Im 19. Jahrhundert studierte eine Australierin in Leipzig Musik und verarbeitete diese Zeit später in dem mehr als 800 Seiten starken Künstlerroman »Maurice Guest«. Auch heute noch liest sich dieser Text brandaktuell und modern – zu verdanken haben wir das dem Verleger Peter Hinke von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, der eine Neuübersetzung des Buches vorgelegt hat.
»Maurice Guest« ist ein Leipzig-Roman, gar keine Frage – die Stadt bildet darin die lebendige, scharf beobachtete und zuweilen romantisierte Kulisse der Studienzeit des jungen englischen Pianisten Maurice, der schnell Teil der internationalen Community aus Musikvirtuosen wird. Diese Gemeinde aus Engländern, Australiern und Amerikanern beeindruckte auch Verleger Peter Hinke, und »dass Leute, wie im Falle der Autorin, ihr Geld zusammenkratzten, um ihren Kindern das Studium in Leipzig zu ermöglichen.«
Die 1870 in Melbourne geborene Ethel Florence Lindesay Richardson zieht in den 1890er Jahren nach Leipzig, wo sie mit Mutter und Schwester in der Mozartstraße im Musikviertel lebt und Klavier am Konservatorium studiert. »Zur Zeit der Handlung war die Stadt noch relativ provinziell«, sagt Hinke, »auf dem Sprung zur Industrialisierung«. Direkt hinter dem Musikviertel mit dem damaligen Gewandhaus und dem Konservatorium beginnt der Wald. Überall wird gebaut, werden Straßen hochgezogen. Plagwitz und Connewitz sind nicht mehr als dörfliche Vororte, zu denen die Studierenden in kleinen Wanderungen aufbrechen, um sich vom Alltag zu erholen.
Richardson veröffentlichte das Buch unter anderem Namen, und es blieb nicht ihr einziges. Mittlerweile zählt man ihre Romane zu den wichtigsten Werken der australischen Literatur. Dass sich dieser über hundert Jahre alte Text so modern liest, hängt auch mit der Übersetzung zusammen. Auf Deutsch erschien er 1912 im S. Fischer Verlag, eine Version, die heute nur noch schwer zu bekommen ist. Bereits vor drei Jahrzehnten begann der Leipziger Verleger Hinke darüber nachzudenken, sie wieder auf den Markt zu bringen. Dass er sich für den steinigeren Weg entschieden und das Buch nicht neu aufgelegt, sondern neu hat übersetzen lassen, ist ein großes Glück.
[caption id="attachment_119963" align="alignright" width="320"] Übersetzer Fabian Dellemann, Verleger Peter Hinke und Übersetzer Stefan Welz; Foto: Connewitzer Verlagsbuchhandlung[/caption]
Seit 2012 arbeiteten der Leipziger Lektor und Übersetzer Fabian Dellemann und Literaturwissenschaftler Stefan Welz an der Übertragung ins Deutsche. Diese neue Version ist näher am Original, weil weniger stark gekürzt. Ausserdem sollte das neue Buch »nicht ganz so steif wie die alte Fassung« sein, erläutert Dellemann. »Fast alle Personen siezen sich in der Übersetzung von 1912. Wir haben versucht, die Beziehungen im Laufe der Geschichte privater zu gestalten, dass innige Freunde auch anfangen sich zu duzen.« Dellemann zeigt sich beeindruckt von dem »Zusammenstoß der anglo-sächsischen und sächsischen Kultur«, und Hinke ergänzt: »Ich liebe die Eingangsszene. Das Flirren um das Gewandhaus, diese jungen Menschen, die Musik. Aber das ist ja nur die eine, lokale Ebene. Es gibt auch noch andere Ebenen, den Gesellschafts- und Liebesroman, der steckt da auch drin. Wir hoffen, dass das Buch deshalb auch überregional Aufmerksamkeit bekommt.«
Das Nachwort von Welz beleuchtet das Leben der Schriftstellerin, die in ihrem Roman nicht nur den fundamentalen Wandel im Musikverständnis der Zeit verarbeitet, sondern auch ungewöhnliche weibliche Figuren entwirft, die einen Kontrapunkt zum frauenverachtenden Alltag im 19. Jahrhundert bilden und sich an den herrschenden Normen aufreiben. Wie auch die meisten anderen Bücher der Connewitzer Verlagsbuchhandlung gestaltete der Grafiker André Göhlich die neue Ausgabe in zwei Bänden. »Wir sind jetzt darauf angewiesen, dass das Ergebnis die Leute überzeugt«, so Hinke. Denn im Vorfeld gab es kaum Finanzierung, bis auf einen Zuschuss von der Universität. »Ausserdem ist es durch und durch ein Leipziger Projekt. Übersetzer, Korrektorat, Gestalter, Druckerei – alles hat was mit Leipzig zu tun«. Dieses Jahr hätte er gern dreißig Jähriges Jubiläum gefeiert, doch die Party musste ausfallen. Damit ist »Maurice Guest« auch ein Geschenk, dass sich der Verleger selber macht, und seinen Leserinnen und Lesern.