Mit ihrem Debütroman »Streulicht« hat Deniz Ohde ein Buch über das Aufwachsen in einem Bildungssystem voller Ungleichheit geschrieben. Nun steht ihr Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. Mit dem kreuzer hat sie über ihren eigenen Bildungsweg und den Umgang mit Freunden aus Akademiker-Haushalten gesprochen. Ein Text aus der September Ausgabe des kreuzer.
Für das Treffen wählt Deniz Ohde die Treppen am Elsterbecken hinter dem Stadion. Von Weitem erkennt man die klein gewachsene Frau an ihren zum Zopf gebundenen dunklen Locken. Aus ihrem Fahrradkorb quillt ein Paar bunter Sitzkissen, auf denen wir uns im einzigen Stückchen Schatten niederlassen, das an diesem Sommertag zu finden ist. Am 17. August erschien ihr Debüt »Streulicht«, für das sie bereits vor Veröffentlichung den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung zur Förderung junger Künstler erhalten hat. Langsam und ruhig spricht die Autorin über ihren Roman, meist muss sie beim Antworten nicht lange überlegen.
Ohde wurde 1988 in Frankfurt am Main als Arbeiterkind einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters geboren. Vor etwa zehn Jahren ist sie nach Leipzig gezogen, um zu studieren. Eigentlich war ihr Ziel nur, irgendwohin zu ziehen, wo sie niemanden kannte. »Leipzig war eine totale Glücksentscheidung. Vom Hype, von dem damals, glaube ich, auch schon die Rede war, habe ich überhaupt nichts gewusst«, sagt sie heute.
Ihr Roman handelt von einem namenlosen Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund. Es wächst auf in direkter Nachbarschaft eines Industrieparks: Das Streulicht, der Industrieschnee und der regelmäßige Testalarm für einen Chemieunfall scheinen einen seltsamen Eindruck auf die dort lebenden Menschen zu machen. Ihr Alltag ist von Gleichförmigkeit und einem Gefühl der Enge bestimmt. Der Leser begleitet die Namenlose auf ihrem Weg im Schulsystem vom Gymnasium auf die Hauptschule und zurück. Viel passiert nicht, dafür wird beobachtet und beschrieben. Zum Beispiel all jene Dinge, welche die Erzählerin in ihrer Entwicklung zu hemmen scheinen: ihre als nicht deutsch gelesene Erscheinung, die toxische Beziehung der Eltern, der distinkte Habitus ihrer Freunde und die ständigen Gängeleien in der Schule. Insbesondere das Schulsystem kommt im Buch nicht gut weg.
Auch Ohde selbst hat die Erfahrung gemacht, von der Schule zu fliegen und ihre Abschlüsse auf dem zweiten Bildungsweg zu machen. Natürlich sei nicht alles aus dem Roman eins zu eins übertragbar. Dennoch sagt sie, »Das Bildungssystem ist tendenziell ungerecht. Dieses Versprechen vom Bildungsaufstieg und der Chancengleichheit entspricht vielleicht nicht ganz der Realität.« Ohde macht die Schwierigkeiten durch detaillierte Beobachtung erfahrbar. Oft bekommt man den Eindruck, eine Kamera zoome in ein Bild hinein: »Sophias Mutter nahm ihren Seidenschal aus der Handtasche, die sie auf den Stuhl neben sich auf einen Stapel alter Ortszeitungen gestellt hatte, und legte ihn um, mit geübten Bewegungen band sie einen lockeren Knoten, zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu und sagte: ›Ich muss dann auch mal.‹«
Für die Benachteiligung der Erzählerin gibt es verschiedene Gründe, die jedoch alle gleichen Ursprungs sind: kulturelle und soziale Unterschiede. Exemplarisch hierfür steht ihre Beziehung zu Sophia, einer Schulfreundin aus Akademikerhaus. Ihre Freundschaft bleibt zwar, die Unterschiede zwischen den Mädchen aber verfestigen sich: höherer Schulabschluss und Lebensstil. »Ich habe viele Freunde, die aus Akademiker-Haushalten kommen. Wenn sie erzählen, dass sie im Skiurlaub waren, sage ich: ›Leute, ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ein Skiurlaub aussieht!‹ Da lachen wir dann drüber«, sagt Ohde.
Wie man auf diese Ungleichheit reagieren kann, beantwortet der Roman nicht. Stattdessen wird die Entwicklung eines Arbeiterkindes beschrieben, die sicher auch heute noch so stattfindet. Wenn Ohde darüber spricht, wirkt eine solche Biografie schicksalhaft. Wer unter den Umständen der Erzählerin aufwachse, könne nicht die gleiche Leistung wie andere erbringen. »Das ist aus meiner Sicht die Rolle der Schule: Sie muss erkennen, dass das passiert, und dann eben handeln.« Wie dieses Handeln aussehen kann, bleibt ungewiss.
Das Thema Bildungsungleichheit lasse sie weiterhin nicht los, sagt Deniz Ohde. Durch ihren Werdegang mit Studium und einem Roman bei Suhrkamp habe sie allerdings »manchmal das Gefühl, dass ich mich viel zu weit von dieser Welt entfernt habe, um noch darüber sprechen zu können«. Darüber schreiben kann sie jedenfalls.