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Ostwärts

Auf Tour durch den Osten

  Ostwärts | Auf Tour durch den Osten

Leipzigs Osten kommt – so heißt es nun seit vielen Jahren. Ja, und, wo ist denn nun dieser Osten? Das fragten wir uns hier in der kreuzer-Redaktion und schwärmten aus in die berühmtesten Stadtteile von
 East-LE: Neustadt-Neuschönefeld, Reudnitz und Anger-Crottendorf. An dieser Stelle veröffentlichen wir die Titelgeschichte aus der kreuzer-Ausgabe 11/20.

Was für ein IrrsinnJung, wild und international. Das Viertel um die Eisenbahnstraße ist das Großstädtischste, was Leipzig zu bieten hat

Darian steht in seiner Küche, die gleichzeitig auch sein Wohnzimmer ist, und kocht Kaffee und Tee. Das dauert ein bisschen, denn der Kaffee muss mit der Hand gemahlen und die Teekanne mit Wasserdampf erhitzt werden. Er kommt ursprünglich aus dem Iran, da wird die Teezubereitungskunst noch gerne gepflegt. Darian, der nicht will, dass seine Freunde ihn in der Zeitung erkennen, heißt eigentlich anders und ist ein Hansdampf in allen Gassen – vor allem in den Gassen der Eisenbahnstraße und ihrer Umgebung, wo er seit 2014 wohnt. Hier fühlt er sich wohl, erzählt er, während er iranisches Gebäck zum Tee reicht. Nicht nur, weil das hier die Gegend in Leipzig ist, wo man am ehesten an iranische Kekse kommt. Sondern auch, »weil hier so viele internationale Menschen wohnen«, sagt er. »In Gohlis gucken sie oft komisch. Hier guckt keiner.«

Dass hier niemand wegen dunkler Haare oder dunkler Haut komisch angeschaut wird, liegt daran, dass die Eisenbahnstraße die internationalste Straße der Stadt ist. Etwa 40 Prozent der Menschen haben einen Migrationshintergrund – dreimal mehr als im Stadtdurchschnitt. Hier reihen sich Läden für persische Teppiche, russische Delikatessen oder koreanische Lebensmittel aneinander. Im Bistro Syrien gibt es die besten Falafel von Leipzig, beim Sesam Grill scharfe Köfte und in der »Cocktailbar Café Cancun« werden laut Fensteraußenwerbung »Spielautomaten Café Lounge Bürger Frühstück« angeboten und ein halber Liter Ur-Krostitzer für 1,80 Euro. Drinnen beschallen schmachtende Popsongs mit türkischen Texten aus dem Fernseher die Gäste, die auf die Fototapete mit Sonnenuntergang-hinterm-Meer-Motiv starren

[caption id="attachment_120525" align="alignright" width="320"] Samanta Gorzelniak vom Pöge-Haus: »Hier ist der einzige Stadtteil mit Großstadtflair«[/caption]

und bei denen die Kopftuch tragende Bedienung trotz »getrennt zahlen, bitte« beim Mann abkassiert.

Das internationale Flair der Straße spürt man aber auch, ohne einen einzigen Laden, Imbiss oder eine Shisha-Bar zu betreten. Denn das Leben findet auf der Straße statt, egal wie wenig Platz da ist. Der Bürgersteig ist zu eng für die Früchte der Gemüsehändler, für voll besetzte Kneipentische oder die bunten Plastikangebote des Billigmarkts, an denen sich verschiedene Sprachen sprechende Menschen vorbeischieben und -winden. Der Fahrradweg ist nur ein schmaler Streifen neben der Fahrbahn, die sich die Autos mit der Straßenbahn oder dem Bus teilen müssen, ständig wird irgendwo gehupt. Eine Mutter schreit, als ihr Kind auf die Straße rennt, drei Jugendliche halten das Kind fest.

»Man hilft sich hier untereinander«, erzählt Darian, der seine Hilfsbereitschaft zur selbstverständlichen Alltagsaufgabe erklärt hat. Es sei oft einfacher, sich untereinander zu unterstützen, als sich mit den bürokratischen Hürden staatlicher Hilfe auseinandersetzen zu müssen. Den Chilenen ein paar Häuser weiter hat er geholfen, sich einzuleben, der libyschen alleinerziehenden Mutter aus dem Erdgeschoss greift er genauso unter die Arme wie den deutschen Studenten, die letztens einen Tisch die Straße entlangschleppten, den er kurzerhand bei sich ins Auto packte und zu ihnen nach Hause fuhr. Wie zum Beweis klingelt es an der Tür: Eine Nachbarin, die gerade umzieht, will wissen, ob er außer dem Schrank für seinen Kumpel noch andere Sachen braucht.

