Fünf Vinylseiten, 38 Bands und ein Begleitband im Großformat: Der Sampler »Too Much Future: Punkrock GDR 1980–1989« scheint unter dem Anspruch entstanden zu sein, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Oder sie zumindest zu konservieren. Die Köpfe hinter diesem Kraftakt sind Maik Reichenbach und Henryk Gericke, Vertreter eines Punks, der dem DDR-System die Hölle heiß machte und im Verborgenen agieren musste. Maik Reichenbach im Gespräch über die Jagd nach Juwelen in rustikaler Klangqualität. An dieser Stelle veröffentlichen wir den Text aus der Dezember-Ausgabe des kreuzer.
»Erst mal musste man sich in Leipzig finden. Das stellt man sich schwierig vor, war es aber gar nicht. Man stach doch extremst aus der Masse raus und ist sich zwangsläufig über den Weg gelaufen. Der Plänterwald in Berlin war dann zum Beispiel ein Hotspot, das hat sich rumgesprochen, dass da am Wochenende Punks rumhängen«, sagt Maik Reichenbach, teilnehmender Zeitzeuge des Ostpunk, Bassist der in entsprechenden Kreisen heftig verehrten Leipziger Band L’Attentat, im Gespräch mit dem kreuzer. Dem Hörensagen wollte die Leipziger Szene, damals bestehend aus ungefähr fünf Leuten, auf den Grund gehen: »Da waren dann 50 Punks. Das ist schwer zu beschreiben, was das für ein Gefühl war, dass man nicht alleine ist.«
Zum sehr langen Nachbeben derartiger Kommunionen sonderbarer Teenager auf realsozialistischem Boden gehört seit Kurzem der Sampler »Too Much Future: Punkrock GDR 1980–1989«. Verantwortlich für Materialrecherche, Auswahl und Zusammenstellung sind Reichenbach und Henryk Gericke, damals involviert unter anderem als Sänger und Texter von The Leistungsleichen.Vertreten sind 38 Bands, jeweils mit einem Song. Den fünf Vinylseiten liegt ein Band im Großformat bei, darin Aufnahmen aus konspirativen Proberäumen, Schnappschüsse von illegalen Konzerten sowie umfangreich recherchierte, ausführlich einordnende und erzählende Texte von Gericke.
Als letztem Teil des »Too Much Future«-Projekts gingen dem Sampler ab 2005 Ausstellungen, dann 2007 ein Dokumentarfilm gleichen Namens voraus. Geplant war es zunächst anders herum: »Der Sampler war eigentlich die ursprüngliche Idee. Die stammt aber nicht von mir oder Henryk, sondern von Pankow, mit bürgerlichem Namen Michael Boehlke. Er und Henryk hatten die Idee schon 98, inspiriert von ›Please Kill Me‹ von Legs McNeil und Gillian McCain, einem Buch über die amerikanische Szene«, sagt Reichenbach. »Die Idee stand im Raum und Pankow hat angefangen, Material zu sammeln, was gar nicht so einfach war in der Anfangszeit – alle von damals irgendwie woanders angekommen, haben ganz andere Musik gemacht, geschrieben, gemalt, haben Jobs gemacht. Fanden alle zuerst ein bisschen schwierig, ihre Punkvergangenheit, wahrscheinlich auch nicht besonders cool. Dann haben Pankow und Henryk 2005 die ›Too Much Future‹-Ausstellung in Berlin gemacht. Da sind bei der Eröffnung dann 3.000 Leute durchgelaufen, der Katalog war direkt vergriffen. Plötzlich wurden die Leute gar nicht mehr müde zu erwähnen, dass sie mal Teil dieser Szene waren.«
Zwar gibt es schon eine ganze Reihe von Ostpunk-Songsammlungen, »Too Much Future« ist aber die erste, die sich voll auf die Anfang der achtziger Jahre entstandene Gründerszene konzentriert, welche britischen Punk aus dem Westradio mitschnitt, diesen untereinander via Tape austauschte, unter hohem persönlichen Risiko die ersten ostdeutschen Punkkonzerte veranstaltete, schließlich die ganze Palette staatlicher Repressalien zu spüren bekam. Die damals zum Teil noch minderjährigen Mitglieder der Band Namenlos etwa wanderten für vertonte Tabubrüche wie »Nazis wieder in Ostberlin« oder »Fenster« geschlossen in den Knast, Reichenbach selbst saß sieben Monate ab, weil er »Freiheit für Namenlos« an eine Wand sprühte, der damalige Gitarrist seiner Band L’Attentat spionierte als sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi die Szene aus. Spätere Bands profitierten vom Strategiewechsel der Staatsmacht, die ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre vermehrt mit dem Ziel der Vereinnahmung Auftrittserlaubnisse für Punk erteilte. Dass das nicht funktionierte, zeugt davon, dass sich die auf »Too Much Future« gezeigte Szene durch staatliche Gewalt weder klein- noch kaputtkriegen ließ.
Hat man denen, die es leichter hatten, das übel genommen? Reichenbach denkt nach: »Jein.« Er spricht von zwei zeitlich und räumlich getrennten Formen des DDR-Punks, die miteinander nicht viel zu tun gehabt hätten. »Wir wussten wenig von denen, die wenig von uns. Wir wussten mehr über Puhdys oder Silly als über Feeling B oder Die Art.« Schärfer formuliert es Gericke im Editorial des Begleitbands: »Es schien widersprüchlich, Bands auf einem Sampler versammeln zu wollen, von denen die einen mit dem Staat kooperierten, während die anderen aus der Verweigerung jeder Kooperation mit teils schwersten Repressionen konfrontiert waren.«
Diesen ließ sich nur durch den Rückzug in konspirative Räume ausweichen (unter anderem, trotz zweifellos vorhandener spiritueller Differenzen, in die der offenen Jugendarbeit der evangelischen Kirche, welche dissidentisch geprägt war). Viele der Songs auf dem Sampler wurden live auf Konzerten mitgeschnitten beziehungsweise verließen gar nicht erst den illegalen Proberaum, was im Angesicht von Songtiteln wie »DDR Terrorstaat« nachvollziehbar ist. Man muss den Hut ziehen vor der jahrelangen Detektivarbeit, die Reichenbach und Gericke geleistet haben, um dieser musikgeschichtlichen Dokumente habhaft zu werden, als ein Beispiel unter zahlreichen die einzige existierende Aufnahme der Band Unerwünscht, zufällig von einem Walkman mitgeschnitten auf einer Silvesterparty im Prenzlauer Berg 1982/83. Dementsprechend rustikal fällt die Klangqualität vieler Aufnahmen aus. Dennoch betont Reichenbach: »Es sollte kein rein dokumentarisches Projekt sein. Das glaubt man mitunter nicht, weil die Aufnahmen zum Teil unter erbärmlichen Bedingungen entstanden sind. Uns war es aber eben auch wichtig, dass die als Punkrocksongs funktionieren und dass das zusammenpasst.«
Dank des unerhört langen Atems aller Beteiligten, insbesondere von Reichenbach und Gericke, kann man nun nachhören, dass sich die Raserei von damals, das Anrennen gegen die Betonwände des Systems, trotz schludrig aufgenommener Drums ins Heute transportiert. Man kann »Too Much Future« bestaunen als ein beeindruckendes Stück DIY-Musikgeschichte, genauso gut aber einfach den Regler auf 11 drehen, die Ellenbogen ausfahren und ein klitzekleines bisschen fühlen, wie das war.