiel im neuen Stadtquartier Bayerischer Bahnhof, ist chancenreich.
kreuzer: Spielt das stark säkularisierte Umfeld dabei eine Rolle?DOHRN: Das ist schon speziell. Als Sören Pellmann sein Bundestagsbüro eröffnete, war ich zu Gast und sagte: »Das ist ja superinteressant mit dem Karl Liebknecht.« Er: »Wieso?« Ich: »Der gehörte ins Peters-Gebiet und wurde in der Thomaskirche getauft. Seine Taufpaten waren Karl Marx und Friedrich Engels.« Da legte sich ein Moment der Stille über den Raum. Wenn die Kirche in Bündnissen mitmachen will, muss sie sich extrem gut auskennen und mit Leuten rechnen, die einen intellektuell und argumentativ völlig neu fordern. Ich denke, es ist klug, sich dem zu stellen.
kreuzer: Also doch säkularisiert …DOHRN: Viele atheistisch geprägte Akteure finden es instinktiv spannend, was wir in der Peterskirche tun. Ich gehe bewusst an bestimmte Orte, etwa 2015 zu einem Demo-Vorbereitungsplenum mit Juliane Nagel. Im Bereich Vorbereitung und Strategie spielt sie Bundesliga, das wollte ich mir anschauen. Und letzten Heiligabend kommt sie zu mir in die Christvesper und sagt: »Wenn du bei mir auftauchst, tauche ich bei dir auf.« Diese Konstellation von
Akteuren, die trotz unterschiedlicher Prägung aneinander interessiert sind, gefällt mir an Leipzig. Dazu gehört die
Risikobereitschaft, nicht das klassische Ausgrenzungsspiel zu spielen – ein zentraler Unterschied zu Dresden.
kreuzer: Kirche ist also eine Akteurin von vielen?DOHRN: Die chancenreichste Variante von Kirche ist sicherlich die Mischung aus klassischen Aufgaben plus Seenotrettung plus Netzwerkarbeit plus öffentliche Strategien plus so etwas wie der Horrorfilm-Livemusik-Abend, den wir im Februar hatten. Das muss Kirche sich trauen und mit Rückschlägen rechnen.
kreuzer: Wie erklären Sie einem Gemeindemitglied, warum Seenotrettung, antifaschistische Bündnisse und das
Netzwerk Wohnen wichtig sind?DOHRN: Mich schmerzt, dass für viele Menschen große Institutionen, wie die Evangelische und die Katholische Kirche oder die Volksparteien, so irrelevant geworden sind. Guardiola und Nagelsmann verstehen, dass Pressing die Grundvoraussetzung zum Gewinnen des Spiels ist. Aber für viele Gemeindeglieder ist viel relevanter: Ist die Beerdigung tröstlich, stärkt sie den Glauben? Ist hier jeder willkommen?
kreuzer: Ist jeder willkommen?DOHRN: Als Frauke Petry neu zugezogen in der Kirche auftauchte, sagte ich zu ihr: »Sie können von zwei Sachen sicher ausgehen. Erstens werden Sie als Person hier immer einen Raum finden, wenn es Ihnen scheiße geht. Zweitens: Wenn Sie irgendwelchen Scheiß machen, kriegen Sie richtig Ärger.« Als sie den letzten AfD-Parteitag, den sie eröffnete, mit einer Kirchenkritik begann, schrieb ich zwei Minuten später eine Pressemitteilung: Mein
Gemeindeglied könne das nicht so gut einschätzen, weil sie nämlich zu selten da ist.
kreuzer: Wächst die Gemeinde?DOHRN: Sie wächst. Ende der Neunziger hatten wir in der Peterskirche 1.200 Gemeindeglieder, jetzt 2.500. Das liegt weniger daran, dass wir so toll sind, sondern an Wohnungspolitik und Immobilienmarkt. In Leipzig habe ich in sechs Jahren insgesamt 20 Menschen beerdigt. Im Erzgebirge machmal 40 Menschen in einem Jahr. Und wir bekommen Umgemeindungen, weil wir thematisch innovativ sind. Wir haben als einzige Kirche Intersex-Toiletten eingebaut, das brachte uns sofort Umgemeindungen aus den queeren Communities. Oder 2014 beschlossen wir als erste Kirchgemeinde in Deutschland, alle Waren nach fairen und ökologischen Standards einzukaufen. Das brachte ebenfalls Umgemeindungen.
kreuzer: Wie kamen Sie zur Peterskirche?DOHRN: Wir bewarben uns auf eine Ausschreibung und die Landeskirche schlug uns vor. Hierher zu kommen, war ein Glücksfall für uns. Man konnte nicht wissen, dass es so gut passt und Spaß macht.
kreuzer: Sie sind ja nicht nur im Süden aktiv …DOHRN: Man wächst in der Leipziger Stadtgesellschaft schnell in Rollen hinein; es ist ungewöhnlich, wie viele Möglichkeiten die Stadt bietet. Seit ein paar Wochen bin ich zum Beispiel im Aufsichtsrat der LWB und ebenfalls seit ein paar Wochen Mitglied im Bündnis Bezahlbares Wohnen. Bei der LWB hat es eine gewisse Dimension, sich für 600.000 Leute zu überlegen, was zu tun ist, damit die Wohnungslosigkeit zurückgeht und »Housing First« gilt.