Darian kennt die Leute hier. Wenn man mit ihm durchs Viertel läuft, erfährt man, dass das Hotel da hinten einem gehört, der in Palästina die kommunistische Partei gegründet habe. Oder dass in dem Café an der Ecke gestern ein paar Leute spontan Musik gemacht haben. Oder dass in dem Haus da drüben der Betreiber des »Brothers« wohnt.

[caption id="attachment_120523" align="alignright" width="320"] Meistens überhaupt nicht goofy: Sport und Spiel gibts im Rabet[/caption]

Das »Brothers« ist einer der Orte hier, an denen die verschiedenen Bubbles der Eisenbahnstraße zu einer großen Blase verschwimmen. Hipster, Studierende, Dealer, Angestellte, Familien trinken Schwarztee, essen Suppe mit sehr viel Fladenbrot oder Pides mit Fleisch. Inzwischen gibt es auch einen eigenen Tresen für Handmade-Burger. Denn in den letzten Jahren hat sich vor allem der Anteil der Studierenden und Hipster im Viertel vermehrt. Neben Lindenau sind Neustadt-Schönefeld und Volkmarsdorf die jüngsten Stadtteile von Leipzig. Das Durchschnittsalter liegt in den beiden Stadtteilen, durch die sich die Eisenbahnstraße zieht, bei 34 Jahren – im Vergleich zum Leipziger Durchschnittsalter von 42 Jahren.

Die Veränderung und Verjüngung des Viertels nehmen auch Volkmar Maul und seine Tochter wahr. Ihr Familienbetrieb, der Augenoptikladen Maul, verkauft schon seit 75 Jahren Brillen auf der Eisenbahnstraße, die früher Ernst-Thälmann-Straße hieß. »Es hat sich positiv verändert hier«, sagt Elisabeth. »Vor zehn Jahren war hier nicht viel los, jetzt gibt es Cafés und Bars, in denen man sich wohlfühlen kann.« Auch ihr Vater, der schon in den siebziger Jahren hier arbeitete, ist begeistert vom Viertel. Davon, dass hier im Sommer so viele junge Leute auf den Bürgersteigen sitzen. Dass hier Künstler hergezogen sind, die noch Ofenheizung haben, und ein paar Häuser weiter Mietwohnungen mit Fußbodenheizung angeboten werden. Als er auf den Ruf der Eisenbahnstraße als »gefährlichste Straße Deutschlands« zu sprechen kommt, ruft Herr Maul: »Ein Irrsinn!« »Ich habe hier noch nie Angst gehabt«, bestätigt auch seine Tochter. Es könne zwar gut sein, dass es hier Probleme gibt, aber mit denen habe sie nichts zu tun.

Den Ruf der gefährlichsten Straße, den die Pro-7-Sendung »Taff« vor fünf Jahren in die Welt posaunte, wird die Eisenbahnstraße dennoch nicht mehr los. Dass es hier nun seit zwei Jahren eine Waffenverbotszone gibt, hilft da nicht unbedingt. Schon gar nicht gegen Catcalling – ein Phänomen, das hier leider öfter auftritt als beispielsweise auf der Karl-Heine-Straße und von dem viele Frauen genervt erzählen: sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum durch Typen, die meist in Gruppen rumhängen. »Sie pfiffen mir nach: Ulala, wunderschön« und »Er hielt mich am Rock fest«, haben die Macherinnen und Macher des Instagram-Accounts »Catcallsoflpz«, die Catcallerfahrungen am Ort der Belästigung »ankreiden« wollen, auf die Straße geschrieben, samt der Aufforderung: »Stoppt Belästigung!«

»Was mit der Waffenverbotszone auch noch mal komplizierter geworden ist: dass ich dadurch weniger die Möglichkeit habe, mich zu verteidigen, weil es dann gegen mich verwendet werden würde«, erzählt die Transfrau Lilly, die kein Pfefferspray oder Ähnliches mehr mitführen darf, im Magazin Gefährlicher Gegenstand: Eisenbahnstraße, das mit ästhetischen Fotos und ausführlichen Interviews in bislang zwei Ausgaben die Geschichten der Straße erzählt, um dem schlechten Ruf differenziert entgegenzuwirken.

