Selten ziehen Umbrüche im Leben spurlos an einem vorbei. An der Schaubühne Lindenfels werden sie textlich und choreografisch untersucht.
Der Beginn einer Liebesbeziehung, die Geburt eines Kindes, der Verlust eines Menschen. Das sind die Plotpoints des Lebens. Sie zerteilen Geschichten in ein davor und ein danach. In der Schaubühne Lindenfels arrangiert die Compagnie erweiterte zugeständnisse leipzig/wien in ihrer Produktion »Endivien. Plotpoints of Life« die Gesten, Sätze und sinnlichen Eindrücke, die sich an den Brüchen und Haarrissen einer Biografie ansiedeln. Allein, zu zweit und im Kollektiv werden diese Choreografien des Moments in einem opaken Nebeneinander auf der Bühne ausgeführt. So tanzt ein alter Mann Walzer ohne Partnerin. Darüber liegt der Satz »Ich habe mich in einen anderen verliebt.« Dann steht Soheil Boroumand als Soldat vor uns. Während er das Mantra »Ich bin funktionstüchtig. Ich bin stark. Ich bin keine Angst.« wiederholt, lässt sich beobachten, wie sich ihm sein traumatisierter Körper immer wieder in nervösen Zuckungen entzieht.
Ein Versatzstück aus Jenny Erpenbecks Text »Geschichte vom alten Kind« erscheint auf der Bühne. Mit einem quietschenden Metalleimer läuft das verlorene Mädchen zwischen den anderen Gestalten umher, bis es im Lichtkegel der Heimerzieherin stehen bleibt. Die pflegt ihre Endivienpflanzen, packt sie in einen Eimer und füttert das Kind mit dem Gemüse. Erst wird nur ihr die Pflanze in den Mund gestopft, dann reihen sich die anderen Heimkinder auf und der Vorgang wird wiederholt. Alle müssen aus dem Eimer essen, wird sich geweigert, folgen Schläge. Von den schrecklichsten Erlebnissen, die ein Leben zerreißen, bis zum glücklichen Moment, der nie erhoffte Perspektiven eröffnet, verweben sich hier sieben Einzelschicksale, die immer wieder aufeinandertreffen ohne sich wirklich zu begegnen. Meist bleiben die Figuren in ihren Gesten allein, wie die bulimische Scriptwriterin, die sich im Hintergrund zum Takt einer Balkenwaage wiegt.
In Anlehnung an Dogma 95 wird zum Ende des Stücks das Dogma 2020 ausgerufen. Distanz, Reinheit und Keuschheit sind die neuen Maximen, nach denen Theater gemacht werden soll. Jedoch löst sich die gebotene Klarheit schnell wieder auf, wenn sich die Träger von Pest-, Luftschutz- und Gurkenmasken zu einem Ball versammeln. Dieser aktuelle Kommentar ist der wahrscheinlich zugänglichste Moment der Inszenierung, bildet aber zugleich einen Bruch mit der wabernden Text- und Bewegungskomposition, die von Robert Rehnigs musikalischer Gestaltung unterstützt wird. Der Abend ist undursichtig und nicht-linear. Doch das entspricht der Natur der Erinnerung, die hier erforscht wird. Um dem Publikum den Zugang zu erleichtern, wird im Begleitheft nach den Schlüsselsätzen und erschütternden Ereignissen des eigenen Lebens gefragt. Einige der gegebenen Antworten finden sich auf der Bühne wieder, andere Bilder bleiben rätselhaft.