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Politik

»Es war wirklich ein Irrtum«

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung im Gespräch über Corona-Krisenmanagement

  »Es war wirklich ein Irrtum« | Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung im Gespräch über Corona-Krisenmanagement

Seit ein paar Tagen gelten auch in Sachsen erste Lockerungen nach dem Lockdown. Ist das für Burkhard Jung eine Gelegenheit durchzuatmen? Der kreuzer traf ihn zum Interview. Nach dem ersten Teil spricht er im zweiten Teil über Hilfe für Solo-Selbstständige, Demonstrationsrecht und Solidarität

kreuzer: Es gibt ja gerade in Leipzig relativ viele Solo-Selbstständige. Diese Gruppe fühlt sich bisher zu wenig berücksichtigt bei den Hilfen, sowohl vom Bund als auch vom Land. Wird die Stadt jetzt etwas unternehmen?BURKHARD JUNG: Der erste Impuls war: Wir müssen sofort etwas tun. Analog zu Dresden, das schnell die 1.000 Euro Soforthilfe verabschiedet hat. Als wir diese Vorlage fertig hatten, kam das Bundesprogramm mit den Zuschüssen über 9.000 und 15.000 Euro. Da habe ich innegehalten und gesagt: Unser Ansatz ist ja gar nicht notwendig. Bis wir feststellten: Oh, das sind ja nur Betriebskosten. Und dann ist uns natürlich klargeworden, dass jetzt Menschen wirklich in eine extreme Situation kommen. Wenn du keine Betriebskosten hast, wenn du keine Angestellten hast, wenn deine Geschäftsgrundlage entzogen wurde: Was tun? Es bleibt zuletzt nur die Grundsicherung durch das Jobcenter. Ich habe diese Woche eine Vorlage mit den Fraktionsvorsitzenden diskutiert, wonach jeder Solo-Selbstständige, dem durch Corona die Geschäftsgrundlage entzogen wurde, einen Zuschuss bis zu 2.000 Euro bekommen kann. Unter der Bedingung, dass er sich nicht im Jobcenter meldet. Die 2.000 Euro gelten für zwei Monate, werden aber auf einen Schlag ausgezahlt. Die Vorlage wird nächsten Dienstag im Fachausschuss Wirtschaft und Arbeit miteinander besprochen und ich habe diesen Mittwoch das Signal, dass der Stadtrat am 29. April darüber abstimmt.

kreuzer: Wie viel Geld ist denn die Stadt bereit, dafür auszugeben?JUNG: Wir haben zunächst mal fünf Millionen eingestellt. Ich bitte nochmals um Verständnis. Ich habe ja durchaus sehr, sehr kritische Briefe gekriegt, dass ich die Solo-Selbstständigen nicht wertschätze. Es war wirklich ein Irrtum: Wir haben für zwei Wochen gedacht: Das ist doch jetzt klar, das ist doch erledigt. Aber ist es nicht. Für Künstler und Handwerker zum Beispiel, die ihren Geschäften wegen der Krise nicht nachgehen können.

kreuzer: Jetzt ist die Gruppe derer, die definitiv Probleme bekommen wird, noch deutlich größer: Gastronomie, Hotels, die ganze Clubszene - das alles wird auf absehbare Zeit geschlossen bleiben. Und Sachsen ist eins der wenigen Bundesländer, das keine direkten Zuschüsse, sondern nur Kredite vergibt. Ihre Partei, die SPD, regiert in Sachsen mit: Warum tut sich Landesregierung mit direkten Zuschüssen so schwer?JUNG: Ich verstehe es auch nicht. Gut, dass man jetzt nachgebessert hat, bei Firmen ab zehn Beschäftigten. Ich hätte das von vorneherein anders gemacht. Aber ich muss akzeptieren, dass sie das in Dresden so entschieden haben. Großveranstaltungen sind bis 31. August abgesagt. Das heißt, der ganze Bereich Kultur, Veranstaltungstechnik, Veranstaltungsmanagement wird sehr lange betroffen sein. Ich hoffe, man wird für diesen Bereich etwas tun.