Die Waffenverbotszone verstärkt auch ein ganz anderes Problem: Immer wieder wird der Polizei Racial-Profiling vorgeworfen. Es gibt Familien, die sich nicht mehr ins Rabet trauen, weil sie Angst vor der Polizei haben. Dass hier an bestimmten Ecken Drogen vertickt werden, bestreitet keiner der Anwohnerinnen und Anwohner. Auch der Rest der Stadt weiß das und kommt zum Graskaufen her. Aber die weißen Kunden müssen kaum Angst vor Kontrollen haben – Polizeipatrouille hin oder her.

[caption id="attachment_120524" align="alignright" width="320"] Meistens überhaupt nicht goofy: Sport und Spiel gibts im Rabet[/caption]

Die Waffenverbotszone habe nichts gebracht »außer ein paar Souvenirs für Schilder-Diebe«, findet auch Daniel Schade, der im Ost-Passage Theater überm Aldi mitmacht. Für ihn ist ein anderer Aspekt des Viertels bemerkenswert: »Es ist sehr politisch hier.« Früher war es ein Arbeiterviertel, heute gibt es hier eine große feministische, queere, linke Szene. Gegen drohende Abschiebungen wurden hier schon Straßenblockaden errichtet. Auch Leipzigs letzte große Hausbesetzung fand in der Ludwig-Straße statt und die darauf folgenden Krawallnächte, die es als Connewitzer Phänomen in die Tagesschau schafften, begannen hier. Auch Wächterhäuser und andere unkapitalistische Wohnformen samt Voküs haben eine lange Tradition rund um die Eisi. Die Wohnsituation hat sich aber trotz allem auch im Osten zugespitzt, wo die noch leer stehenden Brachen längst für Millionenbeträge verkauft wurden. Mieten werden teurer, gerade große bezahlbare Wohnungen sind kaum zu finden, worunter vor allem Familien mit vielen Kindern leiden, die hier teilweise zu neunt in Drei-Raum-Wohnungen leben. Typische 
Gentrifizierungsmerkmale wie ein Bio-Supermarkt oder ein Eisladen mit Apfel-Zimt-Sorten haben Einzug gehalten, die vegane Vleischerei ist aus dem Westen hergekommen, im Vary gibts coole Platten und Espresso für DJs. Und die kleine Brücke bei den Gleisen, auf der bei gutem Wetter gern getrunken und gefeiert wird, nennt Samanta Gorzelniak gern die »Sachsenbrücke des Ostens«. Gorzelniak hat vor zehn Jahren das    Pöge-Haus mitgegründet, das sich für ein offenes, vielfältiges, ökologisches und soziales Zusammenleben im Stadtteil einsetzt und Räume bietet. »Früher hat hier nachts höchstens mal ein Hund gebellt«, sagt sie. Jetzt höre man Partys, nicht nur vom nahe gelegenen Mjut-Club. Aber obwohl das Müllproblem zugenommen hat, wie sie findet (»Der kommt von den Studenten, nicht von den Migranten«), betont sie begeistert: »Hier ist der einzige Stadtteil mit urbanem Großstadtflair!« Und doch gebe es dörfliche Strukturen, in denen man sich halt kenne und wisse, was der andere so macht.

Bald könnte dieses Großstadtflair noch kultureller werden, wenn das ehemalige und leer stehende Kino der Jugend am Torgauer Platz wieder als Veranstaltungsort genutzt wird. Die Interessengruppe Fortuna hat der Stadt ein Konzept vorgelegt, über das diese noch entscheiden muss. Es sieht neben einem großen Veranstaltungssaal auch Treffpunkte und einen Bewegungsraum für Yoga und andere sportliche Betätigungen vor. Sport findet hier ansonsten im Rabet statt, ein kleiner Park mit Basketball- und Volleyballplatz, der auch zu einem Treffpunkt geworden ist, an dem ähnlich wie im Brothers alle möglichen Menschen zusammenkommen – nur ohne etwas bezahlen zu müssen. Zur körperlichen Ertüchtigung oder zum Kiffen, zum Schaukeln oder zum Skaten, zum Fahrradfahrenlernen oder Flanieren.

Ein paar Stunden nach dem Tee bei ihm zu Hause ist auch Darian wieder unterwegs, man trifft ihn zufällig und er sagt noch, dass es eigentlich egal ist, wo jemand herkommt: »Ich bin international.« Genau wie sein Viertel.