kreuzer: Also die sofortige Unterbringung von Wohnungslosen in richtigen Wohnungen, nicht Notunterkünften. Wie kam es denn zu Ihrem Fokus auf das Wohnen?DOHRN: Durch Zufall. Der Kirchenvorstand beschloss nach der ersten Legida-Demo, eine Flüchtlingsfamilie ins Gemeindehaus einziehen zu lassen. Damit entstand die Frage: Wie ist es möglich, dass Geflüchtete aus den blöden Gemeinschaftsunterkünften ausziehen? Da kam mir der Gedanke an die Paten bei der christlichen Taufe –
Leipzigerinnen als Begleitung bei Wohnungsbesichtigung, Mietvertrag oder Nebenkostenabrechnung. Wir saßen hier, in diesem Zimmer, mit sehr verschiedenen Akteuren, zum Beispiel Haus- und Wagenrat oder eine Abteilungsleiterin der Wohnungsgenossenschaft Kontakt. Etwas später berichtete der Spiegel über unsere Runde und darauf meldete sich ein Abteilungsleiter des größten deutschen Wohnungsbesitzers, Vonovia, und bot uns 15 Wohnungen an. Die konnten wir innerhalb von zwei Stunden vergeben.
kreuzer: Wie ging es weiter?DOHRN: Wir, also das kirchlich geprägte Portal Flüchtlingswohnung.org, taten uns mit dem Initiativkreis Menschenwürdig um Juliane Nagel zusammen, der Geflüchtete in WGs vermittelte – ein kirchlicher und ein linker Akteur zusammen, total crazy. Inzwischen sind mehr als tausend Geflüchtete mit uns umgezogen, und wir sind deutschlandweit das größte Projekt, was das angeht.
kreuzer: Der Komplex Wohnen beschäftigt Sie weiter?DOHRN: Der nächste Step ist, dass uns Wohnungen und Wasser gehören. Zusammen mit dem Haus- und Wagenrat und anderen gründeten wir die Solidarische Wohnungsgenossenschaft (So Wo). Es gehört zu meinen Spezialgebieten, in Handelsregistern rauszukriegen, ob Leute in Steueroasen sind. Das ist unangenehm für Immobilienakteure, wenn sie damit konfrontiert werden. Damit rechnet niemand, weil alle denken, Pfarrer sind nett. Das ist ein Riesenvorteil.
kreuzer: Sie sind im Bündnis für bezahlbares Wohnen, da geht es um »Housing First«?DOHRN: Ja, wie wird Leipzig Hauptstadt von »Housing First«? Wir können das erreichen, weil wir alles haben, was wir brauchen: Akteure, wohnungspolitische Cracks, machtpolitisch interessante Konstellationen.
kreuzer: Die So Wo hat vier Häuser?DOHRN: Vor Kurzem hat die So Wo das vierte Haus erworben. Es ist beeindruckend, wie viele der über 150 Genossen sich in die kompliziertesten Immobiliendinge eingefuchst haben. Damit steigt die Chance, die nächsten Häuser zu kaufen.
kreuzer: Wieso sind Sie Pfarrer geworden?DOHRN: Ich komme aus einem Elternhaus, in dem Christ-Sein und gesellschaftspolitische Aktivität untrennbar verbunden waren. Ich war ursprünglich katholisch, bin dann evangelisch geworden und habe viel mit Jugendgruppen gearbeitet. Mir wurde nachgesagt, dass ich in dem Bereich was kann und eventuell Theologie studieren sollte. Mein Onkel war Pastor in Hamburg und ein gutes Rollenmodell.
kreuzer: Ihre Frau und Sie waren in den 1990ern zum Vikariat in Leipzig?DOHRN: Genau. Wir studierten beide in Heidelberg, waren dort in der ersten autonomen evangelischen Studierendengemeinde aktiv. 1995 kamen wir hierher, meine Frau war in Großzschocher, ich in Schleußig. Da zogen gerade die ganzen Leute aus dem Westen in die Stuckwohnungen und der Pfarrer wusste nicht, was für eine Form von Kirche die erwarten. Es war überraschenderweise nicht mit einer kurzen Phase von Ost-West-Battle getan. Viele Menschen greifen nach dem Ende der großen Systeme auf ihre alten Muster zurück. Deshalb kommt das
Ost-West-Ding in letzter Zeit mit Schmackes wieder.
kreuzer: Wie hat sich Leipzig in Ihren Augen entwickelt?DOHRN: 1995 hatte man den Eindruck einer Desorientierungsphase: Bevölkerungsrückgang, Immobilienmarkt zusammengebrochen, wirtschaftlich vieles am Boden, hohe Arbeitslosigkeit. Da haben die wenigsten geahnt, wie das 2020 aussieht. Unsere Partner-Kirchgemeinde Bethlehem hatte 1985 50 Prozent Arbeiterinnen und 2013 eine Akademiker-Quote, die inzwischen 50 Prozent übersteigt. Da gab es große Dynamik. Leipzig wurde für zivilgesellschaftliche Akteure und Entwicklungen zu einer Art Melting Pot. Wenn Pfarrer aus dem Westen
uns besuchen kommen, können sie überhaupt nicht fassen, was wir hier tun: »Ach, das geht alles bei euch?«