kreuzer: Erwarten Sie viele Pleiten im Gastronomie- und Kulturbereich?JUNG: Die Gastronomie macht mir natürlich große Sorgen. Das ist lebenswichtig für den Puls einer Stadt, für ein freies Leben abends: Biergärten, Freisitze. Je länger die zu bleiben, umso schwieriger wird es. Ich habe aber auch Hoffnung, dass wir dort im Juni vielleicht eine andere Situation haben. Dass dort wieder mit Abstands- und Hygieneregeln geöffnet werden kann.

kreuzer: Hat die Stadt noch eigene Ideen, um diesen Branchen zu helfen?JUNG: Wir brauchen intelligente Auslieferungssysteme. Warum organisieren wir nicht zentral, dass auch Gastronomen, die sich das aus eigener Kraft nicht leisten können, über eine Plattform ihre Waren verteilen können? Ich habe auch darüber nachgedacht: Kann man nicht, anstatt Zuschüsse auszureichen, eine Kulturleistung ausschreiben, die man abruft, um auch wieder Beschäftigung zu organisieren? Das ist noch kein Programm, sondern es sind Ideen, damit man auch spürt und sieht, wie wichtig uns die Freizeitkultur und die Gastrobranche sind. Das darf hier nicht kaputtgehen.

kreuzer: Etwas blumig gefragt: Was wird das für ein Sommer in Leipzig?JUNG: Das wird ein ganz anderer Sommer. Gestern Abend hat jemand gesagt: »Sachsen bleiben in Sachsen« (lacht). Ich glaube, dass wir gut beraten sind, keine Urlaubspläne für das Ausland zu schmieden. Es ist vielleicht auch eine Chance, sich ganz neu zu beschäftigten – die Region zu erkunden. Vielleicht sollten wir mit dem Fahrrad durch Mitteldeutschland radeln.

kreuzer: Gibt's denn irgendwelche Pläne für Freiluft-Veranstaltungen wie Kino und Sommertheater? Also alles wo man eine gewisse Distanz zwischen den Besuchern schaffen könnte?JUNG: Wir haben das sehr wohl auch durchgespielt. Angenommen, wir machen ein Sommertheater am Gohliser Schlösschen: Da sind immer zwei Sitzplätze neben dir frei, aber die Bank hinter dir und vor dir auch. Und da sitzen dann auf der Tribüne, die für 250 gebaut ist, noch 50. Ist es das? Wahrscheinlich nicht. Wir alle miteinander müssen neue Ideen, neue Wege finden.

kreuzer: Das Land Sachsen erlaubt ab Montag wieder Demonstrationen. Im Einzelfall, wie Ministerpräsident Kretschmer sagt. Was bedeutet das für Leipzig?JUNG: Grundsätzlich bleiben Demonstrationen untersagt. Man kann jetzt nicht einfach eine Demo anmelden, sondern muss eine Ausnahme zur Infektionsschutzverordnung beantragen. Wie die örtliche Versammlungsbehörde mit dem Antrag umgeht, entscheidet sie im Einzelfall. Das Sächsische Innenministerium hat allerdings Rahmenbedingungen festgelegt. Beispielsweise können unter engen hygienischen Auflagen 50 Personen pro Veranstaltungen erlaubt sein, je nach Gegebenheiten.

kreuzer: Wie wollen Sie sich persönlich dafür einsetzen, dass das Demonstrationsrecht in Leipzig und anderswo wieder problemlos ausgeübt werden kann?JUNG: Das Versammlungsrecht und das Recht der freien Religionsausübung sind beide im Grundgesetz sehr hoch angesiedelt. Wir sind gut beraten, die derzeitigen Einschränkungen in den nächsten Wochen dringend anzugehen. Ich habe am Donnerstag mit meinem Berliner Kollegen Michael Müller darüber gesprochen. Berlin überlegt, gegebenenfalls in den nächsten Wochen kleinere Demonstrationsgeschehen wieder zu ermöglichen. Viele Menschen spüren, dass Bürgerrechte in der aktuellen Situation in Gefahr sind. Und das ist auch ein Grund, warum die Lockerung Schritt für Schritt kommen muss, sofern das Infektionsgeschehen wie zurzeit beherrschbar bleibt.