JULIANE STREICH

Schau nicht zurück In Anger-Crottendorf gibt es sie noch: leerstehende Häuserreihen. Trotzdem steigen hier
 die Mieten überdurchschnittlich

[caption id="attachment_120527" align="alignright" width="320"] Lebt schon immer in Anger-Crottendorf: August Geyler vor der Maschinenfabrik Karl Krause[/caption]

»Eastside« steht in stilisierten weißen Lettern auf schwarzem Grund über dem Tätowierstudio an der Ecke, wo die Zweinaundorfer Straße auf die Breite Straße trifft. Hier befindet man sich gerade noch in Anger-Crottendorf, an der Grenze zu Reudnitz-Thonberg, erklärt August Geyler. Schon von Weitem lugt der Kopf des schlanken großen Mannes hinter den Autos hervor. Vor Jahren habe er an einem Zeitungsartikel mitgewirkt, da sei ihm die Grenzziehung von Anger-Crottendorf fast um die Ohren geflogen. Denn seit einer kommunalen Gebietsgliederung im Jahr 1992 ist der heutige Ortsteil nicht mehr ganz identisch mit dem ehemaligen Gebiet der Gemeinden Anger und Crottendorf. Geyler ist Schauspieler und Moderator, in Leipzig geboren und seitdem nie aus Anger-Crottendorf weggezogen. Er liebt die Ruhe hier, zum Weggehen hatte der 36-Jährige deshalb keinen Drang. Ein bisschen fühle er sich hier manchmal eben wie in einem Dorf.

Auch auf Stadtteilfremde macht die Gegend abseits der Zweinaundorfer Straße einen beschaulichen Eindruck. An der Anger-Crottendorfer Bahnschneise, eine Verbindung zwischen Lene-Voigt-Park und Anger-Crottendorf, grünt es noch überall. Die großen metallenen Fernwärmerohre leiten den Weg, ab und zu kommen einem Fußgänger entgegen und es fahren Radler vorbei.

Doch das ist nur ein Teil dessen, was Anger-Crottendorf ausmacht, sagt Geyler. Wenn er den Stadtteil beschreiben muss, kommt er immer wieder auf die Diversität zu sprechen: »Es gibt Dreckiges, Hässliches und viel Kaputtes. Und umgekehrt auch sehr viel Natur und heimelige Wohnecken.« Von Westen erstrecken sich sowohl Plattenbauviertel als auch Gründerzeithäuser, bis man weiter östlich auf die riesigen Kleingartenvereine und den Stünzer Park trifft.

Schon seit den neunziger Jahren gebe es hier eine starke Mischung aus verschiedenen sozialen Milieus: Arbeiter und Studierende, junge Familien mit kleinen Kindern und ältere Menschen genauso wie Spätaussiedler. Eine bestimmte vorherrschende Gruppe könne er hier nicht erkennen. Doch das ändert sich langsam. Seit einigen Jahren sinkt die Anzahl der Menschen im Rentenalter deutlich, den größten Anteil bilden Anwohner im Alter von 20 bis 35 Jahren, die Anzahl der Kinder ist seit Jahren gleichbleibend gering. Auch Anger-Crottendorf profitiert vom Zuzug in die Stadt Leipzig, mittlerweile leben hier etwa 12.000 Menschen.

Parallel zur Eilenburger Bahnschneise liegt die Mierendorffstraße, die sich wohl am schnellsten in den letzten Jahren im Stadtteil gewandelt hat. Eine typische Gründerzeitstraße, durch die sich heute eine von Autos vollgeparkte, dürftig geteerte Fahrbahn erstreckt. Ein Blick vom Ende der Straße aus reicht, um auf Anhieb zwei leer stehende Häuser und zwei Baustellengerüste zu erkennen, die in die Straße ragen. Viele finde man davon mittlerweile nicht mehr, sagt Geyler. Er deutet erst auf ein frisch gestrichenes beiges Eckhaus, dann auf ein rosa Haus mit ornamentbesetzten Fensterrahmen und schließlich auf zwei weitere Häuser, die mit ihrer weiß gemalerten Fassade zwischen den angeschmuddelten Altbauten etwas seelenlos wirken. 
Geyler sagt, in den letzten fünf Jahren habe man hier jedes Jahr mindestens zwei Häuser saniert. Tatsächlich lag der Neubau von Wohngebäuden in den letzten Jahren bei nahezu null, Baulücken gibt es im Stadtteil kaum. Stattdessen wurden seit 2017 jährlich etwa zehn der mehrheitlich zwischen 1900 und 1950 gebauten Wohnhäuser erneuert. »Es wird schon seit den Neunzigern saniert, aber bisher hat das nicht zu einer Explosion der Mieten geführt. Man sieht, dass es eine Steigerung gibt, aber die liegt unter dem, was in Leipzig passiert«, erzählt Geyler.

[caption id="attachment_120531" align="alignright" width="320"] Seit Anfang der neunziger Jahre geschlossen: China-Imbiss an der Zweinaundorfer Straße[/caption]

Sowohl die Bestandsmieten als auch die Angebotsmieten in Anger-Crottendorf liegen laut Angaben der Stadt Leipzig mit einem durchschnittlichen Preis von 5,30 Euro beziehungsweise 6 Euro pro Quadratmeter zwar immer noch unter dem städtischen Durchschnitt. Allerdings verlief der Anstieg der Bestandsmieten in Anger-Crottendorf deutlich schneller als in den übrigen Stadtteilen Leipzigs: Innerhalb von vier Jahren haben sich die Durchschnittspreise für die Bestandsmieten um 17 Prozent erhöht. In ähnlichem Maße betroffen sind nur die angrenzenden Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf. Zum Vergleich: In der gesamten Stadt haben sich die Bestandsmieten insgesamt um zehn Prozent verändert.

Unter einer Brücke und dem Baugerüst eines Eckhauses hindurchgehuscht, findet man in der 
Wichernstraße einen Schleichweg, um auf die Hochtrasse des seit 2012 stillgelegten S-Bahnbogens zu kommen. Er ist Teil des geplanten Parkbogen Ost – ein Fuß- und Radweg, der die Ortsteile Reudnitz-Thonberg, Anger-Crottendorf, Stötteritz, Sellerhausen, Schönefeld und Zentrum Ost miteinander verbinden soll. »Krass, wir sind jetzt am höchsten Punkt und trotzdem sehen wir hier keine Häuser mehr«, sagt Geyler und schaut dabei auf den Wald aus wild gewachsenen Bäumen und Büschen hinunter. Hier liegt das ehemalige Gelände der Maschinenfabrik von Karl Krause, das sich auf einer Fläche von fünf Fußballfeldern erstreckt. In die noch bestehende Maschinenfabrik wollte ein Investor aus Hannover 2017 mehr als 100 Eigentumswohnungen einziehen lassen, bis heute steht die Fabrik weiter leer – nach Angaben des Investors aufgrund von angekündigten Änderungen des Bebauungsplans.

Auf dem gepflasterten Platz vor der ehemaligen Maschinenfabrik liegt das Gebäude der ehemaligen Feuerwache Ost, die bis 2014 in Betrieb war. Hier soll das Nachbarschaftszentrum Ostwache entstehen – ein Antrag zur Vergabe des Gebäudes an den Verein Ostwache Leipzig liegt dem Stadtrat vor. Um herauszufinden, was sich die Nachbarschaft im Stadtteil wünscht, musste der Verein zunächst mit ihr ins Gespräch kommen. Was gibt es hier bereits? Was fehlt noch? Für Lina Hurlin, Vorständin im Verein der Ostwache, war schnell klar: Das Angebot ist mau. »Es gibt die Kleingartenvereine und den Bürgerverein Anger-Crottendorf, aber es gibt keine Orte, wo man sich wirklich begegnen kann«, sagt sie. Auch ein Jugend- und Seniorentreff fehle. Selbst die gastronomischen Angebote innerhalb des Stadtteils seien gering. Auf einem Spaziergang durch den Stadtteil erspäht man eine alte Konsumfiliale, fast übersieht man den China-Imbiss daneben, etwas weiter gibt es zwei Bäckereien und ein Restaurant. Abhilfe schaffen nur die Imbissmöglichkeiten am äußeren Rand, zum Beispiel auf der Zweinaundorfer Straße. In der Ostwache sollen Angebote für möglichst alle Anwohner geschaffen werden: Gastronomie, Veranstaltungsräume für Lesungen und Konzerte, aber auch Werkstätten sollen hier eröffnen, die sich mit Workshopangeboten für die Nachbarschaft öffnen.

Als Initiatorin des Nachbarschaftszentrums kennt Hurlin den Stadtteil gut, sie selbst wohnt seit sechs Jahren in Anger-Crottendorf. Was beschäftigt die Menschen hier? Für ein besonderes Thema hält sie die »unglaublich schlechte Verkehrsanbindung« im Stadtteil, denn zurzeit fährt hier kein Bus durch. Alle Haltestellen der umliegenden Buslinien liegen auf dem äußeren Rand des Stadtteils. Gerade für Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind, sei das ein Problem, sagt Hurlin. Auch das Thema Wohnraum hält sie für präsent: Bei einem Treffen mit Mietern des Wohnungsunternehmens Vonovia zum Thema Kostentricks sei Hurlin klar geworden, dass die Menschen Angst vor Wohnraumverlust haben. Das habe auch damit zu tun, dass die Strukturen der Wohnungsunternehmen sich verändert hätten: »Man versteht das nicht mehr: Das sind jetzt große Unternehmen, die sitzen in Bochum und da geht immer jemand anderes ans Telefon«, berichtet sie.