kreuzer: Stichwort »Häusliche Gewalt«. Hat sie zugenommen, wie viele Spezialisten befürchten?JUNG: Ich habe keine harten Zahlen. Ich habe nur Indizien. Wir haben einen Notruf eingerichtet für Kinder und Jugendliche. Da gibt es pro Stunde etwa 25 Anrufe. In dem neuen Frauenschutzhaus sind die ersten Plätze bereits belegt. Wir haben zweitens beobachtet, dass das sogenannte Hellfeld weggefallen ist. Das sind Einrichtungen wie Schule, Hort, Kindertagesstätte und Erziehungsberatungsstelle, die uns melden, wenn etwas auffällig ist. Damit der Allgemeine Sozialdienst dem nachgehen kann. Aus diesem Bereich kommen natürlich keine Meldungen mehr. Deshalb versucht der Allgemeine Sozialdienst jetzt telefonisch zu den Familien, die er kennt, Kontakt zu halten. Es gibt auch mehr Besuche bei diesen Familien. Aber wir wissen nicht, was außerhalb dieses Kreises passiert. Ich habe darum gebeten, dass die Kinderärzte nochmals sensibilisiert werden. Wir haben jetzt die Schulleiter angeschrieben: Kennt ihr Familien, wo wir uns Sorgen um die Kinder machen müssen? Ganz simpel, haben sie genug zu essen?

kreuzer: Wie sieht es mit Obdachlosen aus? Sie sind inzwischen abends die einzigen Menschen auf der Straße.JUNG: Wir haben eine vierte Notschlafstelle eröffnet und bieten zurzeit 144 Plätze an. Die Menschen können auch tagsüber in den Einrichtungen bleiben. Ich habe entschieden, dass sie dort nichts zu bezahlen brauchen. Bisher mussten sie ja immer einen kleinen Obolus entrichten. Wir haben immer noch mehr als 30 Plätze frei. Aber es gibt natürlich Menschen, die sagen: Ich bleibe dort, wo ich meinen Platz habe.

kreuzer: Sie sind auch Präsident des Städtetags. Corona-Deutschland fliegt tausende Erntehelfer aus dem Ausland ein, schafft es aber gerade mal, 58 Minderjährige aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln zu holen. Warum passiert so wenig, obwohl Leipzig und viele andere Städte bereit sind Geflüchtete aufzunehmen?JUNG: Wir können nur immer wieder sagen: Wir stehen bereit. Ich bin auch Vizepräsident der europäischen Städte, der Eurocities. Wir haben jetzt einen Appell ans Europäische Parlament und an die Europäische Kommission gerichtet, dass wir in der Corona-Situation genau das nicht vergessen und bereit sind, insbesondere unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Wir sprechen von 25.000 Minderjährigen, die darauf warten, in Sicherheit irgendwo aufgenommen zu werden. Ich denke, dass Europa das schaffen müsste. Aber mehr als einfordern, Bereitschaft erklären und appellieren können wir auch nicht.

kreuzer: Das Bundesinnenministerium bremst sehr deutlich, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingskindern geht. Haben Sie als Städtetagspräsident mitInnenminister Seehofer darüber gesprochen?