Gentrifizierung würde Hurlin den Prozess, der sich in Anger-Crottendorf abzeichnet, nicht nennen. Zumindest nicht, wenn man damit Entwicklungen wie in Berlin Prenzlauer Berg beschreiben wolle, wo es jede Menge Leerstand gab, der den Künstlern günstig zur Verfügung stand, bis sie rausgeworfen und die Häuser saniert wurden. »In Anger-Crottendorf findet wenig im öffentlichen Raum statt, es gibt wenige Ladenlokale und deswegen sind die Prozesse ein bisschen anders«, erklärt die Vorständin. Dass hier im Stadtteil mit Immobilien spekuliert wird, sei klar. Aus Hurlins Sicht ein No-Go. Sie findet: »Wohnraum darf keine Ware sein.«

Darauf, dass Anger-Crottendorf zunehmend von Verdrängung betroffen ist, lässt auch die Soziale Erhaltungssatzung schließen, die in einigen Teilen des Stadtteils gilt. Veränderungen am Wohnraum wie der Rückbau und Nutzungsänderungen unterliegen demnach seit Juni 2020 einer Genehmigungspflicht durch die Stadt Leipzig. Sie warnt auf ihrer Website: »Mieter direkt vor Mieterhöhungen oder Verdrängung aus ihren Quartieren schützen können die Sozialen Erhaltungssatzungen nicht.« Also alles Makulatur? Hurlin hält die Satzung für ein wichtiges Instrument, »um überhaupt in den privaten Wohnungsmarkt einzuwirken«. Bis jetzt haben die Unternehmen gespielt, wie sie wollen, »das Wohnungsproblem löst die Satzung aber auch nicht.«

ANNA HOFFMEISTER

Schon immer vollReudnitz hat mehr als nur eine Brauerei: Nämlich einen umsatzstarken Kaufland, saubere Ecken und neuerdings auch einen Biosupermarkt

Auf die restaurierte Altbauwand in der Kippenbergstraße hat jemand »Reudnitz bleibt dreckig« mit schwarzer Farbe gesprüht. Eine Ansage, die mehr sagt, als ihr Verfasser vermutlich wollte. Reudnitz-Thonberg, das ist der Stadtteil, den man nicht ohne Clemens Meyers »Als wir träumten« denken kann. Im Wenderoman ist er vollgestopft mit Junkies, Neonazis und anderen gescheiterten Existenzen. In den Beschreibungen der Makler ist es der aufstrebende innenstadtnahe Bezirk, der mit »Kultur und Natur zu überzeugen weiß«. Reudnitz oszilliert seit der Wende zwischen den Extremen, »verrufen und verehrt«, wie der kreuzer (Ausgabe 11/2009) mal selbst titelte. Nicht erst seit die Südvorstadt, Connewitz, Plagwitz, Lindenau voll sind und nur noch die reichen Westdeutschen sich die Mieten dort leisten können, heißt es: »Der Osten kommt«. Wo steht Reudnitz also heute? Stehen die Immobilienhaie Schlange für die unrenovierten Altbauten oder hat sich das Dreckige durchgesetzt?

Einer, der das Image von Reudnitz nicht nur zelebriert, sondern auch mitgeprägt hat, ist Martin Meißner. Seit mehr als zehn Jahren lebt der gebürtige Leipziger in Reudnitz, seit 2019 sitzt er für die Grünen im Stadtrat. Und: Er hat den Blog »Dunkel Dreckig Reudnitz« gegründet. »Eigentlich ist das ja als Joke entstanden. Ich wollte eine Freundin ärgern und habe den Satz als Graffito im Lene-Voigt-Park gesehen.« 
Irgendwann seien die Leute aber drauf angesprungen. In einem der ersten Beiträge schreibt er: »Das einzig wirklich Coole an Reudnitz ist sein schlechter Ruf und der bleibt uns sicherlich noch eine Weile erhalten.« Bis heute ist er Reudnitz-Botschafter geblieben. »Die Realität vor Ort war immer eine andere als das Image.«

Reudnitz-Thonberg ist in seiner heutigen Form 1992 entstanden, als die zwei Stadtteile Reudnitz und Thonberg zusammengelegt wurden. Südlich von Neustadt-Neuschönefeld grenzt Reudnitz längs der Riebeckstraße an Anger-Crottendorf. Und im Südosten, da, wo es immer grüner und weniger städtisch wird, an Stötteritz. Mit mehr als 20.000 Einwohnern ist Reudnitz der bevölkerungsreichste Stadtteil nach der Südvorstadt, sogar noch vor Connewitz.

[caption id="attachment_120530" align="alignright" width="320"] Gar nicht so dunkel und dreckig: Reudnitz-Idol Martin Meißner[/caption]

Wer durch Reudnitz wandert, findet kaum noch unsanierte Altbauten, die meisten Häuser sind renoviert, manche sogar schon seit den Neunzigern. »Deswegen gab es hier auch niemals diese Gentrifizierungswelle wie in anderen Stadtteilen«, erzählt Meißner, während er an einer rostfarbenen Altbaufassade vorbeigeht. Hier, im südlichen Teil von Reudnitz, lebten eher ältere Menschen und Familien, viele der Häuser sind Genossenschaftsbauten, das LWB-Zeichen allgegenwärtig in den Minivorgärten. Die Meyerschen Häuser in der Hofer Straße mit ihren imposanten Eingangstoren, erbaut vom Herausgeber der Meyer-Lexika, wirken im beginnenden Herbst märchenhaft. Meißner vergleicht die Gegend mit Eutritzsch. Von dunkel und dreckig ist nichts zu sehen – eher das Gegenteil.

Meißner hat hier in der Gegend mal gewohnt. Damals, als das anfing mit dem Bloggen und der Öffentlichkeit für Reudnitz, gefiel nicht allen, was er schrieb. Vor einer Wand, deren Farbe ein bisschen frischer aussieht als an den Nachbarhäusern, erzählt er: »Im November 2015 ist mein damaliges Wohnhaus von Nazis angegriffen worden.« Es sei passiert, als er gerade im Kino war: »Die Nazis haben Steine durch die Haustür geworfen, Böller gezündet und ›Meißner du Zecke‹ auf die Wand gesprüht.«

Erst als die Autonomen aus Connewitz die Nazis nach und nach vertrieben hatten, sei es besser geworden. »Natürlich kannst du den Menschen nicht in den Kopf schauen, aber die Wahlergebnisse zeigen es ja auch«, sagt Meißner. Die Zeiten, in denen Nazis fast ungehindert durch Reudnitz ziehen konnten, sind vorbei. Die Erinnerungen an Angriffe auf linke Hausprojekte bis in die letzten zehn Jahre sind aber noch frisch. Bis heute sind die Fenster des Atari, eines explizit linken Ladens, im Täubchenweg immer noch mit Holz verrammelt. Keine 500 Meter weiter war auch mal der Thor-Steinar-Laden, bis vor Kurzem wurde der kleine Eckladen als Kunst-Galerie genutzt. Und schräg gegenüber renoviert die Biomarktkette Denn’s ein altes Druckereigebäude.

Ein paar Straßen weiter steht zwischen Täubchenweg und Dresdner Straße der Kaufland. »Das Zentrum des Ostens«, wie Meißner sagt. »Hier geht der gesamte Osten einkaufen, jede Schicht trifft sich an der Kasse.« Nicht nur Reudnitzer kommen her, sondern auch aus Neustadt-Neuschönefeld, Stötteritz und Anger-Crottendorf fahren die Leute mit dem Bus oder der Straßenbahn her. Hier lässt sich der vermischte Osten beobachten. Studenten, die ihre Einkäufe machen, Trinker am Pfandautomaten und ältere Menschen mit Hackenporsche. Inzwischen ist der Laden viel zu klein und die Schlangen an den Kassen reichen tatsächlich oft bis weit zwischen die Regale. Es gibt ein Gerücht über diesen Kaufland: Mit dem Markt in Reudnitz mache der Konzern den größten Umsatz von den rund 670 Filialen in Deutschland. Zu gerne würde man das überprüfen, aber die Marketingabteilung bittet um Verständnis, dass man »keine Angaben zu Umsätzen oder Umsatzentwicklungen unserer Märkte machen« würde.

Ein anderes Zentrum, wohl bekannteste Marke aus Reudnitz und einziger größerer Industriebetrieb, ist die Sternburg-Brauerei. Von der Mühlstraße aus überzieht die Brauerei den Osten der Stadt häufig mit dem charakteristischen Geruch nach Hopfen und Malz. »Das war früher aber viel schlimmer«, erzählt Meißner. So schlimm, dass man, sobald man aus dem Bus an der Riebeckstraße stieg, fast umgekippt wäre. Und trotzdem wurden in dem Gebäude direkt neben dem Brauereigelände Lofts gebaut. Mit Balkonaussicht auf die Brauerei.