[caption id="attachment_86779" align="alignright" width="408"] Burkhard Jung beim Interview im Rathaus Foto: Christiane Gundlach[/caption]

JUNG: Noch nicht. Wir hatten bis jetzt keinen Termin, aber wir sind gerade dabei, alle Minister abzutelefonieren. Er wird natürlich sagen: »Solange die gesamteuropäische Solidarität nicht da ist...« Aber ich finde, wir dürfen das nicht auf dem Rücken von Hilfsbedürftigen austragen.

kreuzer: Regiert die Angst, dass es in der Bevölkerung mehrheitlich nicht verstanden wird, wenn man den Flüchtlingen hilft?JUNG: Ich glaube, Sie kennen die Antwort nach den Erfahrungen seit 2015 ganz gut - mit der Gesamtsituation, dem Kippen in der Bevölkerung, dem Erstarken der AfD. Da gibt es so viele politische Motive.

Ich bin wirklich anderer Ansicht und glaube, dass wir eine ganz besondere Verantwortung haben. Gerade jetzt, wenn ich mir vorstelle, dieses Covid-19 würde auch noch auf Lesbos grassieren.

kreuzer: Wäre es da nicht an der Zeit, dass Sie sich als Städtetagspräsident noch stärker für die Rettung aus den Elendslagern einsetzen?JUNG: Ich sage ganz offen: Momentan bin ich sehr absorbiert durch die Krisenbewältigung. Der letzte Aufschlag kam von meinem Kollegen aus Potsdam, der sich sehr stark gemacht hat und den wir unterstützt haben. Aber Sie merken ja, was medial los ist. Ich bin ja überrascht, wenn in der Tagesschau nochmal ein anderer Bericht kommt außer zu Corona.

kreuzer: Was ist für Sie das wichtigste Thema als Städtetagspräsident?JUNG: Eigentlich waren das die großen Themen Wohnen, Klima und Verkehr. Die sind auch nicht weg. Aber aktuell ist das Hauptthema auf Bundes- und Länderebene, Einsicht zu erwirken, dass wir als Städte dringend einen finanziellen Rettungsschirm brauchen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind unsere kommunalen Haushalte betroffen, weil uns die Gewerbe- und Einkommenssteuern wegbrechen. Sie können davon ausgehen, dass zwischen 30 und 50 Prozent der Einnahmen der deutschen Städte weg sind. Wir haben ein Aufkommen von etwa 57 Milliarden an Gewerbesteuer in Deutschland. Nehmen Sie davon 30 Prozent, dann wissen Sie, worüber wir reden. Das zweite Problem sind die kommunalen Unternehmen. Bis auf den öffentlichen Nahverkehr und Messen war das bisher noch kein Thema für die Bundesregierung. Aber wir reden ja auch über Flughäfen, Kulturbetriebe und Bäderbetriebe.

kreuzer: War es in der Stadtverwaltung ein Thema, wenn es Plünderungen geben könnte und wie man darauf reagieren würde?JUNG: Ich habe von diesem »Aufruf« gehört und war entsetzt. Aber ich glaube, die Gefahr bestand zu keinem Zeitpunkt. Ich glaube, dass wir eine gut funktionierende Krisenverwaltung organisieren können. Das habe ich zum ersten Mal gemerkt im Hochwasser 2013. Das funktionierte wirklich reibungslos.

kreuzer: Wo sehen Sie Leipzig nach der Krise?JUNG: Wir sind keine Insel. Wir sind sehr abhängig von den beiden großen Automobilherstellern, die ihre Produktion gestoppt haben. Damit verbunden auch die Zulieferer. Wir sind sehr abhängig von der ganzen Kreativitätsszene. Wir sind mittlerweile sehr vom Tourismus abhängig. Wir werden in diesem Jahr einen massiven wirtschaftlichen Rückgang haben. Die einen sagen drei Prozent, die anderen sagen sechs Prozent, die nächsten zehn Prozent. Und dann wird sich zeigen, was passiert. Wie springt das wieder an? Wird der Impfstoff entwickelt? Dauert das zwei Jahre, dauert das eineinhalb Jahre? Finden die das Medikament? Ich kann nicht in die Glaskugel gucken. Wir müssen jetzt versuchen Investitionen für die drei nächsten drei Jahre zu planen, denn ohne öffentliche Aufträge kann man keine Konjunkturbelebung organisieren.


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