Wie sehr sich Reudnitz wandelt, lässt sich auch im Lene-Voigt-Park beobachten. Der im Krieg zerstörte Eilenburger Bahnhof mit seinen Gleisanlagen ist noch im Ansatz zu erkennen. Inzwischen sind es aber die ganz normalen Kämpfe eines Parks, die hier geführt werden: Die Wege eigentlich zu schmal für die zahlreichen Besucher und Fahrradfahrer. Immer wieder kommt es zu Streitereien, wer sich hier wie verhalten darf. Und die Anwohner beschweren sich über die Parkbesucher, die auch mal nachts Lust auf eine Runde Flunkyball haben. »Ich bin schon gefragt worden, ob die Stadt den Park nicht nachts zuschließen könne. Aber bei so was mache ich nicht mit«, berichtet Meißner. Aber ja, die Planungen seien nicht ganz passend gewesen. Im Lene-Voigt-Park selbst soll nun noch eine Grundschule entstehen. Entlastung für die überbelegten Schulen im Viertel. Immerhin 862 Kinder im grundschulfähigen Alter leben Ende 2017 in Reudnitz. Und es kommen 1.300 Kinder in den nächsten Jahren nach. Da muss für die Zukunft gebaut werden.

[caption id="attachment_120528" align="alignright" width="320"] Unsaniertes ist selten: Am Eilenburger Bahnhof im Lene-Voigt Park[/caption]

Deswegen wird jetzt auch in das Gebäude am Täubchenweg, in dem bis 2018 noch das 4Rooms war, ein Gymnasium gebaut, direkt neben die Wilhelm-Busch-Grundschule und die 125. Oberschule. Durch die Zweizügigkeit sei das Gebäude überbelastet, erklärt Meißner. Dass dafür das 4Rooms schließen musste, gefällt ihm selbst nicht. »Es gab zwar Überlegungen, die Kneipe drinzulassen, aber das wollte die Stadt nicht.« Es hätte wohl komisch gewirkt, wenn morgens die Bierfässer ausgetauscht würden und Schüler in die Klassen gegangen wären.Überhaupt ist Kneipensterben ein Thema in Reudnitz. Nachdem erst vor Kurzem der Betreiber der Substanz den Pachtvertrag nicht mehr verlängern wollte – wegen einer unverhältnismäßigen Erhöhung der Pacht, sagt er –, fehlt es nun an Kneipen und Bars im Viertel. Die meisten Leute würden dann doch Richtung Eisenbahnstraße gehen. Auch wenn es natürlich immer wieder neue Bars und Restaurants gibt. Die Einschränkungen während der Corona-Krise haben es für Neueinsteiger aber nicht einfacher gemacht. Die Stammbar in der Breiten Straße zum Beispiel konnte gerade so eben zum Ende der Beschränkungen eröffnen.

[caption id="attachment_120529" align="alignright" width="320"] Blick gen City: Auf der Riebeckbrücke in die Reichpietschstraße[/caption]

Der Mietspiegel in Reudnitz kennt vor allem eine Richtung: nach oben. Das gilt natürlich für ganz Leipzig, trotzdem gibt es auch, genau wie für Teile von Anger-Crottendorf, in Reudnitz Gebiete, die unter die Soziale Erhaltungssatzung fallen. Weniger zahlen Anwohner deswegen trotzdem nicht unbedingt. Laut Statistiken der Stadt liegt die Grundmiete im Leipziger Median. Fragt man Meißner, liegt das vor allem an einer Sache: Reudnitz ist voll und die Häuser sind eben größtenteils schon renoviert: »Luxussanierung gibt es in Reudnitz kaum.« Aber ganz so sicher ist er sich dann doch nicht. Direkt neben dem Kaufland steht ein kleiner Werkstatthof, auf dem verschiedene Handwerker und Künstler ihre Ateliers haben. »Die machen immer sehr schöne Feste, aber auf dem Nachbargrundstück wird demnächst gebaut. Vielleicht geht hier nun einer der hochgelobten Freiräume verloren.« Natürlich hätten die Anlieger nun Angst, dass sie ihre Werkstätten verlassen müssten, weil das Gelände zu dem geplanten Bau gehören würde.

Dann wäre übrigens auch Reudnitz weniger dreckig. Denn der schmuddelige Durchgang zwischen der Dresdner Straße und der Kippenbergstraße würde dann vermutlich wegfallen. Aber wie Meißner sagt: »Auf einmal wachst du auf und dein Viertel hat drei Unverpacktläden und zwei Biomärkte.«

TAREK BARKOUNI


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